Die Vergangenheit holt einen immer ein

Sie hatten eine Art Kulisse aufgebaut, die es aussehen ließ, als wäre das Lager verlassen. Nur Sherlock hatte darin gelauert und sich einen Spaß daraus gemacht nach Auffälligkeiten zu suchen.

Es war zu offensichtlich, wie die Streifspuren auf der aufgeweichten Erde Fußspuren verwischen sollten. Sherlock hatte seit einer Woche damit gerechnet, dass bald Spione geschickt wurden. Glücklicherweise hatte ihm Mycroft einen Trupp zur Verfügung gestellt, mit dem er den frischen Spuren gefolgt war. 

Er war nicht der Typ für das offene Gefecht, und so starben zwei seiner Leute, als sie vor ihm die Kugeln abfingen. Der amerikanische Spähtrupp ging schnell zu Boden, es war aber noch jemand hinter einem Baumstamm, der sein Feuer eingestellt hatte. Mit einem Blick zur Seite erkannte Sherlock die Soldaten-Uniform und den daran befestigten Gürtel mit dem was er befürchtet hatte. Zwischen dem Fall des dritten Amerikaners und dem Sprung den Sherlock jetzt machte lagen nur wenige Sekunden. Leichtfüßig näherte er sich besagtem Baum und umgriff fest den Unterarm des Soldaten, mit Druck auf die Pulsader.

"Das würde ich an deiner Stelle nicht tun." sagte der Brite in herrschendem Ton.

Aus Reflex ließ der blonde Soldat die Granate in der Hand fallen. Natürlich war sich nicht scharf, er hatte gezögert sich womöglich umzubringen. Der Soldat war zu jung für ein bestimmtes Selbstmordkommando, die Angst stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

Sherlock stockte.

Ungewollt lockerte sich sein Griff. Verwirrt und völlig fertig blickten ihn himmelblaue Augen, so klar, als hätte er sie erst gestern gesehen. Der junge Engländer schluckte schwer und trat einen Schritt zurück. "Nehmt ihn fest." brachte er mit zittriger Stimme heraus. "Wir bringen ihn ins Lager. Er hat uns bestimmt etwas zu sagen." Mit einem irritierten und gleichzeitig wütendem Blick wand sich Sherlock ab und ging zurück, Richtung Britisches Bataillon.


Mit einem gewissen Stolz präsentierte Sherlock seinem Bruder den Erfolg der gefundenen Spione. Mycroft hob skeptisch die Brauen als Sherlock von einem Überlebenden erzählte. "Wenn du erlaubst werde ich ihn verhören, du weißt, dass ich das gut kann. Dann kann ich etwas anderes tun als Fahnenflüchtlinge zu ertappen oder Schmuggler ausfindig zu machen." begründete Sherlock mit genervtem Unterton. Daraufhin stimmte sein älterer Bruder zögerlich zu. Er schien es dem Jüngeren nicht abzukaufen, dass dies sein einziger Grund war.

"Die anderen sind alle tot?" hakte er nach.

Verdammt, dachte Sherlock. Er hatte vergessen nach zu prüfen, ob nicht noch einer sich versteckt hatte. Natürlich mussten es fünf sein! Drei haben gewartet, während einer aus einer anderen Richtung kam. Der eine war niemals alleine losgegangen - also hatten sie einen vergessen. Der Anblick von John - John Watson - hatte ihn so aus der Fassung gebracht, dass er den Amerikanern nun ermöglicht hatte die Informationen zu erhalten, die sie haben wollten. 

"Du kannst ihre Leichen besichtigen, wenn es dir beliebt." gab Sherlock zurück. Er wollte seinen Fehler nicht zugeben, nicht vor Mycroft. Und schon gar nicht aus einem solch kindischen Grund.


-


Etwas kaltes und nasses riss John abrupt in die Wirklichkeit. Er blinzelte und versuchte zu verstehen was hier vor sich ging. Ein junger kräftiger Mann stand vor ihm mit einem tropfenden Wassereimer, der nur noch halb voll war.

Er spürte Schnüre um Beine, Bauch und wie es an den Handgelenken rieb. Er saß anscheinend auf einer Art rundem Hocker, an die Stuhlbeine gebunden. Die Uniform war durchnässt und sein Gürtel war zerrissen und auch alle Taschen, soweit er das sehen konnte. Er fühlte ein Hämmern im Kopf und nahm alles nur verschwommen wahr, da klatschte ihm die nächste Ladung Wasser ins Gesicht - er hoffte es war Wasser.

"Nun, ..." kam ihm dumpf eine tiefe Stimme entgegen. Er versuchte den Kopf zu schütteln um durch das Wasser in seinen Wimpern sehen zu können. "... John Watson ..." Die tiefe Stimme wurde immer klarer und auch John fand seine.

"Woher kennt ihr meinen Namen?" krächzte er, sich umsehend. Der Mann mit dem Eimer stand bereit, doch die Stimme kam nicht von ihm. Der Boden war erdig und teilweise voll Heu, welches sich an den Holzwänden aufhäufte.

"...Erzähle uns doch von deinen Kameraden, wir waren so gut einen von euch laufen zu lassen, aber das kann schnell geändert werden, wenn wir unsere Informationen nicht erhalten." fuhr die fremde Stimme fort, die sich bedrohlich näherte, mit jedem Wort. Auf einmal spürte John hinter sich eine Anwesenheit. Er hielt den Atem an.

"Nun, Watson, sie dürfen jetzt sprechen."

Die tiefe dunkle Stimme jagte ihm eine Gänsehaut über. John stellte sich einen riesengroßen breiten Monster-Folterer vor, der die kleinste Kleinigkeit aus ihm herausquetschen würde.

Erneut setzte der junge Soldat an: "Woher kennt ihr meinen Namen?" Und da fing die Stimme hinter ihm an zu lachen. Niemals zuvor hatte John ein so dunkles Lachen gehört, dass ihn erschauern ließ. Aber bildete er sich das nur ein oder war etwas freundliches in dem Lachen? Wenn nicht gar etwas Bekanntes?

Den Blick auf den Boden gerichtet, sah der Junge zu seiner Linken schwarze Stiefel an sich vorbei gehen. Er wagte es kaum den Kopf zu heben, doch konnte sich nicht zurück halten, als der Fremde weitersprach. "Es war nicht einmal nötig das Etikett in deinen Schuhen zu entziffern." Die Stimme klang überheblich und emotionslos, doch dann flüsterte sie etwas so traurig, dass John endlich seinen Gegenüber ansah. "Dich erkenne ich überall wieder."

Zu seiner Überraschung blickte er in ein junges schmales Gesicht. "Was...?" entfuhr John, woraufhin ihn die funkelnden Augen fixierten. Waren sie blau? Grün? Grau? Er konnte es nicht sagen, nicht einmal, als der junge Mann näher kam, sich zu ihm beugte und feurig ansah.

Der Soldat hielt die Luft an, als den Fremden und ihn nur noch Zentimeter trennten. Die dunklen Locken auf der Stirn seines Gegenübers kitzelten beinahe sein nasses Gesicht und er spürte warmen Atem auf seiner Haut. Es mussten Jahre vergangen sein in denen die starren silber-blau-grünen Augen ihn wütend angesehen hatten, bis die tiefe Stimme in sein Gesicht atmete. "Meine Feinde vergesse ich nie." Damit riss sich der Brite los und holte tief Luft.

John hallte derweil der Satz des jungen Mannes durch den Kopf. Wenn er den Lockenkopf, die hohen Wangenknochen, die dürre Statur und die schwarze Kleidung betrachtete, erinnerte der Brite ihn an jemanden ... aber er konnte nicht sagen an wen.

"Kennen wir uns?" fragte er vorsichtig. Der große Mann vor ihm lächelte süffisant, während seine undefinierbaren Augen wütend funkelten. "Offensichtlich nicht."

Da öffnete sich die Holztür am Ende des kleinen Raumes und eine Frau kam rein. Sie trug eine weiße Schürze über grauer Bluse und langem grauen Rock. Der schlanke Mann vor ihm wand sich ab und ging auf den Soldaten mit dem Eimer zu, der immer noch neben John stand.

"Geh zu General Holmes und berichte ihm, ein amerikanischer Spion befindet sich auf dem Weg ins Feindeslager. Er war ein Nachzügler und hat sicher die Leichen seiner Kameraden gefunden."

"Ja, Sir." Damit verschwand der Mann samt Eimer und ließ John mit der tiefen Stimme und der Frau alleine.

"Molly!" befahl der Dunkelhaarige, "Sorge dafür, dass er nicht stirbt."

Mit zaghaftem Nicken kam die anscheinende Krankenschwester auf John zu und begann ihm den Puls zu messen, in die Augen zu leuchten und endlich die Nässe aus dem Gesicht zu wischen. "Wenn ihr mich losbindet, kann ich mir selbst helfen."

"Offensichtlich." gab der Lockenkopf zurück. Er sah in Johns erstauntes Gesicht. "Warum sollte ein Soldat einen Verbandskasten mitschleppen, wenn es ein Leben oder Tod Kommando ist? Warum sollte es der tragen, der keine Ahnung von Medizin hat? Keiner der Soldaten in deiner Truppe war länger als ein paar Monate in der Armee, keiner der so kurz da ist, kennt all das was in deinem Kasten war."

John fühlte sich überrumpelt. Wie konnte dieser Mann so viel über ihn wissen? Und er sich einfach nicht an ihn erinnern ...?

"Du solltest mir dankbar sein, es gibt genug, was eine Krankenschwester anderes tun könnte, als den Feind zu verarzten - denn wie dir sicher aufgefallen ist, leidest du an einer leichten Gehirnerschütterung, die Haut deines rechten Schienbeines ist aufgerissen und deine Handgelenke leiden gefährlich unter den engen Seilen, Doktor."

Der Blonde starrte nur fassungslos zurück. Jetzt wo der Mann es sagte, konnte er das Pochen in seinem Bein herausspüren. "Warum hilfst du mir dann?" fragte er mit verengten Augen.

Überraschender Weise lockerte sich die verbissene Miene auf dem bleichen Gesicht. Er öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. John sah wie der Lockenkopf schwer schluckte und - blinzelte er da gerade Tränen weg??

"Lass es mich wissen, wenn sich etwas an seiner Verfassung ändert." stieß der Brite aus, an die Frau gewandt. Dann verließ er mit großen Schritten den Raum.

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