Krieg ist kein Ort für Gefühle


"Wie laufen die Ermittlungen, kleiner Bruder?"

Nachdenklich stocherte Sherlock in seinem Essen herum, während sein großer Bruder versuchte Konversation zu führen.

Mycroft seufzte. "Du solltest wirklich etwas essen, Sherlock. Wenn die Schlacht erst beginnt wirst du keine Zeit dazu haben."

Noch immer keine Reaktion.

"Du kannst mit mir reden. Ich kann dich verstehen."

Jetzt lachte der Lockenkopf auf. "Wann hast du mich schon einmal verstanden?"

Überrascht davon, hatte der ältere Holmes erst einmal keine Antwort.

"Als ich nicht mit den anderen Kindern klar kam, als ich nicht in das Camp wollte, als ich nicht aufs Collage gehen wollte, als ich Chemie studieren wollte, als ich nicht in die Regierung wollte - wann hast du mich da jemals verstanden?" Die Gabel fiel klirrend neben den Teller mit kalt gewordenem Gemüse. Sherlock stand grimmig auf und stützte sich am Tisch ab, seinem Bruder in die Augen sehend. "Du verstehst es nicht einmal jetzt, dass ich nicht hier sein will, um im Namen unseres Landes zu kämpfen." Mit einem letzten Schnauben drehte er sich um und verließ das Generalszelt.

Kühle Abendluft schlug ihm entgegen, als die Stoffwände hinter ihm zu fielen. Der junge Mann sah sich um. Einige Männer, von seinem Alter bis ein paar Jahrzehnte darüber und Jahre darunter, liefen herum, trugen Waffen, Nahrung oder Planen. Die anfängliche Euphorie der jungen Soldaten war zwar noch größtenteils erhalten, aber das tägliche Training, die aufkommende Langeweile und gleichzeitig die Angst vor den kommenden Schlachten, sorgten für eine unruhige Stimme.

Auf dem Weg zu den Lagerräumen ging Sherlock an der Sanitärstation vorbei. Außer ein paar Krankheitsfällen war es leer und friedlich hier. Die letzten Soldaten waren gestern angekommen, und einige litten noch unter Seekrankheit.

Es dauerte nicht lange bis er den nussbraunen Knoten Haare erkannte, der in einer sonderbaren Flechtfrisur auf dem Kopf der jungen Frau gehalten wurde.

"Hallo Sherlock! Du hast mich erschreckt!" rief sie fröhlich grinsend auf, als sie den großen Jungen hinter sich bemerkte. Doch Sherlock kam gleich zum Punkt. "Wie geht es ihm?"

Molly strich sich eine Strähne unter das weiße Haarband und sah verlegen auf den Boden. "Gut. Er ist fast wieder auf den Beinen. Die Wunde heilt schnell."

Sherlock nickte dankbar und wand sich zum Gehen, als ihn Mollys zierliche Hände zurückhielten. Doch ihr Griff in seinem Arm war leicht krampfhaft. "Wieso helfen wir ihm?"

Er wollte ihr nicht in das zweifenlde Gesicht lügen, aber wie konnte er die Wahrheit sagen und seine Stellung halten? Hier war kein Platz für Gefühle. "Wir brauchen Informationen." antwortete er kalt. "Die bekommt man nicht von Toten."


Der Blonde saß mit hängendem Kopf auf dem Hocker, der Rücken gebeugt, die Atmung gleichmäßig und knapp. Sherlock näherte sich seinem Gefangenen vorsichtig. Nach letzter Nacht war Sherlock einfach verschwunden. Er hatte John in seinen Schuldgefühlen baden lassen.

Vorsichtig hob er das bleiche Gesicht mit einer Hand nach oben, sodass er die gräuliche Haut, die grünlichen Verfärbungen um die dunklen Augenringe und den schmalen trockenen Mund betrachten konnte. Er hatte offensichtlich einiges an Nährstoffmängeln - aber wie sollte es auch anders sein. Plötzlich schlug John die Augen auf.

Himmelblau leuchtete es Sherlock entgegen, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte. In diesem Moment verschwanden all seine Hassgedanken, all seine Rachewünsche, all seine Trauer und Wut auf diesen wunderbaren Jungen.

Früher hatte er nicht begriffen, was Gefühle waren, was Emotionen waren. Und noch jetzt war er überrascht, wie gut er sich in der Anwesenheit von John Watson fühlte.

Schnell zuckte Sherlock zurück. Er zog sich den Stuhl von letzter Nacht heran und setzte sich mit verschränkten Armen.

Eine seltsame Stille entstand, in der John wohl die Berührung von gerade eben verarbeitete - dem irritierten Gesichtsausdruck nach zu urteilen.

"Es tut mir Leid." brach John die Stille.

Sherlock konnte es nicht aufhalten, aber er wollte ihm um den Hals fallen und verzeihen. Eine unglaublich Erleichterung machte sich in ihm breit. Trotzdem schaffte er es die kalte Miene zu behalten. "Was?"

John seufzte. "Es tut mir Leid, dass das passiert ist."

"Was?"

"Dass ich dich hintergangen habe, dich in eine Falle gelockt habe, und verdammt nochmal zugesehen wie du in dem Fluss fast ersoffen bist." entfuhr es dem Blonden lauter als gewollt. Er hasste sich wohl selber für das was passiert war.

Sherlock hob den Kopf an, bevor er sich nach vorne beugte, die arme auf den Knien. "Ich will nur Eines wissen: Warum hast du es getan? Ich habe dir vertraut." Jetzt begannen seine Augen feucht zu werden und John starrte ihn einfach nur an. "Warum hast du es getan?!"

Gefangen am Stuhl und in dem Blick des Dunkelhaarigen schluckte John schwer, bevor er zu einer Erklärung ansetzte. "Ich wollte nicht, dass es so endet."

Sherlock schnaubte aus. Das konnte jeder in dieser Position sagen.

"Wir waren Kinder, wir hatten Spaß! Keiner von uns hat damit gerechnet, dass Wasser eine Unterströmung hat! Keiner von uns hat es gewusst!"

"ICH habe es gewusst!" Unterbrach ihn Sherlock heftig. "Ich habe es geschrien, aber keiner von euch wollte hören. Ihr habt mich tiefer gedrückt und ertrinken lassen. Und ihr habt gelacht. Ihr habt alle gelacht."

Sherlocks wütende traurige Augen waren nur noch Centimeter von Johns entfernt. Er war aufgesprungen und auf seinen Gefangen zugegangen, ohne es wahrgenommen zu haben.

Auf einmal änderte sich die abwehrende Miene von John Watson. Die blauen Augen sahen sanft zurück. "Es tut mir Leid." sagte seine belegte Stimme leise.

Langsam richtete sich Sherlock auf. Unschlüssig sah er auf seinen Gefangenen hinab.

"Es tut mir Leid, Sherlock."


-


Der große Mann vor ihm zuckte zusammen, als John ihn beim Namen nannte. In dem Moment, als er die Trauer und Wut in den Augen gesehen hatte, war er ihm eingefallen. Es war genau der gleiche Blick, den der Junge ihm viele Jahre zuvor zugeworfen hatte, als John mit einem Handtuch kam, um ihn zu trocknen. Doch der Camp-Aufseher schnappte es John weg und legte es Sherlock selbst um die Schultern. Der Junge mit den besonderen Augen, den John für ein Genie gehalten hatte, war ihm seitdem aus dem Weg gegangen und hatte ihn keines Blickes mehr gewürdigt. Ein tiefer Schlag traf John, als die Erinnerung wieder hoch kam. Sie waren Freunde gewesen, wenn auch nur für ein paar Wochen.

Er hatte all das längst verdrängt.

Doch jetzt stand das kleine Genie als junger erwachsener Mann vor ihm und hatte ihm das Leben gerettet, obwohl er seines fast weggeworfen hätte, für einen Spaß.

"Ich weiß, dass ist der schlechteste Ort und die ungünstigste Zeit dafür," begann der Blondschopf, "Aber Ich kann nicht sterben, wenn du mir nicht verziehen hast. Schließlich ... schließlich waren wir Freunde... Verzeih mir, Sherlock."

John konnte sehen wie sehr Sherlock mit sich haderte. Er bewegte sich keinen Millimeter, sondern starrte händeringend auf John hinunter. Ab und zu öffnete er den Mund, schloss ihn aber wieder. John sah zu ihm auf und wartete.

Während Sherlock nachdachte ließ John den Blick über seinen ehemaligen Freund wandern. Die große Statur, die hervorstehenden Wangenknochen, unglaubliche Augen die selbst im Dimmerlicht funkelten, diese unordentlichen Locken ... er war wunderschön.

"Ja." Es war so leise, dass John sich nicht sicher war, ob er etwas gehört hatte. Trotzdem atmete er erleichtert auf. "Danke." erwiderte er und schenkte dem Briten ein mattes Lächeln.

"Das ändert nichts daran, dass du mein Gefangener bist." meinte dieser darauf und trat einen Schritt zurück. Dann holte er eine Flasche hervor und stellte sich hinter John.

"Wirst du mich foltern?" fragte der Gefangene.

Er bekam nur ein "Sei still." zurück. Dann spürte der Soldat eine Hand an seinem Kinn, die ihn in die Nackenstellung drückte. Er erwartete Schmerzen, doch stattdessen tropfte etwas Flüssiges über seine Lippen. Reflexartig öffnete er seinen ausgetrockneten Mund und ließ tatsächliches Wasser hineinfließen. Erst jetzt spürte er, wie sehr er sich danach gesehnt hatte wieder etwas zu trinken.

Und da war noch etwas, Dankbarkeit. Wie verrückt es auch war, er war seinem politischen Feind über alle Maßen dankbar. Wenn ihn jemand fragte, würde er sogar zugeben müssen, dass er den Briten unwillentlich mochte.


-


Sherlock wollte heulen.

Vor Freude, da John wollte dass er ihm verzieh, da er es getan hatte, dass John die gute Seele war die er immer in ihn gesehen hatte.

Vor Angst, weil er nun keinen Grund mehr hatte auf John Watson wütend zu sein, weil er nun noch mehr Gefahr lief, seine Gefühle sich ausbreiten zu lassen.

Vor Trauer, da John es nicht überleben konnte als Gefangener im gegnerischen Kriegslager.

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