Kapitel 32 - Überwindungen

Julie schwieg einen Moment und ließ Anne ihre Zeit in ihren Gedanken zu hängen. Sie fühlte sich so glücklich, auch nur an ihn zu denken, das Treffen, seine Berührung, die so warm auf ihrer Haut gewesen war. Wie sehr sie sich seitdem nach dem Gefühl sehnte oder ihn einfach nur in der Nähe zu haben, ihm zuzuhören. War das eigentlich gesund so früh schon so starke Gefühle für jemanden zu haben? Anne wusste es nicht, aber sie wusste das es so war.

„Ist er Jude?", fragte Julie da auf einmal wie aus dem Nichts und zerstörte alle Vorstellungen. Anne öffnete desillusioniert die Augen und sah Julie an. Stumm schüttelte Anne nach kurzem Zögern den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.", schob Anne unsicher nach und verzog den Mund, als Julie ein Gesicht machte, als hätte Anne ihr gerade erklärt Derren wäre kein Mensch. Anne hatte bereits geahnt das sie und auch Verwandte das nicht unbedingt begeistern würde. „Das ist doch vollkommen egal. Ich will ihn ja nicht gleich heiraten.", sagte Anne betont gleichgültig und setzte sich auf. Julie folgte ihr. „Besser nicht.", murmelte sie leise. Anne seufzte tief und legte die Serviette auf den Tisch zurück. „Weiß er denn das du...", deutete Julie an ohne es ganz auszusprechen. Die meisten in ihrer Familie hatten ein Problem einem neuen Bekannten zu erzählen das sie jüdisch waren. Es wurde Julie und Anne von Anfang an eingebläut es nicht so laut herum zu posaunen, da es noch immer genug Leute gab die ihren Hass auf Juden allzu gern öffentlich zeigen wollten. Zudem gab es Nazis, die nach dem Krieg in die USA geflohen waren, vor denen sie sich lieber bedeckt halten sollten.

Anne nickte wage auf die Frage ihrer Schwester und erntete eine hochgezogene Augenbraue. „Ich habe es ihm erzählt, aber es schien ihn nicht weiter zu interessieren." Julie zog die Augenbraue noch höher, aber sie sagte nichts mehr. Ihre Euphorie hatte einen Dämpfer bekommen, das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Man konnte ihr förmlich ansehen wie ihre Gedanken rotierten. Wahrscheinlich schätzte sie ab, ob das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Anne knuffte sanft sie gegen die Schulter. „Hey! Du würdest ihn auch mögen, wenn du ihn kennenlernst. Und jetzt zieh nicht so ein Gesicht, als hätte ich jemanden ermordet und du müsstest es vertuschen.", meinte Anne lächelnd. Julie erwiderte das Lächeln flüchtig und stand vom Bett auf, um das Radio auszustellen. Der Nachrichtensprecher hatte gerade die Lieder unterbrochen, um etwas über den anhaltenden Kalten Krieg zu erzählen. Julie reagierte wie gewöhnlich auf ernste Nachrichten. Sie ertrug es einfach nicht, noch mehr schlechte Nachrichten zu hören. Anne konnte sie insgeheim verstehen. Aber schlechte Nachrichten zu ignorieren war auch nicht die richtige Lösung. „Hast du ihn schon angerufen?", fragte Julie wie nebenbei und schaute stirnrunzelnd aus dem Fenster. Anne presste die Lippen aufeinander. "Nein, und ehrlich gesagt habe ich das auch nicht vor.", murmelte sie und sah auf ihre sauberen Nägel, auch wenn sie wusste das Julie nicht zu ihr sah. "Warum nicht? Eben noch hast du mir gesagt wie gut er aussieht und-" "Das hast du gesagt!", fuhr Anne ihr schmunzelnd dazwischen. Julie gab auch ein Glucksen von sich. "Wie dem auch sei! Warum willst du ihn nicht anrufen? Ich dachte... du magst ihn!", fing sie wieder an, sodass Anne seufzte. Dieses Gespräch war ihr irgendwie zu viel. Es tat zwar gut diese dämliche Schwärmerei für einen älteren Mann endlich preis zu geben, aber es war auch zu viel. Anne fühlte sich, als könnte jedes Wort das sie jetzt sagte später gegen sie verwendet werden. Auch wenn sie Julie komplett vertraute. Sie war noch immer ein pubertäres, zweideutig denkendes Mädchen, welches noch nie einen Jungen geküsst hatte und sich trotzdem wie ein Experte auf diesem Gebiet fühlte. Vielleicht hoffte Anne auch innerlich darauf das, sobald sie jemanden von der davon erzählte, die Schwärmerei endlich beendet sein würde, sie hatte jetzt wirklich genug um die Ohren.

"Ich mag ihn... Deshalb kann ich ihn nicht anrufen! Ich krieg kein Wort raus und es kommt mir so schon vor, als würde er mich für ein kleines, schüchternes Mädchen halten. Egal was ich in seiner Anwesendheit mache, es ist immer irgendwie komisch.", sagte Anne theatralischer, als sie es wollte und fasste sich an die warm glühenden Wangen. Sie war so kindisch. Allein dafür hatte er sie bestimmt schon vergessen. "Naja, du bist ein kleines, schüchternes Mädchen.", kicherte Julie und streckte frech die Zunge raus. Anne tat geschockt und warf sie mit ihrem Kopfkissen ab, sodass beide anfingen zu lachen. "Und du bist die noch kleine Schwester des kleinen, schüchternen Mädchens.", rief Anne und wich dem Kissen aus, das ihre Schwester zurückwarf. Es artete in einer kleinen Rangelei aus, die nicht wirklich ernst gemeint war. Weitere Kissen flogen, und sowohl Anne als auch Julie wurden getroffen. Nach den Kissen warf sich Julie mit ganzem Gewicht auf Anne, versuchte sie zu erschwischen, doch Anne hielt ihre Arme fest. Letztendlich schaffte sie es einen Arm zu befreien und kitzelte Anne solange bis sie sich lachend ergab.

Schwer atmend lagen sie schließlich nebeneinander und starrten an die Decke. Die Momente vergingen, in denen sich keiner von ihnen bewegte und sie wie zu Atem kamen. Erst Julie ergriff irgendwann wieder das Wort. "Wenn du willst, ruf ich ihn für dich an." Anne sah entsetzt zur Seite, wo Julie sie ebenfalls mit einem vielsagendem Blick ansah. "Auf keinen Fall!", stieß Anne aus. "Ich sag dir dann, wie es gelaufen ist.", meinte Julie frech wie immer und war im nächsten Augenblick schon vom Bett aufgesprungen. Sie schnappte sich das Taschentuch mit der Nummer und schoss aus dem Zimmer. Anne blieb keine Zeit entsetzt nach Luft zu schnappen. "Ju!", rief sie ihrer Schwester nach, doch die rannte schon polternd die Treppe runter zum Telefonhörer der im Flur, gleich neben der spärlichen Gardrobe stand. Peinlich berührte Panik ergriff Anne, als sie ebenfalls aufsprang um ihrer Schwester nachzurennen. "Ju!", rief Anne noch mal warnend und rannte dann ebenfalls die Treppe runter. Immer zwei Stufen auf einmal.  Julie antwortete nicht. Anne Herz beschleunigte sich ängstlich und beinahe stolperte sie auf dem Teppich im Flur, als sie sah, wie Julie bereits hastig die Nummer ins Telefon tippte. "Nein, das wagst du nicht!", knurrte Anne nun wirklich böse und rannte zu Julie rüber, die hastig den Hörer an ihr Ohr hielt. Annes Gedanken drehten sich, ihr Magen krampfte sich zusammen und alles in ihr wollte, dass Julie sofort auflegte. Anne versuchte ihr den Hörer aus der Hand zu reißen, doch Julie hielt ihn hartnäckig fest. "Jetzt benehm dich mal erwachsen und leg auf! Das ist echt peinlich was du hier machst!", zischte Anne Julie mit gedämpfer Stimme an, als sie hörte, wie Henry sich ein Zimmer weiter auf der knarzenden Couch bewegte. Julie streckte Anne die Zunge raus und zog den Hörer zurück an ihr Ohr. "Benehm du dich doch erwachsen!", zischte sie zurück, als plötzlich eine Stimme auf der anderen Seite des Höreres erklang. Annes Welt schrumpfte auf einen ganz kleinen Punkt zusammen, ihr Magen zog sich in Panik zusammen.

"McConnell am Apparat! Wie kann ich behilflich sein?", fragte die Stimme im ruhigen, dunklen Ton. Anne sah ihre Schwester zu ihrem Entsetzen antworten. "Sind Sie Derren?", fragte Julie so unschuldig wie ein Kind das nach Süßigkeiten fragte. Das wars, Annes Leben war vorbei, ihr Herz klang in ihrem Hals und ihren Ohren, ihr ganzes Gesicht musste wie eine Laterne glühen. Schwach ließ sie die Hand vom Hörer sinken und hörte erschrocken mit. "Nein, das ist mein Bruder. Was wollen Sie von ihm?", fragte die Stimme, Stefan musste es sein, auf der anderen Seite. Anne sank noch weiter in sich zusammen. Das war ein Albtraum. "Ich möchte mit ihm reden.", gab Julie zurück und zwinkerte Anne zu, als wäre das noch immer ein Spaß. Anne wünschte sich einfach nur weg, doch gleichzeitig brachte sie der Gedanke Julie mit dem Telefon allein zu lassen noch mehr in Panik. "Hm okay... wer ist denn da? Ein so hübsches Stimmchen kann sich auch gern mit mir unterhalten. Also ich habe Zeit.", fragte Stefan mit einem trockenen Lachen auf seine übliche lockere Art, die Anne schon kennengelernt hatte. Selbst Julie zog die Augenbrauen hoch und wirkte für einen Moment perplex. Fragend sah sie zu Anne hin, die ihr rotes Gesicht in den Händen vergraben hatte und sich kurz der Verzweiflung hingab. "Naja ehm... hier ist-", begann Julie zögerlicher als eben, was wohl an Stefans direkter Art liegen mochte mit der er anscheinend jedes weibliche Wesen angrub, dass ihm vor die Augen - oder Ohren - kam. "Hier ist niemand. Wir haben uns verwählt! Wiederhören!", platze Anne rau dazwischen, riss Julie den Hörer mit einiger Kraft aus der Hand und legte krachend auf. Julie sah sie entgeistert an. "Sag mal gehts noch? Was hat dich denn geritten?", fragte Anne eher rethorisch gemeint, aber noch immer gedämpft wegen dem Mann im Nebenraum, der sich gerade ein neues Bier abploppen ließ. "Ich wollte doch n-", begann Julie unschuldig, doch Anne unterbrach sie harsch. "Still jetzt! Ich will bis zum Abendessen nichts mehr von dir hören. Das war echt nicht in Ordnung! Und das..." Anne nahm das Taschentuch mit der Nummer an sich. "Das fässt du nie mehr an!" Mit den Worten drehte Anne sich um und ging die Treppe hoch, während sie vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre.

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