Kapitel 3 - Erkennen

Unter Schock saß ich da, in diesem schwarzen, unbequemen Rollstuhl. Ich brachte es nicht fertig zu reagieren, oder überhaupt irgendwas zu tun, während sich kalter Schweiß auf meinem Körper ausbreitete. „... den ganzen Flug über im Koma. Die Entzündung hat sich bis in dir Knochen ausgebreitet und es bestand akute Gefahr um Ihr Leben. Das Lazarette hätten den Eingriff natürlich selbst vollzogen, aber der Nachschub an nötigen Material kommt erst nächste Woche, sonst hätte der Kommandant nicht entschieden Sie und eine Hand voll Verletzter aus dem gleichen Lazarette her schicken zu lassen. Und um Ihr Leben zu retten mussten wir Ihre Beine unterhalb des Knies amputiert."

Ich wunderte mich, dass ich nicht sofort in einem hysterischen Anfall ausbrach, obwohl ich mich innerlich so fühlte, als würde es jeden Moment losgehen. Es war nicht das gleiche, als wenn man dir sagt: Tut mir leid, aber Sie werden höchstwahrscheinlich nie wieder laufen können, man seine Beine jedoch sehen und anfassen konnte. Es war dieser feine Hauch der Normalität, der an dieser Sichtbarkeit haftete und dich nicht zu einem Ausgestoßenen, einem Krüppel machte. Meine Beine waren weg, einfach nicht mehr da und doch war mir so, als könnte ich sie noch fühlen. Ich bildete mir ein noch immer mit den Zehen wackeln zu können wenn ich mich anstrengte, vielleicht auch das Bein zu heben und einfach aufzustehen.

Ich sah den Arzt vor mir nicht an, starrte nur auf die Stummel unter mir. Er hatte es mit lieben Worten versucht, mit Erklärungen, Beschwichtigungen aber in mir zerbrach alles. Meine Welt bekam einen Riss, einen Abgrund der mich in seiner Schwärze verschluckte.

In den letzten Tagen hatte ich mehr schlafend als wach verbracht und dank der starken Schmerzmittel nichts gemerkt in meinen wachen Phasen. Doch nun saß ich das erste Mal im Rollstuhl zur Kontrolle beim Arzt und konnte meine Tränen nicht unterdrücken. Ich tastete vorsichtig mit den Fingern nach den Stummeln, merkte wie sie zu der Stelle kamen, wo zuvor der Rest meines Beines gewesen war. Ich würgte, vor meinen Augen wurde es kurz schwarz und ich übergab mich neben meinem Rollstuhl. Der Arzt verzog kaum merklich das Gesicht.

Meine ganze mögliche Zukunft verschwamm vor meinen Augen, alles was ich mir erarbeiten wollte, die Ziele die ich mir gesetzt hatte. Alles wurde grau, entfernte sich bis zur Unsichtbarkeit von mir. In meinem Kopf drehte sich alles, meine Ohren rauschten, während meine Atmung gleichzeitig mit meinem Herz anfing sich zu beschleunigen. Ich presste die Lippen aufeinander um nicht laut aufzuschluchzen wie ein kleines Kind, doch mein Körper bebte und zitterte, während mir die Tränen nur so über die Wangen rannen. Der Abgrund vor mir klaffte auf. Alles endete jetzt und hier. Meine Zukunft, meine Vergangenheit, Karriere, Erfolge, Träume. Es wurde vor meinem inneren Auge zerrissen, zerfetzt. Ich erlebte die vorzusehende Panikattacke.

„... Wunden heilen gut. Ich schätze, dass sie in ein paar Wochen nach Hause können. Ein Therapeut wird bald alles mit Ihnen aufarbeiten, er wurde vorsorglich informiert." Der Arzt versuchte es mit einem aufbauenden Lächeln, doch ich schluckte nur, unfähig zu sprechen. Tränen sammelte sich brennend in meinen Augen und mein Zittern verstärkte sich. Wieder stieg Übelkeit in mit auf. Mir wurde abwechselnd kalt und warm während ich nun laut durch den Mund atmete, als wäre ich gelaufen. Das Herz schlug mir wie ein Presslufthammer gegen die Brust. „Mister? Ich bitte Sie sich sofort zu beruhigen. Soldaten wie Sie bekommen eine gute Abfindung, und ich bin sicher Ihre Familie wird Sie in der ersten Zeit tatkräftig unterstützen. Es besteht jetzt kein Grund die Kontrolle zu verlieren.", versuchte der Arzt mich zu beruhigen und tätschelte meine Schulter. Ich blickte das erste Mal zu ihm hoch, die Tränen liefen mir über die Wangen, doch mein Blick war düster obwohl ich natürlich wusste das dieser Mann im weißen Kitten nichts für alle das konnte. Er war alt, hatte eine weiße Halbglatze und einen fein gestutzten Bart.

„Ich brauche keine Hilfe.", knurrte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, versuchte mich irgendwie wieder zu ordnen. Es widerstrebte mir mich hier bloßzustellen, meine Tränen und meine Gefühle vor jemand fremden zu zeigen. Achtlos wischte ich die Hand des Arztes von meiner Schulter und erntete einen erstaunten Blick. Der sich gleich darauf in strenge Härte verwandelte. Wieder wurde ich von einer Welle der Panik geschüttelt und alles wurde kurz schwarz, mein Herz dröhnte rauschend in meinen Ohren, drückte meine Adern.

„Schwester, unser Patient muss sich jetzt dringend beruhigen. Eine Spritze, sofort! Und fixieren Sie ihn an seinem Bett, er soll sich nicht selbst verletzen können.", sagte der Arzt ein wenig zu ruhig und nickte einer jungen Frau im Hintergrund zu. Ich knurrte in mich hinein, Kälte machte sich in meiner Brust breit. Ich wollte nicht ruhig gestellt werden! Alles aber das nicht. Nichts konnte mich weniger beruhigen als das Gefühl wehrlos und ausgeliefert zu sein. Allein die neuerliche Vorstellung davon ließ mich würgen. „Ich bin ruhig!", rief ich atemlos und bezeugte damit genau das Gegenteil. Mein Herz pumpte wie wild und ich wich mit dem Rollstuhl zurück, als sich die Frau mit einem ebenso aufgewühlten Gesichtsausdruck näherte. Anne... „Ich bin ruhig.", sagte ich noch einmal, bemüht wirklich die Ruhe auszustrahlen, die ich fühlen wollte. Ich zwang mich langsamer zu atmen, die Übelkeit runterzuschlucken. Doch sie kam auf mich zu bis sie vor mir stand und die Spritze zitternd auf meinen angespannten Arm sinken ließ.

Grob packte ich ihren Unterarm und stierte sie wie wild an. Ich konnte nicht fassen was hier gerade passierte, wollte nicht glauben, konnte nicht verstehen. Mein Kopf schmerzte und noch immer fühlte ich Tränen auf meinen Wangen, neue blinzelte ich streng weg. Anne schaute mich verschreckt an, ihre Augen waren kugelrund, aber nicht ängstlich, nur unsicher, was auch aufgrund ihrer Jugend kam. Aus dieser Entfernung glaubte ich kaum noch das sie über 18 Jahre alt sein konnte, eher jünger. Ich konzentrierte mich auf sie, die Details in ihrem jungen Gesicht um mich abzulenken. Es gelang. Ihr schmaler Arm in meiner Hand spannte sich an, die Muskeln verhärteten sich, doch sie riss sich nicht los. „Anne bitte! Ich bin ruhig...", versuchte ich leise und schaute sie eindringlich an. Noch mehr unschuldige Kindlichkeit huschte über ihr Gesicht, während sie sich kurz zum Arzt umschaute, der sich bereit abgewandt hatte und seinen Kittel auszog um ihn über seinen Stuhl zu hängen. Dann wanderte ihr Blick wieder zu mir und sie nickte kaum merklich, drückte den Kolben der Spritze und etwas Durchsichtiges tropfte zu Boden. Sie beugte sich noch ein Stückchen weiter vor, gab vor meinen Arm zu begutachten und flüsterte: „Sei benommen." Ihre Stimme war hoch, und heiser vor Aufregung etwas Verbotenes zu tun. Sie riskierte ihren Job und ihren Ruf. Würde sie erwischt wäre ihre Karriere als Krankenschwester zu Ende, kein Krankenhaus würde sie mehr nehmen.

Ich starrte noch immer auf die leichten Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken der gerade und flach aus ihrem hübschen Pfirsichfarbenen Gesicht ragte. Ich atmete nun fast wieder normal und konnte mein zittern jedenfalls äußerlich unterdrücken. „

„Hm? Haben Sie was gesagt?", fragte der Arzt der sich umdrehte, gerade als Anne die leere Spritze hinter ihrem Körper hervorholten und sie gewissenhaft auf ein silbernes Tablett legte. Ich ließ vorsorglich den Kopf auf die Brust sinken und tat abwesend, konzentrierte mich auf eine langsame Atmung und spürte mein Herz noch immer in meinen Ohren rauschen.

„Ich hab nur vor mich hingemurmelt, Herr Doktor. Gehofft das ich die richtige Stelle erwische, wie Sie wissen war das gerade meine erste Spritze und-", versuchte Anne zu erklären, als der Arzt die Hand hob und sie unterbrach. „Alles gut, Sie müssen sich nicht erklären. Bringen Sie den Patienten jetzt auf sein Zimmer und bereiten sie das Bett daneben für einen Neuzugang vor." Anne nickte nahm meinen Rollstuhl und brachte mich mit eiligen Schritten in mein Zimmer zurück.

Als sie die Tür leise hinter uns geschlossen hatte hob ich den Kopf. Ich war erschöpft, fühlte mich wie ein Haufen nasser Wäsche und betrachtete das schmucklose Zimmer, welches nur durch einem bunten Blumenstrauß zu einem weniger trostlosen Ort wurde. Anne schob mir auf das Bett zu und kam dann zu mir rum. „Du... ähm ich meine Sie müssen mir helfen. Meinen Sie, Sie können Ihr Gewicht so verlagern dass wir Sie ins Bett hieven können?", fragte sie und ihre zarten Hände streckten sich bereits nach mir aus. Sie würde mich niemals, selbst jetzt wo ein großer Teil von mir fehlte hochbekommen. Dafür war sie nicht stark genug. Also half ich ihr und stützte mich zitternd aus dem Rollstuhl dem Bett entgegen, bis sich mein Hintern auf dem Laken befand und ich mich wieder im Bett befand.

Anne schob den Rollstuhl bei Seite und drehte sich dann zu mir um. Ihre Wangen glühten rosa und ein zerknirschter Ausdruck trat in ihre Augen. „Sie wissen, ich hätte das nicht tun dürfen.", sagte sie unsicher und knetete ihre Finger nervös, warf erst einen Blick zur Tür, dann wieder zu mir. „I-ich... also Sie...", sie stotterte, dann verstummte Anne ganz, während das rosa ihrer Wangen kräftiger wurde. „D-das war dumm von mir, i-ich...", versuchte sie nach durchatmen und schluckte nervös, warf wieder einen Blick zur Tür. Ich schüttelte benommen den Kopf und seufzte tief. „Du hast mich gerettet...", sagte ich leise aber bestimmt. Ihre Augen weiteten sich noch ein Stück und sie wollte wieder anfangen etwas zu haspeln. „I-ich hab nicht-" „Danke, Anne!", fuhr ich sanft in ihr Wort und brachte sie zum verstummen. Sie schaute mich an, Unsicherheit und Nervosität kämpften in ihrem Blick, doch dann nickte sie.

Mit langsamen Schritten kam sie auf mich zu. „Die Fesseln muss ich Ihnen aber trotzdem anlegen. Wenn der Chefarzt zur Visite reinschaut und du... ich meine Sie nicht ruhig gestellt sind wie er es angeordnet hat, dann komme ich in Teufels Küche.", sagte sie nun und drückte mich sanft in die Kissen unter mir.

Ich schaute düster dabei zu wie sie mir die Lederriemen um Handgelenke und die Bauchmitte legte, sie allerdings nicht fest schloss. Mir den Zähnen knirschend starrte ich zur Decke hoch. Eine Enge bildete sich in meiner Brust und das unangenehme Gefühl der Gefangenschaft und Hilflosigkeit breitete sich wie kalte Hände um meinen ganzen Körper aus. Ich zwang mich kontrolliert weiter zu atmen und dem schwachen Gefühl der angst keinen Platz zu lassen.

Anne beugte sich über mich. „Es ist nur bis morgen früh.", sagte sie beschwichtigend als sie meinen gequälten Ausdruck erkannt hatte. Nur bis morgen früh, na toll. Ich brummte und wandte den Blick ab. Anne seufzte leise und berührte kurz mit den Fingerspitzen meinen Handrücken. „Hab keine Angst. Alles wird wieder gut...", flüsterte sie und wollte gehen. Doch ich verengte die Augen immer noch zum Fenster starrend. Was nahm sie sich das Recht raus mir irgendwas von ‚es wird alles gut' zu erzählen. Gar nichts war gut und würde wahrscheinlich auch nie wieder gut werden. Ich war jetzt ein verdammter Krüppel, zu nichts mehr zu gebrauchen. Und dieses unschuldige, von gar nichts eine Ahnung habende Mädchen sagte, alles werde gut. Was wusste sie schon, hatte sie ihre Beine verloren? Konnte sie sich vorstellen was in mir gerade vorging? Nein... denn dieses unschuldige Gesicht, die großen Augen, die so klar und rein waren hatten noch nichts wirklich schreckliches erlebt. Dummes kleines Ding, bildete sich ein dass...

Doch ich biss den Kiefer aufeinander und schwieg meinen Groll aus. Ich hörte wie sie das Zimmer verließ, kurz im Türrahmen stehen blieb - wahrscheinlich schaute sie noch einmal zurück zu mir - und dann endgültig mein Krankenzimmer verließ. Es wurde still.
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Hey ihr lieben,
Ich weiß, letzte Woche kam nicht das versprochene Kapitel. Dafür diesmal ein extra langes.

Ich weiß noch nicht wann das nächste Kapitel kommt, ich bemühe mich, es nächste Woche zu schaffen.

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