Jeder verdient eine zweite Chance


Außer sich trat Sherlock gegen den kleinen Holzkasten neben seinem Bett. Die Kommode protestierte scheppernd, genauso wie sein Fuß, der jetzt weh tat. Aufschreiend ließ er sich auf die Matte fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

Von all den hunderttausend Amerikanern, die zufällig an dieser Küste kämpften, musste es genau John f*cking Watson sein, der in diesem Spähtrupp dabei sein musste!

Er hätte ihn einfach mit den anderen erschießen sollen. Aber er hat es nicht getan.

Sherlock wusste nicht ob es deshalb war, weil er ihn so hasste oder ... so ... liebte. Beziehungsweise getan hatte. Damals, in diesem blöden Lager, in den seine Eltern ihn gesteckt hatten.

"Der Krieg ist vorbei, also geh und hab Spaß in Amerika." 

Dieses verdammte Camp in dem er den blonden Jungen mit den blauen Augen kennen gelernt hatte. Der erste Junge der mit ihm reden wollte und der erste Mensch den Sherlock wirklich gemocht hatte. Aber da er der einzige Engländer war hatten die anderen Jungs im Camp eine Ausrede um ihn auszuschließen. Als kleiner Junge hatte es Sherlock gerne heraushängen lassen, wie schnell er Rätsel lösen konnte, oder Geheimnissen auf die Spur kommen konnte. Doch die anderen fanden das abstoßend und begannen ihn zu ärgern, ihm streiche zu spielen und der Einzige der zu ihm gestanden hatte war John gewesen. Doch eines Tages war er es gewesen, der ihm einen Streich gespielt hatte. Und es war nicht nur ein Gewöhnlicher gewesen, wie Insekten im Bett oder Medikamente im Wasser.

Sherlock spürte wie sein Atem schneller ging und seine Haut in Erinnerung an das strömende Wasser kribbelte. Schnell stand er auf und trabte im Zelt herum.

Nun war der blonde Junge in seinen Fängen, er könnte sich endlich rächen. Doch er war sich nicht sicher, ob er es ertragen konnte, in diese Augen zu sehen, wenn sie litten.

Er lief eine Kule in den Boden, bis er einen Entschluss gefasst hatte. Ein letztes Mal fuhr er sich ungehalten durch die wirren Locken und verließ schließlich das Zelt.


-


Der Geruch von warmen Kartoffeln und Brot ließ John die Augen öffnen. Es war stockdunkel bis auf eine Laterne am Boden vor ihm, die einen matten gelben Lichtkegel warf. Der junge Soldat erschrak, als er den Mann erkannte, der neben der Laterne saß. Auf einem Stuhl und mit einer Platte in der Hand, hockte der junge Mann von gestern - oder war es noch länger her? Er konnte nicht sagen, ob es Stunden oder Tage waren, seitdem er seine Kameraden verloren hatte. Ein dicker Knoten bildete sich in seinem Magen, als er daran dachte.

"Bist du hier um mich zu überwachen?" murmelte John sarkastisch. Er konnte nicht einmal sagen ob das hier wirklich passierte oder nur ein Traum war.

"Du hättest es zwar verdient zu verhungern, aber so leicht werde ich es dir nicht machen." raunte die tiefe Stimme. Jetzt erkannte John das Essen auf dem Tablett in den Händen seines Gegenübers.

"Nette Folter. Wie soll ich essen, wenn ..." John wollte demonstrativ an den Schnüren ziehen, die seine Arme festhielten. Da löste sich sein rechter Arm und bewegte sich mühelos vor seinem Körper. Mit geweiteten Augen sah er von der freien Hand zu seinem Peiniger und wieder zurück.

Dieser zuckte nicht einmal mit der Wimper. "Iss."

Johns Kopf verbot es ihm, auch nur das Kleinste von dem Mann anzunehmen, der seine Kameraden auf dem Gewissen hatte, der ihn gefangen hielt, der einen Suchtrupp hinter seinem Freund James hinterher geschickt hatte.

"Iss. Das ist ein Befehl."

Wütend grummelte der Blonde zurück. "Ich nehme keine Befehle von Feinden."

Er hörte wie der Lockenkopf scharf Luft einsog. Es herrschte Stille.

John sah auf sein Handgelenk und bewegte es, solange er noch konnte, ohne den Mann ihm gegenüber anzusehen. Es dauerte eine Weile bis die dunkle Stimme den Raum erfüllte. "Sie werden nicht schnell genug sein. Dein Freund wird es zurück schaffen."

Johns Kopf schnellte nach oben. "Was?"

"Iss." Kam etwas sanfter zurück.

Der Gefangene musste die Information erst verarbeiten. Warum sagte der Brite das? Aber noch viel wichtiger: war es wahr?

Wenn er allerdings das Angebot des Mannes nicht annahm, würde er wohl nicht mehr erfahren. Außerdem spornte die Leere in seinem Magen seinen Überlebensinstinkt an, welcher sich nur so nach dem Geruch verzehrte. Und so wurde sein störrischer Verstand besiegt und er willigte ein.

Zufrieden nickte sein Gegenüber und schob ihm das Tablet auf den Schoß.

"Warum?" nuschelte John, als er die goldenen Kartoffeln sah und das Stück weißes Brot. Ein Festmahl im Vergleich zu der Soldatennahrung im eigenen Lager. Und hier war er ein Gefangener ... wie sollte das einer verstehen?

Die tiefe Stimme antwortete leise und warm. "Jeder verdient eine zweite Chance."

John war sich sicher in einem Traum zu sein, was auch immer die Krankenschwester ihm gespritzt hatte. Aber es war gut, also spielte er einfach mit seiner Fantasie mit. Es war wahrscheinlich das Beste was ihm in nächster Zeit passieren würde.

"Kennst du mich wirklich?" fragte er, sich eine warme Kartoffel in dem Mund schiebend.

Der junge Mann stieß ein kurzes trauriges Lachen aus. "Das dachte ich zumindest."

Irgendwie verspürte John plötzlich unendliches Mitleid für den Briten. So wie damals, als er ... als er, ... oh Gott.

Ihm fiel die Gabel aus der Hand. Ungläubig starrte er den Mann vor sich an.

Ein schiefes Lächeln zog sich über das hohe Gesicht. "Du erinnerst dich also doch."

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