Kapitel 3 - Ein trauriges Abendessen
Der Kühlschrank war leer. Jedenfalls soweit ich das erkennen konnte. Außer einem eingefrorenen halben Brotlaib, ein Stück Butter und sämtliche, halbleere Säfte befand sich vor mir kalte, gähnende Leere. Nicht, dass ich mich ohnehin fühlte, als würde die Welt um mich herum schwanken und ich schon als ich am Kühlschrank ankam meine Idee mit dem Abendessen bereute. Ich sollte mich doch ausruhen und nicht anfangen so zu tun als wäre das ein ganz normales Treffen. Vielleicht hatte mich die Erkenntnis, dass ich Julie seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte aber auch so erschrocken, dass ich dem Gefühl entgegenwirken wollte, etwas verpasst zu haben. Was ich getan hatte. Ich hatte verpasst wie sie die Schule beendet, wie sie zur Uni ging, wie sie auszog, wie sie zu einer eigenständigen jungen Frau wurde, die ich nicht mal mehr erkannte. Ja, ich erkannte meine eigene Familie nicht mehr. Eine Erkenntnis, die mich so hart traf wie die Schläge am Tag zuvor.
Ich seufzte, schloss die Kühlschranktür und suchte in den Schränken über der kurzen Ablagefläche weiter nach etwas brauchbarerem. Doch auch in diesen Schränken erwartete mich gähnende Leere. Alles was ich fand, war eine angebrochene Nudelpackung, eine keimende Kartoffel in der hintersten Ecke und ein Glas mit Würstchen. Langsam machte ich mir Sorgen von was sich Julie hier überhaupt ernährte. Wenn ich wieder einigermaßen auf den Beinen war musste ich sie unbedingt darauf ansprechen. Kurz entschlossen nahm ich die Würstchen und einen Topf von einem Harken an der Wand. Das Brot nahm ich zum tauen aus dem Kühlschrank, wobei ich hinter einem Orangensaft eine bisher ungeöffnete Flasche ganz hinten im Fach fand. Himbeerschnaps. Und die Marke war nicht billig. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Julie soetwas bei sich hatte. So weit ich mich erinnerte, wollte sie zu Weihnachten nicht mal einen Sekt oder ein Bier trinken, und dann sowas hochprozentiges? Ungewöhnlich, wie ich fand, vielleicht ein Geschenk von Freunden. Jedenfalls wäre das die eheste Erklärung für mich. Nach kurzem Überlegen holte ich also auch die Flasche heraus und stellte sie neben das Brot auf die Arbeitsfläche. Eher für mich als für Julie, denn ich merkte die schleichende Unruhe, die mich immer überkam wenn ich nüchtern wurde. Es würde zwar kein Festmahl werden, aber immerhin war es nahe genug dran Abendessen genannt zu werden. Man würde sehen, dass ich mein bestes getan hatte, also würde es reichen.
Ich hatte die Würstchen gerade in den Topf mit dem mittlerweile kochenden Wasser gegeben, die Tischlampe auf dem improvisierten Tisch gegenüber angeknipst, als ein Schlüssel klimperte und sich das Türschloss herumdrehte. Julie kam zur Tür rein, müde und irgendwie abgeschlagen, ehe sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig änderte und sie mich verwundert an der Küchenzeile stehen sah. „Was machst du denn noch hier? Ich hab dir doch gesagt, dass du gehen kannst, wenn es dir besser geht.", meinte Julie irritiert, ließ ihre Tasche mit den Büchern und Heften zu Boden gleiten und begann Schuhe und Jacke auszuziehen. „Es geht mir aber noch nicht besser. Ein armer, alter Mann wie ich braucht etwas länger um sich zu erholen oder willst du mich so dringend loswerden?", witzelte ich schwach. Ich war froh meine Stimme endlich wiedergefunden zu haben, das machte die Kommunikation um einiges leichter. Doch Julie überging meine Gegenfrage komplett. Sie blieb ernst, zog eine grüne Strichjacke über und kam zu mir an die Küchenzeile. „Was machst du?", fragte Julie etwas misstrauisch und schaute um mich herum, welch edle Kostbarkeiten ich hier verarbeitete. Als würde ich hier Crack oder sowas kochen und sie müsste mich aufhalten. Dieses Misstrauen war auch wieder ein Detail, das mich erschreckte. „Abendessen", antwortete ich schlicht und lächelte. Ich wünschte ich hätte ihr Gesicht deutlicher sehen können, ob sie ebenfalls lächelte oder eine Grimasse zog. Ob sie sich freute oder schlecht drauf war. Dann hätte ich mit einem auflockernden Spruch reagieren können. Hoffentlich war meine Sicht nicht dauerhaft geschädigt, denn langsam machte ich mir etwas Sorgen. Vielleicht musste ich meinem Körper aber auch einfach nur etwas Zeit geben, mein Gesicht war noch vor ein paar Stunden vollkommen zugeschwollen gewesen. Schließlich stieß sie die Luft in einem halben erschöpften Lachen aus. „Aww... das hättest du doch nicht machen müssen. Ich habe schon in der Kantine gegessen. Aber danke, dass du dir die Mühe gemacht hast.", sagte sie entschuldigend lächelnd und drehte sich zum Kühlschrank, um sich einen der Säfte herauszuholen. Ich biss mir auf die Zunge und versuchte mein Lächeln noch breiter werden zu lassen. „Ich habe ja auch nicht sagt, dass du was abbekommst." Es war eine lahmer Spruch, der meine Enttäuschung über ihre Ablehnung kaum überspielte. Es war natürlich lächerlich darüber enttäuscht zu sein, aber tief in meiner Brust hatte ich gehofft, so noch einen gemeinsamen Moment mit Julie zu verbringen. Verpasste Zeit nachholen, die ich nicht nur mit ihr, sondern mit meiner gesamten Familie gebraucht hätte. Sie öffnete den Verschluss der Flasche und fuhr sich dann mit der Hand durchs Haar, ehe sie einen Schluck von dem Saft trank. Sie schwieg, erwiderte nichts auf meine Worte. Sie wirkte nachdenklich, und ich nahm mir nicht das Recht sie dabei zu unterbrechen. Umso länger ich sie ansah, desto bewusster wurde mir, dass es sinnlos war, zu versuchen Zeit nachzuholen. Ich hatte das wichtigste bereits verpasst, hatte den Anschluss an das ‚Jetzt' verloren und hing mit meinen Gedanken immer noch in einer Zeit, die schon Jahre her war. Ich war zu spät. Julie war beinahe erwachsen, Studentin, und wir waren uns mittlerweile fast genauso fremd, wie vor dem Tag, an dem sie vor meiner Haustür stand.
Tief durchatmend unterdrückte ich einen weiteren Seufzer und den inneren Schmerz in meiner Brust den dieser Gedanke auslöste. Schweigend griff ich zu der Flasche mit Himbeerschnaps neben mir. Ich hatte die Flasche angesetzt, kein Glas rausgeholt und trank einige Schlucke von dem viel zu süßen Schnaps. Es war einer dieser Popalks. Süß, fruchtig und den Alkohol konnte man nicht rausschmecken. Nicht unbedingt das, was ich bevorzugte, ich mochte es, wenn ich spürte das ich Alkohol trank. Julie wandte langsam den Kopf und sah mich durchdringend an. Ich lächelte über die Flasche hinweg, als ich sie absetzte. Sie erwiderte mein Lächeln nicht, wirkte skeptisch, schien die Situation zu analysieren. Ihr Blick wanderte von der Flasche zu meinen Augen und zurück. Sie brauchte einen Moment, dann wurde ihr Gesicht hart und kühl. Sie wandte den Blick ab und trank einen Schluck vom Saft. Sie biss sich auf die Oberlippe, schnaubte leise in Gedanken und schüttelte den Kopf, den Blick gegen den Kühlschrank gerichtet. Ich war irritiert, war mir nicht sicher, was diese Reaktion bedeuten sollte. Eigentlich hätte ich sie fragen müssen, ein Gespräch beginnen, dass ihr mein Handeln vielleicht erklärte, aber ich schaffte es nicht was zu sagen. Meine Kehle war in der plötzlichen Kälte des Schweigens im Raum wie zugeschnürt. Im späteren Verlauf des Gesprächs bereute ich, sie nicht nach ihren Gedanken gefragt zu haben.
Als sie wieder zu mir sah war ihr Blick schwer, ihre Augen dunkel und unglücklich. „Du hast gestern auch was getrunken.", teilte sie mir ihre Feststellung mit belegter Stimme mit. Mein Lächeln wurde etwas kleiner. Da war kein Grund für mich es geheim zu halten, es war schließlich nicht der erste Abend gewesen, an dem ich betrunken war. „Ja, stimmt." Julie nickte, als hätte das ihre Vermutung bestätigt. Ihr Blick wurde noch ein Stück schwerer, sank zu Boden und verweilte an einem Punkt, an den ich nicht folgen konnte. „Kannst du dich denn daran erinnern, dass ich dich von der Straße geholt habe?", fragte sie im gleichbleibenden Tonfall. Ich stellte den Himbeerschnaps langsam ab und schluckte halbwegs betroffen. Nein... „Natürlich! Ich bin froh das du da warst, sonst hätte das echt übel geendet, fürchte ich." Ich log. Nur ein weiteres mal in meinem Leben. „Mhm... Und was hatte ich gestern an?", fragte sie weiter. Mein Lächeln schwand erschöpft dahin und ich verengte die Augen. Was wollte Julie von mir hören? Eine Entschuldigung? Für was? „Julie was soll das hier? Ja, ich habe gestern getrunken. Und das war - Überraschung - nicht mein erstes Mal. Ich bin ein erwachsener Mann, der sich nicht dafür rechtfertigen muss. Und schon gar nicht vor dir, meine Kleine. Es hilft mir mich zu entspannen. Ist das in deinen Augen schlecht?", fragte ich um einen leichten Tonfall bemüht, der möglichst keinen Streit provozieren sollte. Leider ging er daneben. Julie schüttelte erneut den Kopf und lachte leise zischend auf. „Schlecht. Nein, es ist nicht schlecht, es sei denn, man schießt sich so gründlich ab, dass man einen Baum nicht mehr von einer Laterne unterscheiden kann. Und dann hat am nächsten Morgen keine Ahnung mehr was man getan hat. DAS ist schlimm.", sagte sie und betonte die Worte als wäre ich schwer von Begriff. Ich rollte mit den Augen und lehnte mich mit verschränkte Armen an die Theke. „So schlimm war es nicht. Denn so ist es ja nicht, ich weiß was ich gestern getan hab, also entspann dich Julie. Ich kenne meine Grenzen." Julie hatte doch selbst gesagt, dass es sie nichts anging, was sollte das hier also? Nicht, dass ich ihr mein Leben verheimlichen wollte, aber ihre plötzlicher Sinneswandel verwirrte mich. Oder hatte ich gestern etwas getan an das ich mich wirklich nicht mehr erinnerte? Irgendwas dummes, weshalb sie jetzt sauer war? „Achso, na klar, dann sag mir doch was ich anhatte, was ich gesagt habe.", beharrte sie weiter stellte die leere Saftflasche ab und verschränkte nun ebenfalls die Arme. Ich wusste nicht was sie hören wollte. Ernsthaft sprachlos sah ich sie an, langsam durchaus genervt von diesem Gespräch. „Du weißt es nicht mehr, stimmt's? Du kannst dich an nichts mehr erinnern. Nicht daran, was ich gesagt oder getan habe oder wie ich meinen Freund dazu überredet habe dich in meine Wohnung zu tragen, nachdem er dich freundlicherweise mit seinem Auto mitgenommen hat? Du war vollkommen weggetreten, hast keinen geraden Satz mehr herausbekommen und fragst mich jetzt allen ernstes was das hier soll? Du hattest eine Fahne bis hundert Meter gegen den Wind und konntest nicht mehr gerade stehen und du sagst du kennst deine Grenzen?", warf sie mir in einer Mischung aus Wut und Enttäuschung entgegen. Ich zog die Augenbrauen hoch und legte meine Stirn in Falten. Okay, es störte sie also grundsätzlich, dass ich getrunken hatte?„Wow wow wow, Kleine! Erwachsene trinken eben manchmal zu viel, das ist nichts ungewöhnliches. Ich mach kein Geheimnis draus, ich war gestern Abend betrunken und das hat dir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Aber es ist alles gut, ich kenne mich und meine Grenzen, du musst keine Angst haben. Das wirst du auch verstehen, wenn du älter bist. Und jetzt sei ein braves Mädchen und-" „Ich bin kein Kind mehr, Stefan!", unterbrach sie mich aufgebracht. „Ich bin 19 Jahre alt und kein ahnungsloses Dummchen, dass denkt die Welt besteht aus rosa Zucker und Einhörnern. Also spar dir dein ‚wenn du älter bist'. Ich mache mir nur Sorgen um dich, denn das was ich gestern gesehen habe, werde ich ganz sicher nicht einfach so wieder vergessen. Ich weiß wo wir waren und zu welcher Uhrzeit und was für Typen sich da herumtreiben. Und dann finde ich dich da, nachdem ich jahrelang nichts von dir gehört habe." Nun war ich es, der nicht verstehend den Kopf schüttelte. „Und was möchtest du mir damit sagen? Hältst du mich jetzt etwa für einen Kriminellen, nen Alkoholiker? Oder was willst du mir vorwerfen? Ich glaube nicht, dass du in der Lage bist zu beurteilen was du da gesehen hast. Denn eines wird mir gerade ganz gewaltig bewusst. Du kennst mich nicht!", schrie ich das letzte wütend und dann war Stille. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Es passte nicht zu mir zu schreien, dass hatte ich noch nie besonders oft gemacht. Und das ich es jetzt tat, überraschte und erschreckte mich beinahe genauso sehr wie das, was ich gesagt hatte. Julie sah mich einfach nur an, traurig, enttäuscht, wütend. Ich biss mir auf die Zunge, nahm den Schnaps etwas zu heftig von der Theke, schraubte die Flasche auf und trank einige tiefe Schlucke, ehe Julie urplötzlich sie mir von den Lippen riss. „Sag mal gehts noch? Hör auf!", rief sie wütend. Ich knurrte. „Wer bist du, dass du mir das verbieten willst, Kleine?" Die Flasche landete in einem Scherbenregen und mit all der Dramatik, die sie aufbringen konnte auf dem Boden. Lautes Klirren, ein Platschen und dann erfüllte Stille den Raum. Atemzug um Atemzug, die Minuten verstrichen. Ich war wie erstarrt, wie eingefroren in der Zeit. Was zum Teufel tat ich denn hier? Aber gerade als ich meinen Blick mühsam von den Scherben hob, um Julie anzusehen, war es zu spät. Sie drehte sich wirbelnd um, zog sich hastig die Schuhe an und flüchtete zu Tür. Mein erschrockenes ‚Warte!' konnte sie schon nicht mehr hören, da knallte sie die Haustür schon hinter sich zu und ließ mich allein, vor einem zerbrochenen Scherbenhaufen zurück.
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