Kapitel 9
„Natalie, bist du fertig? Wir kommen noch zu spät, wenn wir uns nicht langsam auf den Weg machen!" Für ihr Alter hatte Grandma noch eine ziemlich laute Stimme. Ich saß auf meinem Bett und starrte aus dem Fenster. Irgendwie hatte ich nicht wirklich große Lust, mit zu diesem BBQ zu gehen und doch hatte ich gestern zugesagt. Aber mir wäre auch kein triftiger Grund eingefallen, warum ich die Einladung hätte ablehnen sollen.
Trotzdem war ich ein wenig aufgeregt, da ich nun Menschen kennenlernen würde, die auch Grandma schon eine Ewigkeit kannte. Wie würde ich da hineinpassen? Konnte ich das überhaupt? Vielleicht waren sie noch misstrauischer als Liam. Was machte ich dann? Und dann war da noch die große Wahrscheinlichkeit, dass ich auf Delilah treffen würde. Das machte mir am meisten Sorgen.
„Natalie?" Ich sah zur Tür, in der Grandma fertig angezogen stand und mich neugierig musterte.
„Kommst du?" Ich nickte. „Ja, entschuldige. Ich komme sofort." Grandma legte den Kopf schief.„Wieso habe ich das Gefühl, dass du eigentlich gar nicht mitwillst?"
Ich seufzte. „Was ist, wenn sie mich nicht mögen?" Grandma blinzelte mehrmals. Dann lachte sie. „Ach Natalie, Liebes. Sie werden dich alle mögen. Da bin ich mir sicher. Liam mag dich doch auch. Und seine Familie ist wirklich sehr nett. Etwas neugierig und sehr geschwätzig manchmal, aber sehr lieb. Du musst dir keine Sorgen um sie machen." Ich nickte. Okay, wenn Grandma so zuversichtlich war, sollte ich ihr wohl glauben. Sie kannte diese Menschen ja besser als ich.
„Gut, gehen wir." Ich schnappte mir meine Handtasche und verließ zusammen mit Grandma die Wohnung. Es war wieder recht warm, weshalb ich mich für ein sommerliches, grünes Neckholder-Kleid entschieden hatte, das knapp über den Knien endete. Es war eine gute Entscheidung gewesen, denn mit einer Hose wäre es wirklich zu warm gewesen. Draußen war es viel wärmer, als ich es drinnen erahnt hätte. Unten an der Haustür hielt sich Grandma an dem reparierten Geländer fest, ohne dieses Mal schwarze Farbe an die Hände zu bekommen. Es schien ihr wirklich eine große Hilfe für die Stufen zu sein.
Dann hackte sie sich bei mir ein und zusammen machten wir uns zu Fuß auf den Weg zum Haus von Liams Familie. Grandma sagte, dass Haus lag nur 20 Minuten entfernt und so spazierten wir gemütlich die Wege entlang. Ich folge im Grunde nur Grandmas Anweisungen, da ich keine Ahnung hatte, in welche Richtung ich hätte gehen müssen. Und tatsächlich. Nach etwas mehr als 20 Minuten erreichten wir ein braunes kleines Einfamilienhaus im viktorianischen Stil mit einer Terrasse. Grandma stieg die Stufen zur Veranda hoch. Ich folgte ihr.
Als sie klingelte, strich ich mein Kleid nervös glatt, da ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. In meinem Magen rumorte es. Ich war einfach ziemlich nervös. Trotz der zuversichtlichen Worte von Grandma.
Die Tür wurde geöffnet und eine Frau mittleren Alters sah uns an. „Eloise! Wie schön, dass du mal wieder vorbeikommst." Überrascht sah ich die Frau an, die gerade Grandma umarmte. Dann lösten sich die beiden auch schon wieder voneinander und Grandma deutete auf mich. „Darf ich vorstellen. Das ist meine Enkelin Natalie. Natalie, das ist Liams Mom, Cara Mason."
„Oh, ich wusste, dass du es bist. Als ich dich im Laden gesehen und dann noch deinen schottischen Akzent gehört hatte, war ich mir so sicher gewesen. Und siehe da, ich hatte recht behalten!"
Grandma sah Cara verwirrt an. „Ihr kennt euch?"
„Ich habe sie gestern kurz in meinem Laden getroffen, als sie ein paar Zeitungen gekauft hatte."
„Es freut mich sehr Sie kennenzulernen, Mrs. Mason." Freundlich lächelnd und ein wenig erleichtert, dass ich der Frau irgendwie schon einmal über den Weg gelaufen war, reichte ich ihr meine Hand.
„Aber, aber. Nicht so förmlich. Nenn mich Cara. Du bist sowas wie Familie, da du mit Eloise verwandt bist." So nahe standen sie sich? Die Masons betrachteten Grandma als Familie und nicht gute oder sehr gute Freundin? Es musste wirklich schön sein, solche Menschen um sich zu haben. Grandma hatte recht. Sie konnten nur nett sein.
„Gut, Cara. Danke für die Einladung. Ich freue mich wirklich, hier sein zu dürfen." Cara lachte, kam auf mich zu und umarmte mich herzlich. Etwas überrumpelt erwiderte ich die Umarmung, versuchte aber mir nichts anmerken zu lassen.
„Na dann kommt mal rein. Die anderen sind im Garten." Cara hackte sich bei Grandma ein und begleitete sie ins Haus. Mir lächelte sie noch einmal zu.
Cara war etwa 1,70m groß, und somit etwas kleiner als ich. Sie hatte helle Haut, braune Augen, dunkelblondes, aber schon leicht ergrautes Haar und viele Sommersprossen im Gesicht und auch auf den Armen. Sie hatte perfekte Kurven. In ihrem sommerlichen Maxikleid, dass ein Blumenmuster hatte, kamen sie perfekt zur Geltung. Mir war aufgefallen, dass Liam dieselben Augen hatte wie sie. Sehr warm, aufrichtig und neugierig. Das gefiel mir irgendwie.
Ich folgte Grandma und Cara durch den Flur an einer Treppe vorbei in das Esszimmer. Der große Tisch vor dem Kamin war nicht gedeckt, aber wir gingen auch nur an ihm vorbei, weiter in die Küche, in der es ein bisschen aussah wie ein Schlachtfeld. Überall Gemüse, Fleisch und Saucen. „Cara, Ordnung war nie deine Stärke und das wirst du auch nie mehr lernen, was?", neckte Grandma sie. Cara lachte. „Ja, da hast du wohl recht. Sieh dich bitte nicht zu genau um Natalie. Sonst bekommst du noch einen falschen Eindruck." Ich lachte ebenfalls. „Okay."
Schließlich traten wir heraus in den Garten. Wir standen auf einer großen Terrasse und blickten auf einen recht weitläufigen und von einer hohen Hecke abgegrenzten Garten mit Teich, Apfelbaum und einem kleinen Schuppen. Unter dem Baum stand ein großer Tisch, an dem schon ein paar Leute saßen. Der Garten wirkte gepflegt. Am Rand gab es Beete, in denen unterschiedliche Blumen blühten.
„Na kommt, gesellen wir uns zu den anderen. Dann stell ich sie dir gleich vor." Nun etwas zuversichtlicher, folgte ich Cara und Grandma zum Tisch, neben dem bereits der angezündete Grill stand.
„Also, alle mal herhören. Das ist Natalie." Cara legte mir eine Hand auf den Arm und zog mich sanft neben sie. „Natalie, das ist mein Mann Andrew. Er ist heute der Grillmeister." Andrew stand auf und kam auf mich zu. Sein Erscheinungsbild hätte mich etwas eingeschüchtert, da er mindestens 1,95m groß sein musste und ein unglaublich breites Kreuz hatte, aber sein offener Blick, mit dem er mich bedachte, nahm mir jegliche Bedenken. „Freut mich sehr." Wir schüttelten uns die Hände und Andrew ging zu Cara. Als würde er es immer machen, zog er sie sanft an sich und legte ihr einen seiner starken Arme und die Taille. Seine braunen Augen schienen zu glänzen, als er und Cara sich kurz ansahen. Dann blickte er wieder zu mir. Liam hatte eindeutig die Haare seines Vaters, wenn auch Andrews etwas länger waren, dass sie regelrecht wuschelig wirkten.
„Es freut mich auch." Andrew lächelte.
Cara stellte mir darauf noch Andrews Bruder Hank und seine Frau Lia vor. Sie beide hatten ebenfalls einen Sohn – Lucas - der wie ich 20 war und studierte. Zwar nicht hier in San Francisco, aber dafür in New York.
„Ah Delilah, schön, dass du da bist." Ich versuchte nicht zusammenzuzucken, konnte es aber nicht vollkommen verhindern, als ich Cara Delilah begrüßen hörte. Ich drehte mich zu den beiden um und beobachtete sie dabei, wie sie sehr innig miteinander umgingen. Küsschen links, Küsschen rechts und eine kurze Umarmung. Ja, Delilah gehörte tatsächlich zu Liams Familie. „Delilah, lass mich dir Natalie vorstellen."
Delilah und Cara kamen auf mich zu, machten davor aber bei Grandma, die sich schon hingesetzt hatte, kurz halt. Was solle ich tun? Wenn Delilah sagt, dass wir uns schon kennen, würde Grandma herausfinden, dass ich sie angelogen habe. Und dann würde sie wahrscheinlich so lange nachfragen, bis mir nichts anderes übrigblieb, als ihr die ganze Wahrheit zu erzählen.
Ich wollte sie begrüßen, aber Delilah kam mir zuvor. „Natalie! Es freut mich sehr dich kennenzulernen! Ich war ja schon so gespannt!"
Bitte, was? Verdutzt sah ich Delilah an. Sie nahm mich in die Arme und gab auch mir ein Küsschen links und rechts auf die Wangen, dann trat sie einen Schritt zurück und sah mich freundlich an. Was zum Henker?
„Ja, freut mich auch."
Mit einer flüssigen Bewegung warf Delilah ihr langes schwarzes Haar, dass sie offen trug über ihre Schulter. Auch heute trug sie wieder sehr knappe Sachen, wobei der Rock heute eindeutig länger war als die Shorts von gestern. Dennoch, sie konnte es tragen. Nun, sie konnte wahrscheinlich alles tragen und immer noch umwerfend aussehen.
„Irgendwann musst du mir unbedingt mal vom Leben in Schottland erzählen. Und wie es in London ist."
„Ehrlich gesagt, in London war ich nur zweimal und das auch beide Male nur über ein Wochenende."
„Oh, du hast nicht in London gewohnt?" Ich blinzelte. Wer zum Henker war diese Frau, dass sie unglaublich nett zu mir war, mit mir und nicht nur über mich redete, aber dachte, London läge in Schottland?
„Nein, ich habe in Glasgow gelebt. Das ist 45 Minuten von Edinburgh entfernt." Delilah nickte verstehend. „Achso. Na dann, das Leben in Glasgow eben." Sie kicherte. Ja, dann das Leben in Glasgow eben. Erfahren würde sie darüber aber nichts. Aus dem einfachen Grund, dass ich felsenfest davon überzeugt war, dass sie mich nie danach fragen würde.
Delilah wirkte wirklich nett und freundlich, aber ihre Art und Weise, die sie gestern an den Tag gelegt hatte, hatte mich skeptisch werden lassen. So wie sie heute ist, hätte ich sofort gedacht, wir hätten wirklich gute Freundinnen werden können. Trotzdem wusste ich nicht so recht weiter.
Liam löste die Situation auf, als er aus dem Haus kam und uns zuwinkte. „Tut mir leid, ich bin etwas spät." Liam ging zu Grandma, umarmte sie kurz und stellte sich dann zu Delilah, Cara und mir. „Hey Natalie. Alles klar?"
„Hey. Ja, alles bestens. Und bei dir?"
„Du hast ganz schön lange gebraucht. Was hast du oben getrieben?" Delilah sah Liam stirnrunzelnd an. Liam kratzte sich am Kinn. „Entschuldige. Kommt nicht wieder vor." Delilah nickte.
„Liam, mein Junge. Ist dir in diesem Trikot nicht warm?" Liam drehte sich zu Grandma. „Nein, alles gut. Der Stoff ist recht dünn, da ist es nicht schlimm, dass die Ärmel bis zum Ellenbogen gehen."
„Du immer mit deinen Sportsachen", schimpfte Cara, wenn auch mit einem liebevollen Unterton. „Mom." Liam verdrehte die Augen und tat genervt, aber ich wusste, dass er es nicht war. Dennoch fiel mir die plötzliche Röte auf seinen Wangen auf.
„Cara, Liam ist Footballspieler der University of San Francisco. Natürlich trägt er voller Stolz das Trikot. Nicht wahr Schatz?" Liam nickte. „Da hat sie recht."
„Oh, du spielst Football?" Liam nickte erneut.
„Ja, ein Stipendium habe ich nicht, aber das macht mir nichts. Die Profiliga wird eh nichts. Aber es macht Spaß."
„Klingt gut. Ich muss mir mal ein Footballspiel ansehen. Das habe ich, wenn ich ehrlich bin, noch nie getan." Liam und Cara rissen die Augen auf. „Das müssen wir ändern!" Cara schüttelte den Kopf. Ich lachte aber nur.
„Selbst wenn Liam jetzt kein Stipendium hat, wenn er sich anstrengt, schafft er es bestimmt in die Profiliga."
„Delilah, du weißt, wie unwahrscheinlich das ist. Und das ist auch gar nicht mein Ziel." Delilah schnalzte mir der Zunge. „Nun, so wirst du es nicht schaffen, das stimmt."
„Solange der Sport die Spaßmacht, ist doch der Rest erst einmal nicht so wichtig."
„Das stimmt", stimmte Liam mir lächelnd zu. Auch Cara nickte.
„Aber Sport ist da, um zu gewinnen. Wie kann man dann sagen, dass Spaß das wichtigste ist? Das ist wie, wenn man sagt 'dabei sein, ist alles'. Das sagen nur die Verlierer."
„Nicht alles im Sport muss ein Wettkampf sein. Nur weil die Gesellschaft da einen Wettstreit draus macht, muss das nicht zwangsläufig für jeden gelten", widersprach ich. Delilah runzelte die Stirn.
„Komische Einstellung die du da hast." Ihre war nicht besser. Den Gedanken behielt ich aber lieber für mich.
„Delilah hat schon recht. Man macht Sport, um ihn zu gewinnen", sagte Andrew und stellte sich zu Cara. „Aber sollte dir der Sport keinen Spaß machen, bringt auch das Gewinnen nichts", fügte er dann noch mit einem Lächeln hinzu. Ich nickte. Gut, damit konnte ich mich zufriedengeben. Für einen Moment hatte ich gedacht, Andrew wäre einer dieser Väter, die ihre Söhne teilweise sogar in den Sport zwingen.
„Ich kümmere mich jetzt mal um das Essen. Das Fleisch gehört ja auf den Grill." Damit verschwand er auch schon wieder. Cara entschuldigte sich und folgte ihrem Mann ins Haus. Lia und Hank folgten den beiden kurz danach auch.
Auf meine Frage, ob ich helfen könnte, hatten alle nur den Kopf geschüttelt. Ich kam mir dann oft etwas komisch vor, wusste aber, dass das wohl üblich war, wenn man Gastgeber war. Ich hatte nie an solchen BBQs oder anderen Partys teilgenommen. Doch ich konnte es mir dennoch irgendwie zusammenreimen. Also ließ ich Cara und Andrew machen und setzte mich zusammen mit Delilah und Liam an den Tisch zu den anderen.
Eine Weile unterhielten sich Delilah, Liam und Lucas über die unterschiedlichsten Themen. Ich hatte mit zwischenzeitlich ein Glas Limonade genommen und hörte der Unterhaltung eher halbherzig zu. Ich musste zugeben, dass allein Delilahs Stimme mich schon dazu veranlasste. Aber ich konnte einfach nicht anders.
„Also Natalie, was studierst du denn?" Etwas überrumpelt, dass Lucas das Wort an mich gerichtet hatte, brauchte ich einen Moment, um mich zu sammeln. „Oh, ich studiere Krankenpflege."
„Wow, nicht schlecht. Der Sprung zwischen den USA und Schottland ist bestimmt groß, was?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, so wie die Modulplanung aussieht, scheint es sich nicht allzu sehr zu unterscheiden. Ich werde etwas nacharbeiten müssen, aber dafür habe ich dann in anderen Bereichen schon mehr Erfahrung. Das gleicht sich also aus."
„Wieso will man denn sowas machen?" Ich sah zu Delilah, die mich fragend ansah. „Was meinst du?"
„Na, mit kranken Menschen arbeiten? Das kann doch keinen Spaß machen. Die sterben dir doch eh alle irgendwann weg."
„Ich denke da anders."
„So? Und wie?" Liam öffnete den Mund, aber ich schüttelte den Kopf, weshalb er nichts sagte und mich das mit Delilah klären ließ. Nun, man musste kein Genie sein, um zu sehen, dass ich und Delilah nicht die besten Freunde waren und werden würden.
„Jeder braucht mindestens einmal in seinem Leben die Hilfe von anderen. Die einen, weil sie Geldprobleme haben. Die anderen, weil sie einen Unfall hatten oder krank sind. Andere brauchen ihr Leben lang medizinische Unterstützung und Menschen, die sich um sie kümmern und das gern tun. Ich bin gern für Menschen da, die meine Hilfe brauchen. Egal, ob zum Helfen, Reden oder auch einfach mal nur zum Zuhören. Ich denke, das ist meine Aufgabe in diesem Leben. Und ich mache diese Aufgabe sehr gern."
„Dieses Leben?", wiederholte Delilah. „Glaubst du an Wiedergeburten oder so?"
„Woran glaubst du denn?", fragte ich sie, anstatt zu antworten. Delilah schnaubte. „Ich musste früher in die Kirche gehen, aber mit Gott und alledem hab ich nicht viel am Hut."
„Dann ist das deine Entscheidung, aber kritisiere und lache niemals Menschen aus, die an Gott, Buddha oder ein nächstes Leben glauben."
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