Kapitel 54
Was sollte ich darauf antworten? Nein, hast du nicht? Du wusstest es doch nicht besser? Beides war die Wahrheit, aber es klang einfach so hohl und nichts aussagend, dass ich einfach gar nichts sagte. Ich strich mit meiner Hand über Liams Brust, küsste ihn immer wieder auf den Oberarm und die Schulter und versuchte Liam irgendwie zu trösten. „Am nächsten Morgen stand sie vor meiner Haustür. Mom und Dad waren nicht da. Darum haben sie es nicht mitbekommen. Als ich die Tür aufgemacht habe, war ich so wütend gewesen. Ich wollte ihr alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf werfen. Ihr so wehtun, wie sie mir wehgetan hatte."
„Aber du hast es nicht?"
Liam schüttelte den Kopf. „Gott sei Dank. Hätte ich sie als Schlampe oder Hure bezeichnet... Das wäre der Gnadenstoß für sie gewesen. Ich habe schnell erkannt, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihre Augen waren verquollen und sie trug noch das Kleid, dass sie zum Ball anhatte. Ich dachte, dass sie es bereut und machte mir Hoffnung, dass ich, wenn sie mir nur genug Zeit gab, ich ihr wieder verzeihen könnte. Ohne ein Wort ging sie ins Bad und war lange unter der Dusche. Ich hörte sie weinen. Wirklich alles deutete in meinem Kopf darauf hin, dass es Reue war. Nicht mal im Entferntesten habe ich gedacht, dass Delilah... vergewaltigt wurde." Zitternd atmete Liam durch. „Also habe ich sie gefragt, wo sie gewesen ist, als sie in mein Zimmer kam. Sie antwortete nicht und zuckte mit den Schultern. Ich fragte mehrmals und irgendwann wurde es mir zu viel. Ich schrie sie an, dass wenn sie schon fremdging, sie auch so ehrlich sein sollte es zu sagen. Der Blick, mit dem sie mich bedachte, war fürchterlich. Schock, Wut und Scham in einem. Delilah denkt bis heute, dass ich ihr den Becher mit Absicht gegeben habe und wusste, das K.O. Tropfen drin waren."
„Wie hast du davon erfahren? Ich meine von den Drogen?"
„Sie hat es mir an den Kopf geworfen. Meinte, dass ich ihr nicht erst Drogen geben kann, um sie danach des Fremdgehens zu bezichtigen. Dass ich mir schön ausgemalt hatte, sie als die Böse dastehen zu lassen. Irgendwann wurden ihre Anschuldigungen sogar so verquer, dass sie annahm, ich hätte sogar noch ein Video davon gemacht."
„Sie brauchte einen Schuldigen. Jemand der abbekam, was sie nicht mit sich selbst ausmachen konnte." Ich spürte, wie Liam nickte. „Und ich war der perfekte Sündenbock. Nicht nur, weil ich gerade da war, sondern auch, weil ich es gesehen und nichts getan habe. Ich mache mir täglich Vorwürfe, dass ich ihr hätte helfen können. Aber ich... ich bin gegangen. Ich habe mich einfach umgedreht und bin gegangen." Liam schien noch immer fassungslos darüber zu sein, dass er nicht bemerkt hatte, was sich wirklich in dem Auto abgespielt hatte. „Ich habe ihr Leben zerstört."
„Wie ging es danach mit euch weiter? Wie kam es, dass ich zusammengeblieben seid?"
„Delilah veränderte sich. Zuerst wurde sie sehr ruhig. Sie zog sich immer weiter zurück von mir und allen anderen. Unsere neuen Kommilitonen mied sie. Ich versuchte täglich mit ihr zu reden, doch sie wollte nicht. Also hörte ich irgendwann auf und wartete, dass sie zurückkam. Eines Tages saß ich in der Cafeteria mit einem Mädchen, dass mir als Projektpartnerin zugeteilt wurde. Wir unterhielten uns gerade, als Delilah plötzlich vor mir stand, mich ähnlich wie am See zu sich heranzog und mich küsste." Liam lachte bitter auf. „Zuerst dachte ich, dass wieder alles gut werden wollte. Ich stellte Delilah als meine Freundin vor, doch nach ein paar Tagen merkte ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Delilah ließ sich von mir nicht anfassen. Sie ging sehr oft feiern, tanzte wild und eng mit anderen Männern, aber ich durfte sie nie berühren. Eines Tages sprach ich sie darauf an und sie... Delilah lachte mich aus und sagte, dass sie nur meine Freundin spielte, weil ich kein Glück verdient hatte. Kein Mädchen sollte jemals durchmachen müssen, was sie erlebt hatte. Ich hatte kein Recht glücklich zu werden."
„Und so wurdet ihr zu diesem Paar, das ihr heute seid", schloss ich. Eine Träne rann mir die Schläfe herunter und landete auf der Tagesdecke. Wieder nickte Liam. „Ich dachte, mit dem Antrag würde ich ihr zeigen, dass ich bereit war, alles mit ihr zu überstehen. Sie nahm den Antrag an. Ich hatte keinen Ring für sie, weil es mehr eine spontane Idee war und ich keinen Ring fand, der zu Delilah passte, den ich hätte bezahlen können. Aber wir konnten es nicht überstehen. Sie glaubte mir kein Wort. Das tut sie heute noch nicht. Aber ich hätte doch niemals zugelassen, dass ihr etwas passiert. Sie wurde wütend, weil ich sie meine Ausflüchte sat hatte. Das erste Mal holte sie aus, als wir im dritten Semester waren. Kurz nach meinem Antrag. Es wurde zu ihrem Ventil."
Ich umarmte Liam fest. Nicht nur, um ihn zu trösten, sondern auch um mir selbst das Gefühl zu geben, dass Liam jetzt in Sicherheit war. Er wurde über ein Jahr misshandelt. Von dem Mädchen, dass er einst geliebt hat, dass ihn einst geliebt hat. Das Leben schrieb fürchterliche Geschichten. Und alles, was ich im Moment tun konnte, war Liam festzuhalten, und ihm den nötigen Halt und die Unterstützung zu geben, die er in den letzten Jahren hätte gebrauchen können.
„Anfangs wehrte ich mich noch, aber ich merkte schnell, dass Delilah nur noch wütender wurde, je mehr ich mich gegen sie wehrte. Also ließ ich sie gewähren. Wann die Männergeschichten angefangen haben, kann ich dir nicht sagen. Vielleicht war Mike der erste Versuch, einen Mann aufzureißen. Vielleicht hatte sie vorher schon viele gehabt. Ich weiß es nicht. Anfangs tat sie es heimlich. Irgendwann fand sie, dass es mich auch nur noch weiter erniedrigen würde, wenn sie es direkt vor meiner Nase tun würde."
„Das ist alles fürchterlich unfair. Euch beiden gegenüber." Ich stemmte mich auf meinen Ellenbogen und sah auf Liam herab. Die Sonne war schon fast komplett untergegangen, weshalb es im Zimmer schon fast dunkel war. „Du hast nichts falsch gemacht, Liam. Ich weiß, das willst du nicht hören, weil du es nicht glaubst, aber das ist, was ich glaube. Ich vertraue dir und ich weiß, dass du diesen Darren in Stücke zerrissen hättest, wenn du gewusst hättest, was in dem Auto wirklich passiert ist."
„Das sollte ich vielleicht auch noch erwähnen."
Ich blinzelte. „Was meinst du?" Liam mied den Blickkontakt und sah an die Decke. „Ich habe eine Vorstrafe. Ein halbes Jahr auf Bewährung wegen Körperverletzung."
Geschockt riss ich die Augen auf. „Was hast du getan?" Liams Mund verzog sich zu einem humorlosen Lächeln. „Ihn in Stücke gerissen, wie du es so schön genannt hast."
„Aber... Hat Darren auch eine Strafe bekommen?" Liam schüttelte den Kopf. „Nein, weil keiner von uns gesagt hat, warum ich auf ihn losgegangen bin." Fassungslos starrte ich Liam an. „Was? Aber wieso?"
„Darren aus Eigenschutz und ich, weil ich Delilah geschworen habe, es nie jemandem zu erzählen."
„Ja aber-"
„Nichts aber. Ich hatte es geschworen und habe nie jemandem von dieser Nacht erzählt." Liam drehte den Kopf und sah mich an. „Bis heute." Liams Augen wurden groß. „Nat." Er setzte sich auf und umfasste mein Gesicht mit seinen Händen. „Nicht weinen, hey." Ein Schluchzen löste sich aus meiner Kehle. „Weiß... weiß Delilah davon?" Liam schüttelte den Kopf. „Nein. Ein weiterer Grund, weshalb ich nichts gesagt habe. Darren ist nach New York gegangen und ist nie wieder in unseren Leben aufgetaucht."
„Wie kann sie nicht sehen, dass dich diese ganze Sache so fertig gemacht hat? Dass sie es noch immer tut? Ich verstehe, dass es ihr schlecht ging, aber sie hätte sich Hilfe holen können. So viele Menschen hätten ihr beigestanden. Du wärst bis zum Ende bei ihr geblieben."
„Wäre ich, wenn du nicht in mein Leben gestolpert wärst." Liam wischte Tränen von meinen Wangen.
„Du musst mit ihr reden, ihr sagen, dass sie vollkommen die Tatsachen verdreht hat. Nicht nur deinetwegen. Delilah wird nie wieder eine richtige Bindung zu jemandem aufbauen können, wenn sie denkt, dass sogar ihr jahrelanger Freund sie so hintergangen hat."
„Wie machst du das?"
„Was meinst du?"
„So viele Frauen würden Delilah trotzdem zum Teufel scheren, aber du siehst beide Seiten. Du nimmst dieses Ereignis nicht als Entschuldigung für ihre Taten, aber du verurteilst sie auch nicht. Stattdessen denkst du daran, wie du ihr am besten helfen kannst. Natalie Roy. Bist du echt?" Liam sah mich ehrlich erstaunt an. Doch es war nicht das Erstaunen, dass mich erneut zu Tränen rührte. Es war die pure Liebe, die sich in seinen Augen widerspiegelte.
„Auch wenn ich sie dafür hasse, was sie dir angetan hat und ich sie deswegen gern zur Rechenschaft ziehen würde..."
„No way!"
„Schon gut. Schon gut. Ich sagte ja: 'auch wenn'. Was sie in dieser Nacht erlebt hat, hat ihr Leben komplett aus den Fugen gehoben. Von heute auf morgen war sie nicht mehr das unbeschwerte glückliche Mädchen. Sie hatte Angst und die musste sie kompensieren. Die Rückzugsphase hat ihr nicht den nötigen Schutz gegeben, den sie gebraucht hätte, also ist sie in die Offensive gegangen. Sie benutzt Männer, um ihre Macht ihnen gegenüber sich selbst demonstrieren zu können und sie hat dich misshandelt und klein gehalten, weil sie nicht wollte, dass du glücklich wirst. Weil sie sich von dir betrogen fühlt." Ich umfasste Liams Handgelenke. Alles in mir rief danach sofort zu Delilah zu fahren, sie an einen Stuhl zu binden und so lange auf sie einzureden, bis sie in Tränen ausbrach und endlich bereit war, sich der Vergangenheit zu stellen. Doch ich war mir nicht sicher, ob das der richtige Weg war. Ob es nicht besser wäre, einen weniger offensiven Weg zu wählen.
Liam sah mich schweigend an. Ich wusste nicht, wann ich mich selbst auch aufgesetzt hatte, dafür drehten sich die Gedanken in meinem Kopf viel zu sehr. Er betrachtete jeden Zentimeter meines Gesichts und fuhr mit den Daumen meine Wangen entlang. „Du kannst unmöglich real sein. Wie schaffst du es, an nur einem Abend, alles so klar auf den Punkt zu bringen und logisch darstellen zu können? Glaubst du wirklich, dass sie mit den Männern schläft, nicht um mir wehzutun, sondern um sich stark zu fühlen?"
„Ich denke, es ist beides zusammen. Aber mehr steht im Fokus, dass sie sich Männern überlegen fühlt, wenn sie sie verführt. Dass sie dir damit wehtut, ist nur ein Pluspunkt. Andere Mädchen würden Angst vor Männern bekommen, andere sich vor jeder Person zurückziehen, oder sich vielleicht sogar das Leben nehmen. Jeder Mensch reagiert anders auf solche Geschehnisse. Dass Delilah diesen Weg wählt, war ebenso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, wie jede andere Art, mit der Sache umzugehen."
„Hattest du einen Psychologiekurs?" Liam hob eine Augenbraue und ich musste lächeln, weil ich spüren konnte, dass wir das ernste Gespräch hinter uns gelassen hatten und Liam wieder in der Gegenwart angekommen war. „Ja, tatsächlich. Im ersten Semester hatte ich das." Liam blinzelte. Damit hatte er nicht gerechnet. Ich kicherte leise und Liam entspannte sich vollauf. Ohne Vorwarnung ließ er sich zurückfallen und zog mich mit sich.
„Danke, dass du mir zugehört hast."
„Immer", versicherte ich Liam.
„Ich habe Mike nichts davon erzählt und ich glaube auch, dass ich das demnächst nicht tun werde. Einmal darüber reden war okay. Es tat sogar wirklich gut. Aber ich glaube nicht, dass ich demnächst nochmal alles Revue passieren lassen will."
„Das ist verständlich. Ich glaube, Mike würde es auch nicht von dir verlangen. Wenn du irgendwann bereit bist, ihm eine Kurzfassung zu geben, dann wäre er damit schon glücklich. Aber ich denke, Mike vertraut mir und er weiß, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, damit du glücklich wirst. Damit du verstehst, dass du nicht schuld bist."
„Nat..."
„Nein Liam. Was damals passiert ist, ist nicht deine Schuld. Du hast nicht die K.O. Tropfen in den Becher getan, du hast Delilah nicht zum Auto gebracht, du hast sie nicht vergewaltigt und auch wenn du dich umgedreht hast, hast du das nur getan, weil du dachtest, sie betrügt dich. Andernfalls hättest du Darren gleich vor Ort in seine Einzelteile zerlegt. Und dann hätte dir jeder Richter recht gegeben."
„Dass ich also vorbestraft bin, ist nicht schlimm für dich?"
Ich grinste. „Das verleiht dir etwas Verwegenes. Ein bisschen was von einem Bad Boy Image. Ein richtiger Twist." Dann zwinkerte ich und Liam schnaubte. „Ich verstehe, warum du es getan hast", sagte ich ernst und Liam sah mich dankbar an.
Dann würde sein Blick verhangen. „Bleib heute Nacht bei mir, Nat."
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