Kapitel 59
Teil eins der Lesenacht!
Es war halb eins, als ich schließlich das Krankenhaus verließ. Fiona hatte sich nur ein paar Minuten vor mir verabschiedet und war schon auf dem Heimweg. Ich lief noch einmal kurz zum Strand und starrte auf die Wellen. Doch noch immer weigerte ich mich zu weinen. Würde ich einmal anfangen, würde ich nicht mehr so schnell aufhören können. Und... ich wollte nicht allein weinen. Das mochte selbstsüchtig sein, doch ich wollte, dass Liam mich tröstend hin und her wog, während er über meinen Rücken strich und fest an sich drückte.
Entschlossen machte ich mich auf den Heimweg. Ich war mir ziemlich sicher, dass Liam auf mich wartete. Schnellen Schrittes lief ich nach Hause. Die Straßen waren ausgestorben und es war schon fast gruselig wie ruhig es sein konnte. Ich hatte immer gedacht, dass in Amerika nie eine Großstadt 'schlafen' würde.
Auch unser ganzes Wohnhaus war dunkel. Ernüchtert blieb ich davorstehen und starrte nach oben. Liam und Mike schliefen bestimmt schon. Wahrscheinlich war Liam irgendwann müde geworden. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Man konnte es ihm nicht verdenken.
Ich kramte meinen Schlüssel aus meiner Handtasche, als mich etwas an der Schulter berührte. Ich schrie laut auf und sprang ein gutes Stück zur Seite. Mein Schrei hallte laut durch die Straßen. Ich wirbelte herum und stockte in der Bewegung.
„Mike?", fragte ich atemlos und legte eine Hand auf meine Brust.
Mike blinzelte mich mit großen Augen an. „Tut mir leid. Ich dachte, du hättest mich gesehen."
„Nein... Ich war mit meinen Gedanken woanders. Gott, hast du mir einen Schreck eingejagt."
Mike biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. Seine Erheiterung konnte er trotzdem nicht verbergen.
„Warum bist du hier draußen?"
Das Lächeln verschwand wieder. Oh je. „Hast du dich mit Liam gestritten?"
„Nein." Er runzelte die Stirn. „Vielleicht ein wenig. Aber nur, weil er mit Delilah reden wollte."
„Mit Delilah? Warum?"
Mike zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Sie stand vor der Tür und bat Liam, ihr zuzuhören. Ich habe ihm davon abgeraten, aber er ist viel zu nett. Natürlich hat er sie reingelassen. Das war mir zu dumm. Da bin ich gegangen. Er wollte eigentlich anrufen, wenn diese Kröte wieder weg ist. Sie kann froh sein, dass ich ihr nichts angetan habe." Mike ballte die Hände zu Fäusten. Ich verstand ihn, sah aber irritiert rauf zu unserer Wohnung.
„Wann war das?"
„Weiß nicht. Vor zwei Stunden oder so? Wieso?"
„Die Wohnung ist dunkel."
Mir wurde übel, als sich ein böser Gedanke in meinen Kopf nistete. Es war eigentlich kein Gedanke. Eher ein Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Liam rief immer an, wenn er es versprochen hatte. Das tat er immer.
Ich hastete die Stufen zur Haustür hinauf und schloss die Tür auf. Mike war hinter mir. Ich hörte ihn fragen, was los sei, ignorierte ihn aber und lief weiter. Ihm hätte auch auffallen müssen, dass etwas nicht stimmt. Oben angekommen bekam ich kurz Zweifel. Reagierte ich über? Ich schüttelte den Kopf und den Gedanken ab. Nein, ich musste nachsehen.
Ich hatte die Tür nur einen Spalt auf, da rief ich schon nach Liam. Die Wohnung war so dunkel wie sie auch von außen ausgesehen hat.
„Liam", rief ich erneut. Doch wieder antwortete niemand.
„Liam?", fragte jetzt auch Mike, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ich schaute ins Wohnzimmer, sah aber niemanden. Dann ging ich in Liams Zimmer, doch auch das war verlassen. Mike sah ins Bad und in unsere beiden Zimmer. Verwirrt drehte ich mich zu Mike. Der Knoten in meinem Bauch wurde größer.
„Wo ist er?", fragte ich. Mike schüttelte ebenso ahnungslos wie ich den Kopf.
„Wir finden ihn, okay? Vielleicht bringt er Delilah gerade nach Hause?"
Mike zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Kurz darauf begann es im Wohnzimmer zu klingeln. Wir folgten dem Geräusch. Mike schaltete das Licht ein und wir fanden Liams Handy auf dem Wohnzimmer Tisch neben einer Rotweinflasche und zwei Gläsern, die noch halb voll mit Wein waren.
„Liam hasst Wein."
„Vielleicht ein Friedensangebot von Delilah?", fragte ich. Doch darum ging es gar nicht. Wenn Liam nicht hier war, wieso war es dann sein Telefon? Liam würde es doch nicht einfach liegen lassen. Zumindest war mir das noch nie aufgefallen, seit ich ihn kannte.
„Was jetzt?" Mike war sichtlich unwohl. Er sah sich im Raum um. Ich zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Hat er einen Zettel dagelassen?", fragte ich und ging zur Küche. Vielleicht hatte er wenigstens daran gedacht Mike und mir Beschied zu sagen.
Doch auch in der Küche lag nichts. Ich ließ den Kopf hängen und seufzte. Ein unangenehmer Geruch stieß mir in die Nase. Ich zog kurz die Luft durch die Nase ein und rümpfte sie sofort wieder. Probeweise atmete ich wieder durch die Nase ein und ging um die Kücheninsel herum. Ein Weiteres Mal konnte ich nicht einatmen.
Ich hatte Liam gefunden. Geschockt starrte ich auf meinen Freund, der leichenblass auf dem Boden neben Erbrochenen lag. Oh mein Gott, war alles, was immer und immer wieder in meinem Kopf wiederhallte. Bitte nicht, folgte kurz danach.
„Mike!" Ich schrie hysterisch und ließ mich sofort neben Liam auf dem kalten Küchenboden nieder. Liam war nicht bei Bewusstsein. Er hatte eine Platzwunde knapp über seiner Schläfe.
„Scheiße was-" Mike tauchte neben mir auf und kniete sich hin. Ich nahm Liams Handgelenk und tastete nach seinem Puls. „Ruf den Notarzt. Er hat noch Puls, aber nur sehr schwachen." Mike rührte sich nicht. Ich ließ Liams Hand los und griff Mike am Kragen. Seine Augen waren schockgeweitet und starrten auf seinen Freund. Ich musste mehrmals an seinem Kragen ziehen, bis er mich ansah. „Ruf den Krankenwagen!" Er blinzelte und schließlich löste sich seine Starre wieder.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Liam. Bitte, lass ihn nicht sterben. Nicht ihn. Ich kann ihn nicht verlieren. Wir hatten doch noch so viel vor. Wie sollte ich die Mutter seiner Kinder werden, wenn er bis dahin doch nicht überleben würde?
„Liam, hey. Hörst du mich?" Er antwortete nicht. Ich sah mir seinen Körper an, konnte aber nur die Vorderseite sehen. Ich wollte ihn nicht umdrehen. Was war passiert? Eine gehässige Stimme sagte, dass ich es nicht mehr rechtzeitig herausfinden würde. Ich versuchte sie zu ignorieren und tastete Liam ab.
„Natalie, der Notarzt möchte dich sprechen." Mike kniete plötzlich auf der anderen Seite neben mir. Mike reichte mir das Telefon, ich stellte den Lautsprecher an und wandte mich wieder Liam zu.
„Hallo?"
„Miss, ein Krankenwagen ist auf dem Weg. Können Sie mir noch mehr Informationen geben? Sie befinden sich in der Ausbildung als Krankenschwester richtig?"
Mike musste ihm die Info gegeben haben. Die Frau am anderen Ende des Telefons schien mich mit ihrer geschmeidigen Stimme beruhigen zu wollen. Ich ignorierte das Drumherum und gab der Frau, das was ich auf den ersten Blick sah.
„Der Patient ist männlich, 21 und Student. Er ist Sportler. Also eigentlich in guter Form. Wann er sich übergeben hat, kann ich nicht sagen, sein Puls ist jedoch sehr schwach, wenn auch noch spürbar. Er hat eine Platzwunde an der Stirn, aber die Blutung hat schon gestoppt."
„Hat ihr Freund etwas zu sich genommen die letzten Stunden?"
„Das weiß ich nicht, ich war nicht-" Ich brach ab und hob alarmiert den Kopf. „Wein. Er hat Wein getrunken." Ich sah auf. „Mike, bring mir mal die Flasche."
Mike fragte nicht, sondern sprang auf und lief zum Wohnzimmertisch. Eine Sekunde später hockte er wieder neben mir. Ich nahm ihm die Flasche ab. Sie war noch recht voll. Ebenso wie die beiden Gläser auf dem Tisch.
„Er hat nicht sehr viel getrunken", schlussfolgerte ich. Ich roch an der Flasche, doch konnte ich nichts Bedeutendes ausmachen.
„Was denkst du?", fragte Mike voller Argwohn. „Doch wohl nicht, dass Delilah etwas in den Wein getan hat?"
Ich antwortete nicht, betrachtete die Flasche kritisch und setzte sie dann an meine Lippen. „Fuck Natalie was machst du da?", rief Mike und beugte sich zu mir, um mir die Flasche wegzunehmen. Ich drehte mich zur Seite und ließ einen Schluck in meinen Mund laufen.
Jedes Härchen auf meinem Körper richtete sich auf, als sich ein eklig bitterer Geschmack in meinem Mund ausbreitete. Ich setzte die Flasche ab und spuckte den Wein wieder aus.
„Wasser, bitte", röchelte ich. Mike stand fluchend auf. Am Rande hörte ich die Frau am Telefon etwas sagen, achtete aber nicht auf sie. Mike reichte mir ein Glas mit Wasser. Ich spülte meinen Mund aus und spuckte den Rest auf den Boden zum Wein. Auf Sauberkeit gab ich in diesem Moment nicht viel.
„Du musst runtergehen und die Sanitäter hochbringen, wenn sie da sind. Ich glaube, Liam wurde vergiftet."
„Du veraschst mich." Mike schüttelte ungläubig den Kopf. „Mike, geh. Schnell." Ich sah ihn erst an. Er sah schockiert zu Liam und dann wieder zu mir ehe er nickte und kurz darauf aus dem Raum verschwand.
„Miss?" Die Frau am Telefon klang leicht panisch.
„Geben Sie die Information an den Rettungsdienst weiter", bat ich. Kurz war ich noch einmal einen Blick auf Liam. Ich weiß nicht, was in dem Wein war, aber es schmeckte widerlich. So wie ich Liam aber einschätzte, hatte er einfach aus Höflichkeit nichts gesagt, sondern ein paar Schlucke getrunken. Und sein Körper wollte, was auch immer er zu sich genommen hatte, wieder loswerden.
Irgendein Schalter hatte sich in meinem Kopf umgelegt. Es war, als wusste ich, dass die emotionale Natalie hier nicht weit kommen würde. Viel mehr schien die Krankenschwester in mir die Überhand zu übernehmen. Fieberhaft überlegte ich nach einem Weg, Liam zu helfen, doch mir wollte nichts einfallen.
„Wie lange braucht der Krankenwagen noch?" Ich tastete nochmal nach Liams Puls. Es war noch schwächer als eben.
„Sieben Minuten maximal."
Das war zu lange. Viel zu lange. Ich beugte mich über Liam und strich über seine kalte Wange. „Liam? Bitte, mach die Augen auf. Ich brauchen deine Überstützung, wenn ich dir helfen soll. Hörst du mich?"
Liam regte sich nicht.
„Liam", bat ich erneut. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Was konnte ich nur tun?
Mich durchzuckte die Idee wie ein Geistesblitz. Ich riss die Augen auf. Es war ein Plan. Wenn auch ein dummer. Doch mir blieb keine andere Wahl. Liam musste dafür aber wieder wach werden. Ich beugte mich über ihn und rüttelte ihn an seinen Schultern. „Liam komm schon! Ich brauche deine Hilfe. Liam verdammt macht die Augen auf. Ich weiß, dass du stark bist, also los." Meine Stimme wurde immer lauter, bis ich schließlich schrie, wenn auch keine einzige Träne über meine Wangen lief.
Es war nur ein kurzes Zucken des linken Augenlids, doch diese kleine Bewegung ließ mich innehalten. „Liam?", fragte ich vorsichtig nach. Wieder strich ich ihm über die Wange. „Liam!"
Erneut zuckte seine Augen und dann öffneten sie sich einen Spalt. Ich atmete zitternd aus und lachte vor Verzweiflung. Das war ein Anfang. „Liam hörst du mich?"
„Nat." Liams Stimme war schwach, kratzig und viel zu tief. Doch er sprach. Er war wieder bei Bewusstsein. Eine Flut von Glücksemotionen durchzog meinen ganzen Körper.
„Ja, ich bin es. Halt durch. Ich helfe dir, ja?"
Liam gab nur ein Brummen von sich. Ich stand auf und holte die Packung mit dem Salz aus einem Küchenschrank. Dann kippte ich eine ordentliche Menge in das Wasserglas, das ich von Mike bekommen hatte und rührte schnell alles mit einem Löffel um. Mit dem Wasserglas drehte ich mich wieder zu Liam. Ich schob einen Arm in seinen Nacken und versuchte ihn noch ein wenig mehr in eine aufrechte Position zu bringen.
„Du musst etwas mithelfen, bitte Liam"
„Mir ist so schlecht." Liam stöhnte. Doch ich spürte wie er versuchte sich aufzurichten. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und er stöhnte. Ich legte einen Finger an seinen Hals. Der Puls war noch immer viel zu niedrig, wenn er jetzt auch etwas schneller ging als eben. Doch das war nur die Anstrengung für Liam.
„Du machst das gut, warte." Ich schob mich hinter Liam, sodass er mit seinem Rücken gegen meinen Oberarm und meine Brust lehnte ehe er seinen Kopf ebenfalls zurückfallen ließ und dieser auf einer Schulter landete. Mein Kinn berührte kurz Liams Stirn, als ich mich ihm zudrehte.
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Hallo alle zusammen,
mein Buch neigt sich jetzt dem Ende zu und ich werde heute deswegen die letzten Kapitel veröffentlichen! :)
Freut euch also noch auf die letzten Kapitel!
Ciao.
C.N.
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