Kapitel 29 - Entlassung

Gleich am nächsten Morgen, es war früh, die Sonne ging gerade erst auf und tauchte die Welt in sanftes, rotes Licht, da kam eine Schwester ins Zimmer und weckte mich mit ihrem spitzen Schrei aus meinem Schlaf. Wie ein Wecker klingelte ihre Stimme in meinen Ohren, doch als ich es schaffte mühsam die Augen zu öffnen, war sie schon davongeeilt, in Panik und mit fliehenden Schritten die man noch weit über die Flure hörte. Ich fühlte mich etwas benommen, aber erstaunlich gut für meinen bisherigen Zustand und für das, was in der Nacht geschehen war. Zwar war ich im ersten Moment selbst verwirrt, warum da Blut auf dem Boden war und an der Tür zum Bad und am Verbandsschrank und an meinem Rollstuhl - kurz dachte ich, das Opfer ein missglückten Operation wäre des Nachts durch die Zimmer geschlichen - doch dann fiel es mir wieder ein. Mir gelang ein schuldbewusster Seufzer und berührte sanft meinen geschundenen Arm. Besser ich zog etwas an, bevor sie den weißen Verband sahen, ich konnte gut darauf verzichten noch etwas länger zu bleiben oder in eine neue nette Anstalt abgeschoben zu werden, wo dann wirklich verrückte Sachen geschahen. Der Abgrund konnte nur tiefer werden.

Die Schwester kam einige Minuten später mit zwei weiteren Schwestern und zwei Ärzten zurück, die alle durcheinander redeten wie aufgescheuchte Hühner. Sie spekulierten, waren aufgebracht und wollten wissen, was denn eigentlich zu so früher Stunde los war, wo doch die ganze Nacht eine Wache zur Verfügung gestanden hatte. Erst als sie mich im Zimmer vorfanden, auf der Bettkante sitzend, angezogen und ihnen wohlauf entgegen blickend, verstummten sie ganz plötzlich mit entsetzten und ungläubigen Blicken. Der Raum wurde mit Blicken abgetastet, denen kein Detail entging, dann sahen sie wieder mich an. Ich versuchte ihren Blick der Irritation zu immitieren. Die ganze Manschaft kam nach kurzem auf mich zugerannt und fragte mich tausend Dinge durcheinander. "Was ist passiert?" - "Woher kommt das Blut?" - "Sind die Wunden wieder aufgegangen?" - "Haben Sie sich verletzt?" Und so weiter. Sie ließen mir nicht die Möglichkeit zu Wort zu kommen, sondern stellten gleich ihre eigenen Vermutungen an. Die drei Schwestern säuberten derweil das Zimmer im Akkord. Wie Bienen rannten sie aufgeregt umher, riefen nach Putzfrauen, die den Boden sauber machen sollten und wischten mit Tüchern das nötigste ab, wobei das meiste von dem Blut schon angetrocknet war. Oh man!

Im Bad dann das nächste Entsetzen. Schließlich war es dort um einiges schlimmer, als hier im Zimmer. Ich schluckte und versuchte mich auf die Ärzte zu kontrollieren, die derzeit meinen Blutdruck gemessen hatten, meine Beine auf mögliche Probleme untersucht hatten und meine Reflexe untersuchten. "Ich habe in der Nacht nur ein Glas fallengelassen.", funkte ich dazwischen und beobachtete die leicht verirrten Mienen der Ärzte. Schuldbewusst zeigte ich ihnen meine Hand, die nun verschorft war und als gute Ausrede diente. "Ich wollte mir was zu trinken holen, nichts besonderes. Da ist mir das Glas aus der Hand gerutscht. Ich wollte die Scherben aufsammeln und habe mich geschnitten.", erzählte ich mit Blick auf meine Hand, um ihnen nicht in die Augen sehen zu müssen. "Und warum haben Sie dann keine der Nachtschwestern geholt? Die hätte Ihnen doch helfen können.", klagte einer der beiden Ärzte, der jüngere mich an und begann meine Hand vorsichtig zu untersuchen. Ich zuckte trotzig mit den Schultern und sah ihn an, der nicht mehr als zehn Jahre älter als ich sein konnte. "Ich wollte mir nur was zu trinken holen. Dazu brauche ich doch keine Hilfe.", sagte ich gereitzt und fing einen abschätzenden Blick des jungen Arztes ein. Natürlich... Ich brauchte die Hilfe in seinen Augen also. Doch er sagte einfach gar nichts mehr, sondern unterhilt sich fachlich über das nächste Vorgehen.

Nachdem meine Hand gereinigt, desinfiziert und verbunden war, überprüften sie noch einmal meine Beine, ob auch alles gut verheilte und ich Schmerzen hatte. Nun, das hatte ich, aber nur ganz leicht bei direkter Berührung der genähten Stellen. Es war zufriedenstellend, der Arzt machte einen Harken auf seinem Zettel, lächelte und ließ mich dann meine Entlassungspapiere unterzeichnen, während Trudy im Hintergrund meine Sachen aus den Schränken in einen Koffer legte, den offensichtlich meine Eltern zur Verfügung gestellt hatten. Es war Stefans alter Kinderkoffer. Mit leichter Melancholie stellte ich fest, dass ich nicht viel hier hatte, was ich hätte mitnehmen können. Ein paar Bücher, vieles an Süßigkeiten, welche ich kaum angefasst hatte, etwas Shampoo und ein oder zwei weiße Shirts, die wohl aus Vietnam nachgeschickt worden waren. Mein Leben war seit der Army sehr spatanisch geworden, nichts was ich wirklich benutzte war mein Eigentum. Es wurde mir gestellt für eine bestimmte Zeit lang, wie die improvisierte Zahnbürste, oder dieses Bett. Aber irgendwann gab ich es wieder ab, hinterließ keine Spuren. Auch dies war eine eigentlich erstaunliche Erkenntnis, so simpel sie war. In Vietnam war ich nichts gewesen, ich hatte keine Spuren hinterlassen, die nicht ein anderer auch hinterlassen hätte. Ich war nur ein Geist, fast fünf Jahre meines Lebens, also seit ich der Army beigetreten war, war ich nur noch ein Geist, praktisch nicht existent, austauschbar. Wenn ich jetzt nicht mehr konnte wurde jemand anderes in meinem Zelt schlafen, meinen Kochtopf benutzen, meine Schuhe und Dienstkleidung tragen.

Gegen Mittag, ich hatte mir noch das letzte, wie immer kaum tragbare Frühstück runterquälen müssen, war es endlich so weit. Meine Familie, voll versammelt kam ein letztes Mal, diesmal, um mich endlich zu befreien. Mein Herz schlug hart gegen meine Brust, als ich sie lächelnd empfing. Mutter fiel mir in die Arme. "Hallo, mein Schatz. Endlich ist dein großer Tag gekommen.", murmelte sie an mein Ohr, und ich kam nicht umhin mich bei ihren Worten wie ein kleiner Junge zu fühlen. "Ich weiß. Endlich...", sagte ich tatsächlich froh. Das wird wieder... Ja, dachte ich, das stimmt. Zum ersten Mal ist es wirklich wahr. Ich spürte das der Mantel meiner Mutter nass war unter meinen Fingern, es musste regnen. "Anscheinend gleich das beste Wetter für meine Entlassung.", stellte ich trocken fest. Meine Mutter löste sich von mir und befingerte ihren Mantel. Dann lachte sie herzlich. "Es ist der erste Schnee in diesem Jahr. Hast du den nicht immer am meisten geliebt?", fragte sie und deutete zum Fenster. Ich wandte mich um nd tatsächlich. Lautlos rieselten riesige, weiße Flocken vom Himmel ud tauchten die Welt in ein Winterland. Ich begann schmal zu lächeln. Wie lange es her war, dass ich Schnee das letzte Mal gesehen hatte. So lange... Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern wie sich der Schnee anfühlte, wenn er unter den Schritten knirschte, wenn er fiel und der Wind kaum pfiff, wenn man versuchte eine Flocke mit der Zunge aufzufangen oder das Gefühl, wenn Schnee im Haar langsam zu Wasser wird. Es kam mir wie ein anderes Leben vor.

Ich blinzelte aufkommende Tränen weg, zog die Nase hoch und wandte mich wieder zu meiner Familie. Stefan schob mir einen neuen, mir bisher nicht bekannten Rollstuhl entgegen. Der Sitz war aus Stoff, die Lehne höher und mit einem Kissen ausgestattet. Ich sah die drei fragend an. "Hast du geglaubt wir würden dich auf Händen nach Hause tragen?", warf Stefan augenverdrehend ein und klopfte einladend auf die Lehne. "Nur das Beste für unseren kleinen Jungen!", meinte er süffisant und lachte dann. Mutter schnalzte giftig mit der Zunge, sodass Stefan gleich wieder verstummte. Ich ließ mich vorsichtig in den neuen Rollstuhl gleiten, lehnte die Hilfe meiner Eltern ab und war überrascht, wie bequem er im Gegensatz zu dem anderen Teil war, auf das ich bisher angewiesen war. Mutter legte eine Decke über meine Beine. "Dann kann es ja losgehen.", meinte sie fröhlich und fast meinte ich, sie vor Freude springen zu sehen. Es machte mich glücklich, sie wieder lächeln zu sehen. So glücklich, dass ich fast die Schmerzen in meinem Arm vergaß.

Draußen schneite es wie in einem Schneesturm, nur ohne Wind, der den Schnee in brutale Eiskritalle verwandelte. Es war friedlich und die Gräusche von Boston, die mir so bekannt waren umfingen mich, als wollten sie mich willkommen heißen. Zu meiner Beunruhigung wurde ich von Stefan geschoben, der trotz meines Protests ganz brüderlich darauf bestanden hatte. Zu meiner Überraschung tat er aber nichts dummes, war sogar recht vorsichtig und wirkte alles andere als der draufgängerische Arsch, der er eigentlich war. "Was ist eigentlich mit der niedlichen Schwester? Trefft ihr euch irgendwie wieder, oder war das nur eine Krankenhausromanze?", fragte Stefan leise, sodass nur ich es hören konnte. Unsere Eltern gingen einen Schritt voraus. Ich presste die Lippen aufeinander. Eigentlich wollte ich mir meine momentane, so seltene Freude nicht kaputt machen lassen, aber wenn ich ehrlich war, hatte mich diese Frage auch beschäftigt. "Ich weiß es nicht.", antwortete ich wahrheitsgemäß und stieß die Luft in einer weißen Wolke aus. Stefan brummte nachdenklich, als schon von weitem Dads altes Auto in Sicht kam. Nicht sehr luxoriös stand die graue Blechschüssel im Schnee und wartete auf uns. Ich betrachtete sie, wie sie immer größer wurde, als wir uns näherten. Es war Vaters erstes Auto und er fuhr es noch immer. Kaum zu glauben, dass es überhaupt noch fuhr. "Vielleicht besser so.", fügte Stefan unerwarteterweise noch hinzu. Ich sagte nichts dazu, ich wollte und konnte es nicht. Alles was ich gesagt hätte wäre falsch gewesen. Und so kamen wir am Auto an, wo mich dann nur noch wenige Minuten von zu Hause entfernten. Ich warf dem Krankenhaus keinen letzten Blick zu, denn ja, vielleicht war es besser so.

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