Kapitel 20 -Freunde und Familie

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Ein Tag kam mir so kurz vor, so belanglos, dass ich es kaum wagte wieder zum Fenster zu sehen. Es war immer dunkel, morgens, abends und dazwischen waren zwei Minuten grauer Himmel mit Regen. Alles lief jeden Tag irgendwie gleich, die Untersuchungen, die spärlichen Unterhaltungen mit Luke, die drei, immer ekelhaften Malzeiten. Luke ging es jetzt merklich besser, seit seine - baldige - Frau und das Kind fast täglich zu Besuch kamen. Sein Lächeln wurde ehrlicher, weicher und irgendwie, wie es mir erst jetzt auffiel, mehr ins diesseits gerückt.

Ich hatte eine neue Beschäftigung in Büchern gefunden und war überrascht wie schnell die Zeit beim Lesen verging, während man mit Kapitän Ahab auf Walfang ging und Theorien von Humbold auf seiner Reise durch die Welt verfolgte. Nebenbei hörte ich Radio, was eigentlich Lukes Beschäftigung gewesen war, um Neues über den Verlauf des Kalten Krieges und Vietnam zu erfahren. Aber mittlerweile fand auch ich Gefallen an der dudelnden Musik die immerzu lief und konnte nicht umhin das ein oder andere Mal mit der Hand mit zu wippen. Es war zwar nicht meine Musik, aber sie war ganz angenehm, wenn sie mich nicht nervte.

Zuhause hatte ich immer im Pub gesessen mit ein paar Freunden und den Volksliedern zugehört, die dort gespielt wurden. Es hatte in mir immer ein Gefühl von Dazugehörigkeit und Nostalgie ausgeströmt. Man hatte mir gesagt, dass mein irisches Blut dann aus seinem tiefen, amerikanischen Schlaf gezerrt wurde und ich endlich erkannte, wer ich war und wo meine Wurzeln lagen. So philosphisch war es natürlich nicht, aber die Musik und die Stimmung hatte mir sehr gefallen. Ich erhoffte mir, das noch einmal zu erleben, wenigstens das. Nicht das Tanzen, was ich auch beherrscht hatte und was erst losging, wenn alle wirklich betrunken waren, aber wenigstens das Zuhören. Hoffentlich wenigstens das...

Es war also mittlerweile der Montag meiner letzten Woche und meine Familie hatte mit schon zugesichert zu kommen. In wenigen Tagen war ich endlich hier raus, aus diesem deprimierenden Trott eines Krankenhauses, hilflos ans Bett fesselt und den Ärzten ausgeliefert. Ich legte gerade das Buch nieder, gähnte ausgiebig und sah dann kurz zu Luke rüber, der auf der Bettkante saß und stumm aus dem Fenster schaute. Ich konnte nicht sagen, in welcher Stimmung er war. Es hatte mich eigentlich nicht zu interessieren, aber irgendwie waren wir in den letzten Tagen so etwas wie... Kumpanen geworden. Eine simple Gewohnheit, wenn man jemanden immer in seiner Nähe hatte. Es war früher genau das gleiche mit den anderen Soldaten gewesen, mit denen ich mir ein Zelt geteilt hatte. Wolf, Löwe, Winter... all diese jungen Männer, die so etwas wie eine Familie für mich geworden waren. Man aß, redete, schwieg zusammen und manchmal hing man auch über einem Playboy, um von den blonden, rotwangigen Mädchen zu träumen, die man doch nie in Wirklichkeit sehen würde. Das alles schien wie eine schreckliche, aber gleichzeitig gute Erinnerung, ein Gefühl das die kleinsten Sachen so viel besser erscheinen lässt als sie wirklich waren. Dieses Gefühl hatte ich mit Luke, ich wusste nicht ob er es auch so mit mir empfand. Vielleicht...

Nach diesem Krankenhausaufenthalt würde ich ihn genau wie die anderen nie wieder sehen... Doch sie alle bezeichne ich als Freunde, die ein Stück meines Lebens geteilt hatten, die an meiner Entwicklung von einem unwissenden Jungen zu einem bewanderten, oft nachdenklichen jungen Mann teilnahmen. Also, die logische Schlussfolgerung daraus war, dass ich auch von Luke als einen Freund sprechen werde. Seltsam, wie man seine Meinung ändern konnte. Seltsam überhaupt, wie jemand den man nicht wirklich mochte zu einer Person wurde die fest in der Erinnerung verankert blieb.

Seufzend schwang ich mich - mittlerweile geübt - in meinen Rollstuhl und fuhr zu Luke rüber. Er wirkte versunken in der Beabachtung der Welt, jenseits der Krankenhausmauern. Beinahe weggetreten. Ich gesellte mich zu ihm und folgte seinem Blick raus. Kalt und grau blickte uns Boston durch das Fenster hin an. Die Wolken waren regenschwer und die Straßen waren bis auf die paar Menschen, die gezwungen waren von a nach b zu laufen, leer. Krawatten tragende Männer, die mit polierten Schuhen und Aktenkoffer über die feuchten Wege flogen. "Es wird bald schneien. Das spüre ich.", meinte Luke leise und ich nickte einfach zustimmend, ob er es nun sah oder nicht. Ich besah mir weiter die grauen Hochhäuser, die im Sommer und bei Sonne viel freundlicher wirkten als jetzt gerade. Da begann Luke leise zu kichern. Ich sah zu ihm rüber, doch sein Blick blieb draußen. Sollte ich fragen? Doch da fing er schon von allein an zu reden, als hätte er meine Gedanken gelesen. "Meine Frau versucht eine frühere Entlassung für mich zu erwirken. Sieht gut aus, sie war schon immer sehr überzeugend, wenn sie etwas wollte." Ich lächelte ehrlich. Tatsächlich schien es Luke von Tag zu Tag besser zu gehen, seine rote, neue Haut und das grässlich vernarbte Gewebe sahen gut aus. Er wurde wieder, wenn ich auch wusste, dass auch Luke noch einen weiten Weg hatte. "Das freut mich. Wann wirst du entlassen?", fragte ich und fing Lukes Blick diesmal auf. Er lächelte... "Bis jetzt, in zwei Wochen. Aber mit Glück schon nächste Woche.", antwortete er und sah so glücklich aus, dass es mich erst jetzt wie ein Schlag traf wie sehr er zuvor gelitten hatte. Der neue Glanz in seinen Augen war fast so befreit wie sein Lächeln und geschwängert mit der reinsten Hoffnung, die ein Mensch nur empfinden konnte. Und ja... ich bewunderte ihn dafür. Auch wenn ich das Luke oder sonst wem niemals eingestehen würde.

Erneut legte sich Stille über uns, während wir raus blickten. Bis es auf einmal an der Tür klopfte und ebendiese geöffnet wurde. Das Gesicht meiner Mutter steckte sich rein. Ihren gutmütigem Lächeln folgte ein neuer Korb mit Süßigkeiten und das neutral knitterige Gesicht meines Bruders, während er mürrisch zurück schaute und dann die Tür hinter sich schloss. Sein Blick konnte alles sagen, also gab ich nicht viel darauf und gab Luke einen sanften Klaps auf die Schulter, um ihn an seiner neuen Haut nicht zu verletzen. "Schon so früh?", fragte ich und fuhr zu den beiden hin. Meine Mutter beugte sich runter und umarmte mich fest. "Natürlich, hat die Nachricht dich nicht erreicht? Wir haben gestern mit einer Schwester telefoniert. Sie wollte es dir eigentlich weitergeben.", sagte sie nachdenklich und stellte den Korb auf meinem Bett ab. "Hat sie, aber ihr ward eigentlich erst für heute mittag eingeplant.", gab ich zu denken und sah meinen Bruder an. Dieser verstand die Aufforderung und rollte mit den Augen. Keine Begrüßung für mich. "Naja, das macht ja nichts." Meine Mutter legte Schal und Handschuhe ab und faltete sie in ihrem Schoß ehe sie ein wenig die alte Jacke öffnete. "Ist Dad gar nicht mitgekommen?", fragte ich und schielte an meinem Bruder vorbei, als würde er sich hinter ihm verstecken. "Nein, er liegt krank im Bett, unsere Tante ist extra aus New York gekommen, damit wir uns zu dir auf den Weg machen können.", antwortete diesmal mein Bruder und setzte sich neben den Korb auf die Bettkante. "Aber es ist doch nichts schlimmes, oder?", fragte ich besorgt und sah von meiner Mutter zu meinem Bruder. Er wirnkte ab. "Nein, nur ein Schnupfen, der wird schon wieder. Umso verdächtiger, dass Tante gleich am nächsten Morgen vor unserer Haustür steht und sich um ihn kümmern will. Doppelbelastung sei nicht gut, hat sie gesagt." Ich zog eine Augenbraue hoch, als Stefan sich auch schon zu mir vorbeugte. "Also wenn du mich fragst hat sie nur einen Vorwand gesucht, um Weihnachten nicht allein zu verbringen. Nicht umso kam sie mit zwei riesigen Koffern und bestand auf das Gästezimmer.", führte er noch etwas gedämpfter hinzu und seufzte stumm, um mir übertrieben bildlich zu zeigen wie begeistert er davon war. Mutter mischte sich natürlich ein. "Sie ist eben einsam. New York soll so unpersönlich und kalt sein. Da sollen sich die Leute nicht mal grüßen, wenn sie seit zwanzig Jahren Nachbarn sind.", rechtfertigte sie und brachte mich zu einem amüsierten Lächeln. Ich liebte es, wenn die beiden sich in ihrer Meinung zu übertrumpfen zu versuchten. "Dann soll sie halt wieder nach Boston kommen.", schnappte mein Bruder und bemerkte mein amüsiertes Lächeln.

Meine Schulter wurde getätschelt. "Ich dachte schon, du würdest nie mehr lächeln und mein Bruder wäre für immer irgendwo da drinnen verschollen.", lachte mein Bruder für einen Moment wirklich glücklich. So glücklich, dass ich es mir verbiss etwas zu sagen wie: Er ist nicht hier drinnen verschollen, sondern viel früher. Irgendwo in Vietnam liegt eine Leiche namens Darren. Ich wollte diesen zerbrechlichen Moment der Bruderliebe nicht kaputt machen, denn ich wusste wie schwer es für ihn war das zu sagen, was er fühlte. Paradox wenn man bedachte, dass er beinahe jeden Monat ein anderes Frauchen hatte, die ihm praktisch zu Füßen lag. "Ist er nicht.", murmelte ich diese Halbwahrheit und bemerkte ein Funkeln in den Augen meines Bruders. Waren das... Tränen? Heilige! Was war denn heute nur mit ihm los? Das Tätscheln wurde fester, beinahe schmerzhaft. "Gut zu wissen.", sagte er und lächelte, als wüsste er nicht wie nahe er den Tränen war. "Ach man, sieh nur was du mit mir machst...", lachte er, wischte sich eine Träne aus dem Auge und zog mich in eine überraschende Umarmung. "...du Idiot.", flüsterte er in mein Ohr. Mein Lächeln verbreiterte sich. Ich erwiderte seine Umarmung und klopfte ihm etwas zu fest auf den Rücken.

Als er mich losließ hatte er sich wieder voll im Griff, Stefan eben. "Das vom letzten Mal tut mir übrigens leid. Ich wusste einfach nicht... wie ich auf das alles reagieren soll und du weißt das ich dann-" "Das du empahtisch wie ein Stück Brot bist? Ja, dass weiß ich.", fuhr ich ihm halb scherzhaft, halb ernst an. Er hob die Schultern, sich keiner Schuld bewusst. "Genau so wollte ich das auch formutieren. Nein, aber Ernsthaft. Ich hab mich wie ein Idiot benommen und irgendwie dachte ich... naja wenn du wütend wirst ist das besser, als wenn du gar keine Emotionen zeigst und einfach nur abwesend in diesem Bett liegst und wie eine Leiche aussiehst.", gestand er und zuckte danach mit den Schultern, ehe er sich nach einer kurzen Pause noch zu mir beugte. "Ich habe die Kleine übrigens nicht angefasst. Hatte Angst, du würdest mir den Kopf abreißen, wenn ich es täte. Du hättest mir sagen sollen, dass du selber ein Auge auf sie geworfen hast." Ich versuchte ein Zähneknischen zu unterdrücken. "Ja, Papa, ab jetzt sage ich es dir jedes Mal wenn ich mein Mädchen toll finde.", murmelte ich in meiner zuckersüßesten Stimme. Mein Bruder nickte mir zu ehe er sich nicht mehr halten konnte und anfing lauthals zu lachen.

Mutter schüttelte nur den Kopf über unser Gespräch und holte dann einen Stauß Blumen aus dem Korb hervor, in dem ich nur weitere Süßigkeiten vermutet hatte. "Meinst du eine Schwester kann uns eine Vase für die Blumen besorgen?", fragte Mutter und hielt verdeutlichend den Strauß mit Winterblumen hoch, die allesamt wunderbar rochen. "Bestimmt! Bleib ruhig sitzen, ich rufe uns eine.", sagte ich und suchte nach dem roten Knopf neben dem Kopfende des Bettes und drückte drauf.




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