Kapitel 31 - Schwester

„Anne! Oh mein Gott Anne!", platzte eine verweinte Stimme in Annes langsam besser werdende Krämpfe. Mit zitternden Händen hatte sie sich einen Lappen gegriffen und versuchte den Küchenboden zu säubern. Julie hatte die Tür aufgeschlossen und stürzte sich nun aufgelöst auf ihre ältere Schwester. Die Lippen zusammenpressend wischte Anne sich die neu aufkommenden Tränen weg und reichte Julie ein paar heil gebliebene Joghurt-Dosen. „Kannst du die bitte in den Kühlschrank zurück packen?", fragte Anne, doch Julie ignorierte sie. Stattdessen fiel sie ihr um den Hals, als müsste sie Anne trösten. Sie wollte nicht von ihrer jüngeren Schwester getröstet werden müssen, das war nicht richtig. Julie war diejenige, die in den Arm genommen werden musste. „Geht es dir gut?", fragte Julie flüsternd an Annes Ohr, ihre Tränen mischten sich, als sie Anne noch fester drückte und ihre Wange gegen Annes presste. Anne atmete tief durch, versuchte sich zu fangen und wuschelte Julie dann über den Kopf, als wäre das alles tatsächlich nur halb so schlimm. „Alles gut, mir ist nichts passiert", log Anne und versuchte sich an einem hoffnungsvollen Lächeln. Julie schüttelte den Kopf und ließ Anne los. „Wir müssen es Ma erzählen!", meinte sie und wollte tatenkräftig aufstehen. Anne zuckte bei dem Gedanken zusammen und riss Julie grober als gewollt wieder zu Boden. „Nein!", herrschte sie Julie an, die nun doch entsprechend verwirrt wirkte. „Was?! Aber wir müssen doch-„ „Wir müssen dafür sorgen das Ma so wenig Stress wie möglich hat! Wenn sie sich jetzt auch noch Sorgen um uns macht geht es ihr gleich wieder schlechter.", unterbrach Anne sie und presste bitter die Lippen zusammen. Julie schien zu verstehen, sie nickte betrübt und wischte sich dann die Tränen von den Wangen. Anne drückte ihr sanft den Lappen in die Hand und stand auf um sich selbst einen neuen zu holen.

Gerade jetzt, wo Mutter endlich wieder lächelte und aus dem Bett kam, ja sich sogar manchmal anzog und unten mit ihnen aß. Fast wirkte es manchmal sogar normal, wie eine ganz normale Familie, die zusammen lachte und sich den Salat über den Tisch reichte. Nein, Ma würde nichts davon erfahren, sie musste sich nicht um Henry kümmern, dafür würde Anne sorgen. Sie konnte das alles allein stemmen, wenn sie erstmal wieder arbeitete, auch wenn es Henry nicht gefiel wenn Frauen arbeiteten, dann hatten sie wieder etwas mehr Geld. Und mehr Geld hieß, dass es ihnen besser gehen würde und nicht jeden Cent zweimal umdrehen mussten. Und irgendwann... wenn Julie alt genug war und ebenfalls arbeitete, konnten sie zusammen ausziehen und sich eine kleine Wohnung finanzieren. Nur sie beide, allein. Dann würde endlich alles gut sein. Es wäre perfekt.

Das war der Strohhalm an den sich Anne klammerte, der sie jetzt gerade davon abhielt zusammenzubrechen und zu weinen bis Henry zurück war um ihr Beine zu machen. Nein, sie blieb stark, musste stark bleiben. Für ihre Familie, für die, die sie liebte. Und so war die Küche bald schon wieder wie neu, alles sauber, als wäre nie etwas passiert.

Später kam Henry mit einem Sixpack seines Lieblingsbiers zurück, er wirkte jetzt ruhiger, aber Anne zog es trotzdem die Treppen rauf in ihr Zimmer zu schleichen, das sie sich mit Julie teilte. Möglichst vorsichtig trat sie auf die Holzstufen, von denen die weiße Farbe abblätterte damit sie ja nicht so laut knarzten.

In ihrem Zimmer angekommen, sah sie Julie auf ihrem Bett sitzen und zeichnen. Sie hatte das Radio auf der Fensterbank auf niedrigster Lautstärke eingeschaltet, der fröhliche Weihnachtssong der vor sich hin dudelte, war nur zu erahnen. Seufzend ließ Anne sich auf ihr Bett fallen und starrte für einen Moment die Decke an. Jedes Glied fühlte sich schwer an, unfähig noch mal aufzustehen. Die einst weiße Decke zeigte jetzt große Wasserflecken, die sich in mehreren Ringen ausbreiteten wie der Stamm eines alten Baumes. Faszinierend aber gleichzeitig auch irgendwie hässlich. Das Fenster blickte auf die Hauswand des nächsten Wohnblocks, nur ein schmaler Streifen ließ eine Straße erahnen, sowie einen belebten Gehweg. Es war garantiert nicht das beste Viertel, eher im Gegenteil. Des Nachts war es gruselig hier allein bis nach Hause zu laufen, in den Gassen drückten sich Jugendliche und Gangs, die es nur darauf abgesehen haben andere zu überfallen, ihr Geflüster hallte in den Ohren bis man die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Am Tag hingen an den Ecken Obdachlose, die kaum noch Hoffnung hatten und mit ihren leeren Blicken eine Geschichte von Verlusten und Ängsten erzählten. Anne hasste dieses Viertel. Allein, wie oft der kleine Supermarkt schon überfallen worden war, in dem sie immer einkaufen ging. Sie hoffte, dass sie nie dabei war, wenn es wieder soweit war.

Seufzend schloss sie die Augen und rollte sich auf den Bauch, das Kissen unter dem Kopf zusammendrückend. „Willkommen in der schönsten Stadt an der Ostküste. Auch heute wird es wieder kalt, kalt, kalt! Schnee und Eis sind bis zum Abend hin zu erwarten. Die nächsten Tage gibt es einen Wechsel von Schnee und Sonnenschein, also bestes Wetter um draußen einen kleinen Spaziergang zu machen...", tönte es aus dem Radio. Anne schaute raus. Tatsächlich... Schnee. Es schneite nun seit einigen Tagen, seit es einen spontanen Temperatursturz gegeben hatte, der die ständige Regengüsse in puderweiches Weiß verwandelt hatte.

„Ich hab da übrigens einen Zettel mit einer Nummer unter deinem Bett gefunden. Vielleicht ist der ja noch wichtig, ich hab den auf denen Fall auf deinen Tisch gelegt.", meinte Julie, als wäre ihr gerade wieder was eingefallen. Anne schaute verwirrt auf. Eine Nummer? „Unter dem Bett?", fragte sie und Julie nickte bestätigend. „Als ich gestern sauber gemacht habe. Eigentlich wollte ich es dir schon früher sagen.", fügte Julie hinzu und deutete mit dem Kinn auf den Schreibtisch zwischen den beiden Betten, der damit nahezu das ganze Zimmer ausfüllte. Er stand direkt unter dem Fenster und war an einigen Stellen mit Klebeband geflickt. Neben einem Becher mit abgenutzten Stiften lag tatsächlich etwas weißes. Anne stand auf und griff zögerlich danach. „Eigentlich habe ich die Nummern für Ärzte und Feuerwehr unten neben dem Telefon.", murmelte sie während sie die unbenutzt Serviette umdrehte. Es war ja auch überhaupt nicht ihre Art etwas auf eine Serviette zu schreiben. Schon gar nicht, wenn etwas wichtig war. Sie hatte schon immer sehr auf Ordnung geachtet.

Die Nummer war in großen, viel zu ordentlichen Zahlen geschrieben. Sonst stand nichts darauf, kein Name, kein Gruß oder eine Adresse. Nur diese Nummer. Doch Anne traf es wie ein Schlag. Sie wusste fast augenblicklich, wessen Nummer das war. Derren...

Sie musste hörbar die Luft eingesogen haben, denn Julie war aufmerksam geworden. „Von wem ist die?", fragte sie, legte ihr Zeichenbuch bei Seite und kam zu Annes Bett rüber gekrochen. Annes strich mit dem Daumen über die Zahlenabfolge und presste die Lippen aufeinander. Er musste jetzt schon längst entlassen worden sein. Wahrscheinlich ging es ihm schon viel besser. „Hey, jetzt sag schon! Von wem ist die?", fragte Julie weiter und setzte sich neben Anne. Anne hatte nicht bemerkt wie sie anfing zu lächeln und presste die Serviette fest an sich. Allein wenn sie an Derren dachte, fing ihr Herz stärker an zu schlagen und ihre Wangen röteten sich. Sein Lachen war so warm gewesen, hatte sie sofort gefangen genommen. Genauso wie seine tiefe Stimme, die am Anfang so abweisend gewesen war. So wie für ihn hatte Anne noch nie empfunden. Sie wollte nicht wie ein kleines Mädchen sein und ihn anschwärmen, aber Anne merkte, dass sie das im Stillen immer wieder tat.

„Anne! Hallo, noch jemand zuhause?", fragte Julie und winkte vor Annes Gesicht rum. Annes seufzte und sah Julie an. Die zog ihre Augenbrauen hoch und begann sich dann auf Anne zu stürzen, dass diese zurück fiel. „Wer? Wie lange kennt ihr euch? Wo habt ihr euch kennengelernt?", fragte Julie aufgeregt lächelnd und setzte sich rittlings auf Anne. Anne gab ihr das Gefühl die Oberhand zu haben, obwohl sie das Fliegengewicht jederzeit abschütteln konnte. Stattdessen kicherte sie verlegen. „Ich weiß nicht was du meinst.", schmunzelte sie Julie an und merkte wie ihr Gesicht wieder rot wurde. Julie streckte ihr die Zunge raus. „Und ob du das weißt! Du bist eine schlechte Lügnerin.", lachte Julie und wollte nach der Nummer greifen. Anne hielt sie sich über den Kopf, wo Julies Arme noch etwas zu kurz waren um es zu erreichen. „Er hat mich wahrscheinlich eh schon wieder vergessen.", kreischte Anne lachend los, als Julie es mit einer Kizelattacke versuchte. „Aha, also doch ein Mann.", lachte Julie und ließ sich von Anne umstoßen, sodass diese neben ihr zum Liegen kam. Schuldbewusst lächelte Anne sie an. „Ist er gutaussehend?", fragte Julie und versuchte Annes Blick sichtlich zu deuten. Anne verdrehte verlegen die Augen. „Er war Patient bei uns auf Station, ein Soldat, der nach Hause geschickt wurde.", erzählte sie ihrer Schwester. Julie schnaubte. „Das beantwortet meine Frage nicht." Anne seufzte. „Er sah ziemlich fertig aus... Aber ja, er ist... gutaussehend.", flüsterte Anne verlegen und merkte wie ihr Gesicht heiß wurde. Sie konnte es ja kaum für sich selbst eingestehen. „Aha, wie sieht er denn aus?" Julie ließ nicht locker, sie hatte sich gespannt auf die Seite gewälzt und stützte ihren Kopf mit der Hand, während sie beobachtete wie ihre Schwester immer verlegener wurde. „Braune Haare, ziemlich dunkle Augen, groß - so weit ich das beurteilen konnte. Egal was ich sage, du kannst ihn dir ja doch nicht richtig vorstellen" Anne räusperte sich, als sie sich an jedes noch so kleine Detail an Derren erinnerte. Wie er sprach, wie seine Augen sie musterten, gleichzeitig bewundernd und hart. Die Härte haftete ihm immer an, was Anne durchaus verunsicherte und seine Gedanken praktisch unlesbar für sie machten. „Okay, und wie heißt er jetzt?", flüsterte Julie nun auch, als wolle sie Anne nicht verschrecken. Und Anne drückte die Nummer wieder an ihre Brust, schloss die Augen und begann zu lächeln, als sie sich daran erinnerte wie er sich ihr das erste Mal richtig vorgestellt hatte. „Derren... Er heißt Derren McConnell."

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2k 🥳😱 Danke, danke, danke! Wie schnell das jetzt plötzlich ging. Lasst euch knuddeln :) (Wahrscheinlich bin ich die einzige die sich so darüber freut ^^)

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