Kapitel 16 - Hübsch
Ich hatte seit dem Traum nicht mehr geschlafen und war dementsprechend absolut fertig, als die Schwestern uns am Morgen wecken wollte um uns zu sagen das wir in ein paar Minuten mit den routinemäßigen Untersuchungen starteten. Immerhin waren bis zu dem Zeitpunkt meine Tränen restlos getrocknet und die Spuren meines schrecklichen Traumes kaum mehr als eine blasse, ungemütliche Erinnerung. Ich hasste es wenn Träume in Erinnerung blieben. Zumal es sich meistens nur um die schlechten Träume handelte.
Luke seufzte schlaftrunken und streckte sich vorsichtig, um sich nicht wehzutun. Dann sah er zu mir rüber und lächelte mit seiner üblichen Freundlichkeit. „Guten Morgen Sonnenschein! Ich hab geschlafen wie ein Baby.", grüßte er mit noch leicht rauer Stimme. Ich erwiderte sein Lächeln nicht sondern massierte mir die Augen, sodass sich die dunklen Schatten darunter wenigstens ein bisschen verzogen. „Du sieht echt scheiße aus. Wo warst du in der Nacht? Man könnte meinen du warst die ganze Nacht lang wach.", bemerkte Luke und setzte sich vorsichtig in seinem Bett auf. Die Haare standen ihm unordentlich vom Kopf ab und die rosige, neue Haut spannte sich an einen Stellen, sodass es für mich unangenehm aussah. Aber Luke schien das nicht zu stören. „Viel habe ich nicht geschlafen.", gab ich widerwillig zu und sah wie Luke mitfühlend die Augenbrauen hochzog. Ich musste schrecklich aussehen, wenn selbst Luke mich ansah wie einen verletzten Vogel. „Immer noch Albträume?", fragte Luke und wuschelte sich mit der Hand über den Kopf, als wüsste er, wie zerwühlt er aussah. Meine Lust mit ihm darüber zu Reden war wie üblich nicht vorhanden. Und doch... Etwas in mir sehnte sich danach die Ereignisse zu erzählen, loszuwerden, sie jemanden auszulasten. Ich nickte langsam auf Lukes Frage. „Hast du keine? Albträume meine ich?", fragte ich zurück. Luke sah erstaunt aus, als hätte er nicht mit der Frage gerechnet. „Doch, natürlich.", sagte er und lächelte freudlos. „Jede Nacht. Aber ich lasse sie Träume sein. Sie haben nichts zu bedeuten und sie können einen nicht verletzen. Deshalb versuche ich sie zu vergessen, sobald ich aufwache." Ich nickte. Natürlich wusste ich das Träume nicht real waren. Hielt Luke mich für blöd? Schließlich war ich kein kleines Kind mehr. „Vergiss ihn einfach.", murmelte Luke während er ausgiebig gähnte. Er sah zufrieden aus, als er sich vorsichtig herumwälzte und das Gespräch damit beendete.
Die Morgenschwester kam heute etwas später und war grimmiger drauf als sonst. Wortkarg machten sie ihren Job, maß unsere Vitalwerte, ehe ein Arzt Verbände wechselte und uns fragte wie wir uns fühlten. Ich log mein Wohlbefinden vor und versuchte mich sogar an einem schmalen Lächeln. Offenbar gelang es gut genug, dass Arzt und Schwester getäuscht wurden.
Wenig später kam Lukes Freundin vorbei und holte ihn ab. So betrachtet war sie attraktive, junge Frau die viel lachte. Ich wusste sofort warum Luke so besessen von ihr war. Vor den Verbrennungen muss auch Luke ein attraktiver Mann gewesen sein. Nach einem kurzen, sehr emotionalen Wiedersehen nahm sie ihn für einen Spaziergang mit. Seine Bewegungen waren nicht sehr geschmeidig und wirkten schmerzhaft, obwohl er sich das nicht anmerken ließ, aber immerhin ging er und hatte sich dem Rollstuhl entsagt. Es erweckte eine so tiefe Eifersucht in mir, dass ich mich angestrengt von dem Gedanken anörnken musste was Luke konnte und ich nicht.
Tatsächlich lief es darauf hinaus das ich die Uhr über der Tür anstarrte und die Zeit abwartete. Mir fiel nichts anderes ein was ich tun konnte und ich merkte wie sich in meiner Magengegend ein Gefühl von Aufregung breit machte. Als wäre ich ein kleiner Junge der sich das erste Mal mit einem Mädchen trifft. Vollkommen daneben. Aber immerhin konnte ich zu genaues Nachdenken über das Treffen verdrängen. Es würde nicht mehr als gestern sein, vielleicht sogar weniger und Anne würde auffallen das ich unglaublich uninteressant und dazu noch eine schlechte Partie abgab. An die reichen jungen Ärzte musste sie sich wenden, oder was nicht gerade unglaublich angesagt war auf dem Heiratsmarkt...
Ich schüttelte vehement den Kopf und zog den Rollstuhl zu mir ran, ehe ich mich eher weniger als mehr geschickt aus dem Bett zog und hineinsetzte. Meine zuvor gut trainierter Körper fühlte sich wie Pudding an und ich versuchte gar nicht erst daran zu denken, wie kraftlos ich in den letzten Wochen geworden war. Insgesamt fühlte ich mich hilflos und bei jeder noch so kleinen Anstrengung zitterten meine Muskeln, so, als wären meine Erinnerungen an tagelange Gewaltmärsche, Kraft- und Ausdauertraining während der Army eine Lüge. Als hätte ich mir das alles nur eingebildet, einen langen, schrecklichen Traum gehabt aus dem ich nun endlich erwacht war.
Ich rollte ins Badezimmer, um später sagen zu können, dass ich mich wenigstens ein bisschen bemüht hatte und bog den verstellbaren Spiegel so, dass ich mich sehen konnte. Doch alles was ich sah war eine wandelnde Leiche die keine Ähnlichkeit mit mir hatte. Dunkle Schatten unter den ohnehin schon müden, glanzlosen Augen und ungesund blasse Haut, die sich über abgemerkte Wangenknochen spannte. Das braune Haar, das mal voll und leicht lockig gewesen war hin jetzt schlaff und stumpf an meinem Kopf runter. Alles in allem ein Bild des absoluten Grauens und doch Spiegel meines Inneren. Ich kniff die Lippen zusammen und diese Schreckesgestalt im Spiegel tat es mir gleich. Nein, das war ich nicht! Die Unmöglichkeit dieses Gedankens waberte in meinen Gedanken als ich Wasser ins Waschbecken laufen ließ und es mir ins Gesicht spritzte mit der Hoffnung, es würde mich irgendwie beleben... Das tat es nicht. Es war kalt und lief mir am Kinn runter in das dünne Krankenhaushemd. Mit nasser Hand strich ich durch mein dünnes Haar und versuchte es einigermaßen in Form zu kriegen. Das musste reichen. In mein Spiegelbild sah ich kein weiteres Mal, es würde sowieso nichts wesentliches besseres für mich bereit halten.
Kurz dachte ich darüber nach meine Klamotten zu wechseln, damit ich nicht mit nacktem Hintern durch die Gegend kutschiert wurde, aber eigentlich war es mir egal. Sollten die Leute doch denken was sie wollten, ich hatte ja eh nichts mehr zu verlieren. Alles war wie eh und je bedeutungslos, ja auch irgendwie uninteressant geworden. Wie sich die Menschen auf die Jagd nach einem Partner machten, sich aufbretzelten und flirteten. Ich hatte auch mal dazu gehört. Irgendwann mal, als ich meine erste Jugendliebe nach Hause schleppte und wir unser unbeholfenes erstes Mal hatten. Alles schien in einem anderen Leben passiert zu sein. Wo ich jung, attraktiv und hoffnungsvoll - man kann es auch naiv nennen - war. Ein Leben das jetzt genauso unreal schien wie der letzte Traum den ich hatte.
Und während ich so vor mich hinvegetierte, nach draußen schaute und nicht wusste was ich machen sollte um diesen Alptraum den ich mein Leben nannte zu beenden näherte sich die Uhr der Eins. Anne musste mich aus meiner völligen Abwesenheit rütteln, damit ich wieder zu mir kam. Ein Traum... vielleicht? Im Nachhinein war ich mir absolut nicht sicher. „Alles in Ordnung? Vielleicht sollten wir das Treffen lieber lassen, wenn es... dir nicht gut geht.", meinte Anne verständnisvoll und ich schüttelte stur den Kopf. Wenn ich hier auf dem Zimmer blieb würde mich das nur noch mehr deprimieren. Außerdem wäre ein kleiner Teil in mir wirklich enttäuscht nicht mit ihr zu gehen. „Alles gut, ich war nur ein bisschen in Gedanken. Wir können los.", schob ich eilig nach und versuchte ein Lächeln. Meine Güte nach dem, was ich da im Spiegel gesehen hatte verstand ich noch viel weniger warum Anne sich unbedingt mit mir treffen wollte. Sie war jung, hübsch und eine liebe Seele die so gut wie jeden Mann haben konnte. Vielleicht noch ein oder zwei Jahre und die Kerle würden ihr hinterher retten wie Hunde. Aber natürlich wusste sie das noch nicht. Wenn ihre Mutter klug war, hatte sie Anne nichts davon erzählt. Mädchen in diesem Alter neigten dazu auszubrechen und sich irgendeiner Hippie-Gruppe anzuschließen bis sie zehn Jahre später endlich mal aus ihrem Rausch aufwachen und was mit ihrem Leben anfangen wollten. Eine rebellische Zeit, die... ja natürlich. Ich war wahrscheinlich genau das Gegenteil von einer guten Partie, kein typischer Schwiegersohn den sich jede Mutter wünschte. Und deshalb fand Anne mich interessant. Sie rebellierte. Egal wie schrecklich ich in dem Moment aussah, es gab ihr Bestätigung etwas verbotenes zu tun, etwas, was sie eigentlich sonst nicht getan hätte.
„... Hast du verstanden?", fragte sie vorsichtig, als wäre ich schwer von Begriff. Ich hatte nicht zugehört. „Was?", fragte ich uncharmant und sah wie sie verlegen lachte. „Ich würde gern in das kleine Café gehen. Es ist auf dem Gelände also nicht weit weg. Dazu musst du dir aber was anziehen.", wiederholte sie knapp und ich wusste das sie vorhin viel mehr gesagt haben musste. Verdammt. Ich nickte. „Anziehen... Okay, warum nicht. Ich denke meine Familie hat einige Sachen mitgebracht.", überlegte ich träge und rollte zu dem Schrank aus weiß lackiertem Metall. Anne folgte mir.
In dem Schrank befand sich erstaunlich viel von meinen Sachen, die ich früher als meine Lieblingsstücke bezeichnet hätte. Heute suchte ich wahllos eines der Shirts raus und zog mit das dunkelgraue Ding mit dem Bandaufdruck von ACDC über, nachdem Anne die Knoten auf meinem Rücken gelöst hatte, mit denen mein Krankenhaushemd zusammengehalten wurde. Der Stoff roch gut. Nach Waschmittel und Mottenkugeln. Nach Zuhause... Sofort hatte ich das kleine Haus am Rande in Erinnerung in dem wir für die ersten Jahre gewohnt hatten, ehe wir in eine Wohnung nahe dem Zentrum gezogen waren. An Sommer in einem blühenden Garten und wie mein Bruder und ich fangen gespielt haben und ich seinen Schatten durch die Larken der Wäsche gesehen hatte.
Ich schüttelte die Erinnerungen ab ehe ich einen emotionalen Zusammenbruch erlitt, denn die Tränen sammelten sich bereits in meinen Augen. Gefasst blinzelte ich die weg und zog eine weiche, abgetragene Jeans aus dem Schrank, die ich mit überzog. Anne bit mir zwar ihre Hilfe dabei an, aber ich fühlte mich gerade stark genug das allein zu schaffen. Die untere Hälfte der Hose blieb leer und schlaff. Anne machte einen Knoten auf jeder Seite, sodass ich mehr Widerstand spürte und es mir die Illusion einer Passgenauen Jeans gab. Es fühlte sich tatsächlich besser an, auch wenn ich einen zu genauen Blick auf die Stummel vermied.
Dann war ich fertig für das Frühstück und dem ersten Mal in der Öffentlichkeit seit meinem... Unfall.
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Hey,
Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen. Diesmal mit Überlänge, um die letzte, leider ausgefallene Woche zu kompensieren.
Mögliche Rechtschreibfehler werden noch korrigiert.
Ich feier jetzt erstmal meinen Geburtstag ^^
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