Kapitel 15 - Der Wechseltraum

Da war Anne. In ihrem Schwesternkittel, die braunen Locken ordentlich hochgesteckt, wie es jede Schwester trug und den grünen Augen die so lebensfrohe schimmerten. Sie lächelte mich an, streckte mir ihren schmale Hand entgegen bei der ich mich einmal mehr wunderte, wie so eine kleine Hand so schwere Krankenhaus-Arbeit bewältigen konnte. Sie war wie ein rettender, strahlender Lichtblick in der Dunkelheit. Oder vielleicht erschien es mir nur so, weil sie das einzige dort war, in diesem Chaos aus wechselnden Orten, Bildern, Taten, Gefühlen. Sie blieb.

Ich bemerkte das ich in meinem unbequemen Rollstuhl saß. Alles fühlte sich wie gewohnt an. Die Lehne drückte in meinem Rücken, der ungepolsterte Sitz ließ meinen Hintern langsam einschlafen und die Armlehnen waren viel zu tief. Nicht gut, aber auch nicht zu schlecht, dass ich es nicht ertrug. Und Anne. Sie stand einfach da, lächelte einladend und schien nur darauf zu warten das ich zu ihr kam. Ihre Pose hatte sich nicht verändert. Kurz entschlossen erwiderte ich ihr Lächeln und wollte ihr entgegen fahren, aber die Räder meines Rollstuhls wollten sich nicht bewegen. Sie blieben stur wo sie waren, als hätte sie jemand festgeklebt. Verärgert versuchte ich es weiter und weiter, denn... was blieb mir auch anderes übrig. Neue Hilflosigkeit wollte sich wieder in mir breit machen, ich spürte wie sie steinern und eisig gegen meine Brust drückte. „Dann steh doch einfach auf.", hörte ich Anne sagen, als sei es nicht besonders. Als sei es das normalste auf der Welt und ich einfach zu blöd, um es zu verstehen. Ich schüttelte energisch den Kopf und wollte sie gerade daran erinnern, dass Aufstehen für mich ja jetzt unmöglich war, da streiften meine Augen meine Beine. Gesund und kräftig, als wäre nie irgendwas gewesen. Ich konnte sogar mit den Zehen wackeln.

Erstaunt lachte ich auf. Ich lachte einfach, obwohl es sich fremdartig in meinen Ohren anhörte, so lange hatte ich nicht mehr wirklich und aus purer Freude gelacht. Das größte Glück der Welt durchflutete meinen Körper wie heißer Alkohol an Wintertagen. Sofort wollte ich aufstehen, auf den Rollstuhl hinabschauen und ihn treten, ihn zerstören, denn jetzt hatte er keine Macht mehr über mich. Es kribbelte mir in jeder Zelle meines Körpers das zu tun, die plötzlich Anspannung war unerträglich. Ich setzte rasch die Füße auf die kalten Krankenhausfliesen, stieß mich mit Mühe vom Rollstuhl ab und... stand. Es tat so unglaublich gut, dass mir die Tränen in die Augen schossen, während ich nicht aufhören konnte zu strahlen und zu lachen. Jetzt würde wieder alles gut werden, alles war in Ordnung. Ich schloss dir Augen und drehte mich wie ein Kind im Regen. Das Gefühl zu stehen und meine Beine zu bewegen überwältigte mich.

Nachdem ich das einen Moment lang gemacht hatte blinzelte ich, doch vor mir lag kein Chaos aus alptraumhaften Bildern und Momenten des Schreckens. Auch Anne war wie durch ein Wunder verschwunden. Vor mir lag das Lager meiner ehemaligen Truppe. Mitten im Dchungel von Vietnam. So grün in die abgeholzten Palmen und die Vegetation gebettet wie es niemals in Wirklichkeit gewesen war. Es hatte sogar eine groteske Schönheit, das alles noch einmal zu sehen. Die erloschenen Feuerstellen, die nun stumm gen Himmel rauchten, die am Zeltdach baumelnden Stiefel oder die zum trocknen ausgelegten Klamotten. Alles war so detailliert. Nur eines kam mir sofort seltsam vor. Es war still. Keine Gespräche, kein Geklapper, keine Schritte nicht einmal die normalen Urwaldgeräusche von fremdartigen Vögeln und kleinen Tieren die sich im Unterholz regten. Dann bemerkte ich erst das es Nacht war. Und alle schliefen. Wirklich alle? Nein... ich war wach. Ich hatte Wache...

Fasziniert und gleichzeitig unglaublich erschrocken wanderte ich durch das Lager. Die Nachtluft war warm und feucht, schlecht zum schlafen, aber auch nicht gut zum wach bleiben. Ein plötzliches Gefühl von Heimweh - nicht nach Boston sondern zurück zu diesem Lager - flammte in meiner Magengegend auf, obwohl ich mit diesen Ort kaum eine gute Erinnerung verband. Verletzungen, Schmerz, sterbende Kameraden und der durchdringende Geruch nach Blut, das an der Kleidung klebt und nicht trocknen möchte bei den Temperaturen. Ich mochte diesen Ort nicht. Wenn ich ganz ehrlich war verabscheute ich ihn. Stockholm-Syndrom nur mit einem Ort statt einer Person? Ich bezweifelte nicht, dass sowas nicht möglich war.

„Derren?", fragte da ganz unerwartet eine zarte Stimme durch den Nebel der Stille. Ich erschrak als ich Anne dort am Boden liegend erkannte. Sie war verletzt, der ansonsten seltsam sauber wirkende Schwesternkittel färbte langsam rot.

Es dauerte einige Schrecksekunden bis ich mich zu ihr stürzte und meine Hand auf die blutende Bauchwunde presste, als könnte das in irgendeiner Weise helfen. Ein Schuss. Sie war getroffen. SIE! Warum war sie denn überhaupt hier? „Derren, was passiert jetzt?", fragte sie mit angsterfüllt Stimme. Sie sah mich an, offensichtlich voller Angst was diese Wunde bedeutete. Wie ein Kind, dass nie gelernt hatte, was eine Wunde dieser Art bedeutete. Ich schluckte hart, um meine eigene Angst zu verdrängen. Mir war eiskalt, trotz der Wärme der Luft. Mein Herz hämmerte in meiner Kehle. „Wir müssen ins nächste Lazarett.", meinte ich heiser, hob sie mühelos hoch und ging, rannte beinahe durch dunkelgrünes Unterholz ohne noch eine Sekunde länger zu warten. Anne stöhnte leise und wurde von Sekunde zu Sekunde kraftloser in meinen Armen, während das Blut nun beinahe ihren ganzen Kittel besudelt hatte. Mein Herz raste, der Schweiß lief mir an den Schläfen ins Gesicht, doch ich hatte keine Hand frei um es wegzuwischen. Mein Körper schien zu vibrieren vor Angst und Adrenalin, während mein Blick sich trotz der Dunkelheit um mich herum schärfte.

Ein plötzlicher Schusswechsel ließ mich stoppen und mich ins nächste Gebüsch springen. Die Schüsse aus voll automatischen Maschinengewehren verhallten in der Stille. Anne machte kein Mucks mehr unter mir, wobei ich versuchte mein Gewicht so zu verlagern, dass ich mich nicht auf sie legte.

Angespannt lauschte ich nach Schritten, weiteren Schüssen oder Stimmen in der Ferne, da traf mich die Erkenntnis des Déja-vu wie eine Eisenfaust. Ich wusste was als nächstes passiert. Diese Situation hatte ich so ähnlich schon viele Male geträumt und immer endete es gleich. Die Explosion. Ein unmittelbares Ende dem ich und Anne uns näherten. Ihre Anwesenheit steigerten die Macht der Panik, die in mir aufstieg bis zum höchsten.

Wir mussten hier weg! Das Schicksal verändern, wenn ich doch wusste was geschehen würde. Doch gerade, als ich aufstehen wollte, um Anne zu packen und wegzulaufen, ging meine Welt in Flammen und Schmerz auf.

Ich erwachte schweißgebadet mitten in der Dunkelheit des Krankenzimmers. Mein Herz hämmerte wie ein Presslufthammer in meiner Brust und ich zitterte am ganzen Leib. Aufgewühlt starrte ich an die Decke und lauschte Lukes gleichmäßigen Atemzügen, um mich wieder etwas zu fangen. Kampfhaft schluckte ich mehrere Male, versuchte den Tränen Einhalt zu gebieten und begann schließlich in der Schwärze des Zimmers stumm zu weinen...

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