Kapitel 18 - Ein Angebot
„Mein Vater hat mich während der Ferien immer in ein Internat geschickt, wo Mädchen gutes Benehmen lernen sollen. Wir waren nur ein paar Mädchen und wir sollten unter anderem Kochen, Lesen und Konversation in guter Gesellschaft lernen. Alles was eine gute Dame wissen muss, um später mal erfolgreich einen Haushalt zu führen. Die Herrin des Hauses, wenn wir sie mal gesehen haben war streng und hat uns nicht erlaubt auf den Gängen zu spielen oder zu rennen. Wenn es nach ihr ging, hätten wir uns gar nicht bewegen sollen.", erzählte Anne flüchtig lächelnd, als hoffte sie, ich würde gar nicht zuhören. „Aber du weißt schon was Urlaub ist? Cola? Meer? Sonne?", fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen und in Falten gelegter Stirn. Anne kicherte verlegen und strich unsichtbare Fussel von ihrem Rock. „Wir hatten unseren Spaß! Gruselgeschichten und Streiche waren uns auch nicht fremd. Und im Sommer kann es auch hier im Norden sehr warm werden." Ich schüttelte den Kopf und musterte Anne zwischen Entsetzen und Mitleid. Natürlich war Urlaub kein Standart, aber irgendwie war es für mich immer normal gewesen in den Süden zu fahren. „Das war alles aber kein Urlaub. Habt ihr denn nie verwandte besucht?", fragte ich murmeltend und sah, wie sie leicht die Lippen verzog und dann den Kopf schüttelte. „Unmöglich. Unsere Verwandten und Freunde leben überall in Europa verteilt seitdem... egal. Wenn du es so nimmst, dann war für richtigen Urlaub, also für Flüge zu Verwandten kein Geld da." Anne wirkte ein wenig geknickt und schaute fort, irgendwohin, wo ich nicht hinsehen konnte. Ihr Blick verdüsterte sich leicht, das sonst so leuchtende, freundliche Grün ihrer Augen wurde um ein paar Nuancen dunkler. Ich biss mir unbeharglich auf die Unterlippe und schüttelte noch einmal den Kopf. Ich ahnte bereits was sie nicht gesagt hatte, was mit ihren anderen Verwandten passiert war, die sich nicht über ganz Europa verteilen konnten... „Aber du hast Urlaub geplant?", fragte ich schnell, um sie schnell wieder auf andere Gedanken zu kriegen. Was ein gutes Thema für mich war, schien ein schlechtes für sie zu sein. Nicht gerade ideal, um ein Gespräch zu führen. Denn planen war zur Zeit das letzte was ich konnte... und wollte.
Sie zuckte mit den Schultern und drehte erneut eine ihrer herausgerutschten Locken um ihren dünnen Finger. Der trübe Blick in ihren Augen blieb zu meiner Sorge. „Wenn ich mit der Ausbildung fertig bin und irgendwann genug Geld gesparrt habe vielleicht. Das liegt aber noch in weiter Ferne und außerdem wüsste ich nicht, wo ich hingehen könnte.", sagte sie bedauernd und ertränkte jede weitere Emotion in ihrem Kaffeebecker. Das hatte ich also von meiner ewig schlechten Laune, die sich momentan wie ein Leichentuch über meinen Verstand legte. Anne war traurig und dachte an Verwandte zurück, die sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde und ich war daran schuld. Nein, sie durfte nicht traurig sein, das war nicht richtig. Also zuckte ich mit den Schultern, diesmal weit trotziger, als ich es vorhatte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann nehm ich dich eben mit in den Süden, wenn ich das nächste Mal da bin.", bot ich ohne Überlegen an und merkte das sich eine leichte Aufregung in meiner Brust breit macht. Ein Gefühl, das ich seit meiner Verletzung... nein, eigentlich schon davor nicht mehr in dieser Form gespürt hatte. Es entfachte ein Licht, dessen Helligkeit gegen die Dunkelheit in meinem Körper kämpftem die mich so gefangen hielt. Es war so ungeahnt stark wie noch kein Gefühl zuvor. Anne wurde schlagartig purpurrot im Gesicht und sah mich wie vom Donner gerührt an, als erwartete sie ein Lachen oder weitere Worte, die mein Angebot entkräften würden, als Scherz enttarnten. Ich wich ihrem Blick jedoch nicht aus und fügte nicht hinzu, um ihr zu zeigen, wie ernst ich mein Angebot meinte. Abwehrend hob sie die Hände und versuchte schwer schluckend ihre Stimme wiederzufinden. „Nein, ich... das wäre nicht richtig, ich... sollte nicht...", haspelte sie fassungslos und räusperte sich mehrere Male, als hätte sie sich verschluckt. Ich sah sie ernst an. „Wenn du sonst noch nie im Urlaub warst, ist das wohl meine Pflicht. Mädchenschule und Verwandte hin oder her.", sagte ich ruhig und ernsthaft und ließ jedes ihrer möglichen Wiederworte ersterben. Anne wurde klein auf ihrem Stuhl und sah mich mit großen Augen an, aus denen so viele Wiedersprüchliche Emotionen sprachen, dass es mich nicht möglich war, in ihnen zu lesen, ob sie sich nun ehrlich freute oder erschrocken war über meinen Vorstoß in ihr Leben. Die Stimme die mir dabei zuflüsterte und mir sagte, ich könnte als Krüppel froh sein, wenn ich überhaupt mal das Haus verlassen konnte ignorierte ich mit eisernem Willen. Anne sollte sich nicht mit meinen Zweifeln rumschlagen müssen oder sich Sorgen machten. Ich wollte ihr eine Freude machen, indem ich es ihr wenigstens in Aussicht stellte einmal dieses Land zu sehen und damit relativ anmaßend in ihr Leben einschritt, dass mich doch eigentlich gar nichts anging. Und wenn es nur eine Aussicht bleiben würde. Denn ich glaubte kaum, dass wir uns nach meiner Entlassung wiedersahen.
„Es tut mir aufrichtig leid, ich wollte dich mit meinem Angebot nicht in Verlegenheit bringen.", sagte ich, als sich die Stille ausdehnte, die meine Worte verursacht hatten. Anne sah auf ihre Hände, die still miteinander rungen und nickte. Ihr Gesicht hatte die Farbe von hellem Wein angenommen und auch der Ausschnitt ihres Dekoltees hatte sich rot verfärbt. „Ich weiß...", sagte sie plötzlich wortkarg. Ich verzog das Gesicht. Alles was ich tat machte es schlimmer, am besten hielt ich meinen Mund, dachte ich in selbstzerstörerischen Verärgern. „Es ist nur... das erste Mal das mir jemand so ein Angebot macht. Das hat mich einfach... überrascht.", fügte Anne zu meinem erstaunen tonlos hinzu. Ich musterte sie, wie sie um jedes ihrer weiteren Worte rang und sah den Kellner mit zwei Stücken Kuchen ankommen. Ohne zu wissen, worum es in unserem Gespräch ging stellte er die Teller ab und legte mir die Rechnung hin. Mit einem Zwinkern ging er wortlos davon. Ich seufzte stumm. „Ich würde sehr gern mit in den Süden kommen... In den Urlaub. Aber nur... wenn das auch wirklich in Ordnung geht. Ich will für niemanden eine Last sein und-" „Alles klar!", unterbracht ich sie im lockeren Tonfall und drückte ihr nachdrücklich eine Kuchengabel in die Hand. Sie blickte auf, als würde sie erst jetzt das Stück Kuchen vor sich bemerken. „N-nein, du versteht nicht, ich-" „Du bist keine Last für irgendjemanden und jetzt iss, ich denke mal deine Pause dauert nicht ewig.", unterbrach ich sie erneut und versuchte möglichst sanft zu klingen. Die wahre Last für meine Familie war ich...
Leicht erschrocken sah sie zur Uhr und stellte anscheinend erleichtert fest, dass sie noch etwas Zeit hatte. Der Kuchen schmeckte fantastisch. Offensichtlich war er frisch gemacht, denn ein Hauch an Restwärme klebte noch immer in seinem Inneren. Ich kam nicht umhing kurz die Augen zu schließen und den Geschmack kurz zu genießen. Wie lange... Es mussten Jahre sein. Ich konnte mich nicht an meinen letzten Kuchen erinnern, doch die Erinnerung an meine Kindheit, die mich mit jedem Biss begleitete, gab mir eine Ahnung wie lange es her war. Und ich genoss es wahrhaftig, den Geruch, den etwas zu süßen Teig und die Fluffigkeit die den Kuchen erst besonders machten. Genießend kauend öffnete ich die Augen und konnte gerade noch Annes amüsierten Blick erkennen, ehe sie ihre Miene glättete und so tat, als hätte sie nichts gesehen. „Eine Frau muss also nur Kuchen backen, um dich zu verführen. Gut zu wissen.", sagte sie wie nebenbei und brachte mich zu einem erstaunten Innehalten. „I-ich meinte... Gut, für die Frau, d-die... dich verführen will.", stotterte sie plötzlich wieder schüchtern, als hätte sie ihre Worte selbst erst eben gehört. Der Rotton in ihren Gesicht wurde dunkler und sie schielte kurz zu mir hoch, um dann sofort wieder auf ihren Kuchen zu sehen. Und ich... ich begann zu lachen...
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