Kapitel 5
„Natalie?" Ich wurde leicht angetippt „Hey, Nat?" Erschrocken sah ich auf, als jemand seine Hand auf meine legte. Liam sah mich besorgt an. „Oh, Entschuldigung. Ich war in Gedanken versunken." Liam runzelte die Stirn, ließ seine Hand aber an meiner Wange liegen. „Nat, was hast du?" Gänsehaut breitete sich aus, als Liam mich plötzlich mit einem Spitznamen ansprach. Ich hatte nie einen Spitznamen gehabt. Mein Herz machte einen kleinen Sprung. „Es geht mir gut." Doch Liam schüttelte den Kopf. „Nat, du weinst." Erschrocken fuhr ich zurück. Liam ließ seine Hand sinken und ich legte meine Hände auf meine Wangen. Tatsächlich, sie waren nass. „Das... ich... Ich weiß auch nicht, warum..." Beschämt senkte ich den Kopf und ließ die Hände sinken. „Natalie, Liebes." Nun war es Grandma, die ihre Hand auf meinen Arm legte. Doch den Kopf hob ich nicht. „Es ist in Ordnung", versprach sie, doch ich hielt den Kopf immer noch gesenkt. „Natalie, sieh mich bitte an." Ich seufzte einmal innerlich und versuchte mich damit ein wenig selbst zu beruhigen. Dann hob ich schließlich den Kopf und sah Grandma an. Ich versuchte so gut es ging, Liam auszublenden, denn es war mehr als peinlich hier zu sitzen und einfach anzufangen zu heulen. „Es tut mir so leid." Grandma sah mich gequält an und automatisch zog sich mein Herz zusammen. Das hatte ich doch nicht gewollt. Ich wollte nicht, dass Grandma sich durch mich schlecht fühlte. Eigentlich hatte ich doch das genaue Gegenteil im Sinn gehabt, als ich beschlossen hatte, nach San Francisco zu gehen. Ich wischte mir mit den Handrücken über die Wangen und schüttelte dann den Kopf. „Entschuldige dich nicht." Mein Versuch, Grandma ein Lächeln zu schenken, scheiterte kläglich und doch schien sich Grandma ein bisschen zu beruhigen. „Ich bin nur etwas gefühlsduselig. Das sollte man nicht weiter beachten." Bemüht, wirklich heiter zu klingen versuchte ich Grandmas letzte Bedenken zu zerstreuen und letztlich nickte sie und ließ es auf sich beruhen.
Liam tat es jedoch nicht. Ich spürte seinen prüfenden und auch besorgten Blick auf mir und war mir dessen zu einhundert Prozent bewusst. Dennoch wollte ich jetzt nicht weiter darüber reden. Ich wollte nie darüber reden. Wie dumm und vor allem mies müsste es sich anhören, wenn ich den beiden erzählen würde, dass ich auf Liam in gewisser Weise eifersüchtig und neidisch war? Ich wusste doch selber, dass das totaler Unsinn war. Aber Kopf und Herz waren nicht das erste Mal entzweit. Während mein Kopf meist versuchte, alles so rational wie möglich zu sehen, machte mir mein Herz ständig einen Strich durch die Rechnung. Aber wem erging das nicht so?
„Du bist dir sicher, dass alles in Ordnung ist?", fragte Liam auch noch einmal nach. Nun musste ich ihm in die Augen sehen. Das braun schien sich ein wenig verdunkelt zu haben und das Glänzen war wieder verschwunden. Na das hatte ich mal wieder super hinbekommen. Ich ermahnte mich innerlich noch einmal ehe ich ihm zunickte. „Ja, es ist alles nur etwas neu für mich." Liam sah mich einen Augenblick lang nur an, ehe er langsam nickte.
„Ich war ziemlich überrascht, als Eloise mir erzählte, dass sie eine Enkelin in Schottland hätte. Sie hatte dich nie erwähnt." Grandma hüstelte. Verwirrt sah ich zu ihr herüber. Hatte sie Liam nicht erzählt, warum ich so plötzlich in ihr Leben getreten war? Nun, wer wollte so etwas auch in die Welt posaunen? „Dass Karen eine Tochter hatte, hatte auch sie nie erwähnt." Liams Stimme nahm einen fragenden Unterton an. Er wusste wirklich nicht, was genau passiert war, dass ich jetzt plötzlich bei Grandma eingezogen war. Ich wusste nicht, warum Grandma es ihm nicht erzählt hatte, doch ich hoffte, dass sie sich nicht für mich schämte. Das würde meine ganze Freude wieder zunichtemachen.
„Das ist eine ziemlich komplizierte Geschichte", gab ich schließlich nur zurück. Liam verstand sofort und fragte nicht weiter nach. Stattdessen wandte er sich wieder Grandma zu und fragte nach ein paar Personen, die Grandma kennen musste. Da ich keine Ahnung hatte, über wen die beiden redeten, schaltete ich mich aus dem Gespräch aus. Ich bemühte mich nicht wieder in die deprimierenden Gedanken zu verfallen, aber es war schwer Liam nicht zu beneiden, wie er selbstverständlich alles aus dem Leben meiner Grandma wusste. Ich hingegen hatte keinen blassen Schimmer, von nichts und niemanden. Ja, das war mehr als deprimierend.
Irgendwann – nach einem weiteren Stück Kuchen und ein paar Tassen Pfefferminztee verabschiedete Liam sich. Grandma drückte ihn in der Küche einmal kurz und bat mich dann Liam zur Tür zu begleiten, weil sie sich um das Abendessen kümmern wollte. Ich ging voraus und wollte die Tür gerade öffnen, als Liam mir zuvor kam und ich sanft am Ellenbogen zurückhielt. „Natalie?" Überrascht drehte ich mich um, da ich keine Ahnung hatte, was Liam jetzt noch von mir wollte, aber scheinbar nicht vor Grandma sagen wollte. „Was gibt's?"
„Ich weiß wirklich nicht, wo du auf einmal herkommst. Ich muss sagen, als Eloise mir sagte, dass sie eine Enkelin in Schottland hat, war ich mehr als skeptisch. Ich mein, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass plötzlich jemand ganz neues in der Familie auftaucht? Ich dachte, jemand wollte Eloise schaden, sie ausnehmen oder sowas, aber du scheinst weder das eine noch das andere zu wollen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass du einfach so aufgetaucht bist, aber ich habe das Gefühl, dass du kein schlechter Mensch bist und ich dir Eloise anvertrauen kann." Ich nickte nur, da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. „Aber solltest du ihr doch wehtun wollen, dann werde ich dir das heimzahlen, dessen solltest du dir sicher sein." Liams Augen verdunkelten sich, während er seine Kiefermuskeln anspannte. Ich schaute ihn jedoch nur überrascht an und nickte wieder. Es war irgendwie niedlich, dass er sich so um Grandma sorgte. Sie schien wirklich so etwas wie eine Ersatzgroßmutter zu sein, denn sonst würde er sich nicht um sie sorgen. Liam hatte mir eben sehr viel über sich verraten. Er war kein schlechter Kerl, da er sonst mit Sicherheit nicht so um das Wohlergehen anderer besorgt wäre. Er würde es wahrscheinlich sogar verstehen, wenn ich ihm meine Geschichte erzählen würde. Ich glaube, damit könnte ich seine Bedenken komplett zerstreuen. Aber ich fühlte mich noch nicht bereit dazu, zu erzählen, dass ich eigentlich gar nicht gewollt und nur ein Unfall war. Ohne verletzlich zu wirken, konnte ich es nicht erzählen.
„Ich werde ihr nicht wehtun. Das will ich wirklich nicht." Liam nickte und ließ meinen Arm los. Ein Prickeln setzte ein und durchlief meinen ganzen Körper, sodass ich mir automatisch über die Oberarme reiben musste, um die Gänsehaut zu vertreiben. „Ich behalte dich im Auge", versprach Liam ehrlich und öffnete nun selbst die Tür. „Das ist nur eine Sicherheitsmaßnahme, versteh das bitte nicht falsch."
„Okay. Wenn du dich dadurch besser fühlst, ist das für mich in Ordnung." Liam nickte noch einmal und verschwand dann um die Ecke. Das Knarren der Treppe verriet mir, dass er schnell die Stufen hinabstieg. Allein die Tatsache, dass er mir noch einmal ins Gewissen reden wollte, ließ mich Liam nun noch mehr mögen.
Mit einem Mal wurde es still im Hausflur. Seufzend schloss ich die Wohnungstür und ging wieder zu Grandma in die Küche. Sie schnitt gerade ein bisschen Gemüse auf, als ich mich neben sie stellte. „Kann ich dir bei irgendwas helfen?", fragte ich, während ich ihr zusah. Grandma schüttelte aber den Kopf. „Nein nein. Setz dich ruhig hin. Ich mach das schon."
„Okay, danke. Aber Grandma, du weißt, dass ich dir wirklich helfen kann und ich das gerne mache. Ich will nicht, dass du alles für mich machst, was mit dem Kochen und Haushalt zu tun hast." Grandma legte das Messer auf das Schneidebrett und drehte sich zu mir. „Natalie, Liebes. Ich weiß, dass du sicherlich so erzogen wurdest, dass du immer fleißig sein und helfen sollst. Aber ich würde dich trotzdem gern ein wenig verwöhnen. Mir fehlen immerhin 20 Jahre, in denen ich das hätte tun können." Ich lächelte traurig. Ja, die fehlten uns wohl wirklich. „Du hattest andere, um die du dich kümmern konntest", antwortete ich schmunzelnd und dieses Mal tat der Gedanke nicht mehr ganz so stark weh wie vorhin. „Liam ist wirklich so etwas wie mein Enkel, aber ich habe jetzt auch dich, also gewöhne dich schnell daran, dass ich dich liebend gern von vorne bis hinten bedienen würde."
Grandma war so lieb zu mir. Wie konnte ich nur so böse sein und solche schlechten Gedanken haben? Das hatten weder sie noch Liam verdient. Die beiden konnten nichts für mein Leben. Und sie waren beide bereit mich in ihr Leben zu lassen. Dass Liam mir noch etwas skeptisch gegenübertrat, fand ich sogar irgendwie angenehm. Ich wusste jetzt, dass Grandma immer jemanden hatte, der sich um sie gekümmert hat. Das beruhigte mich doch sehr. Dennoch war ich immer noch ein bisschen über seine letzten Worte an der Tür verwundert.
Anstatt mich hinzusetzen, blieb ich neben Grandma stehen, drehte mich aber mit dem Rücken zur Arbeitsfläche, um mich anlehnen zu können. „Grandma, was hast du Liam eigentlich gesagt, wo ich herkomme?" Grandma nahm das Messer wieder in die Hand und Schnitt die Paprika weiter klein. „Nun, ehrlich gesagt habe ich ihm nicht viel erzählt. Ich hatte ihn gefragt, ob er für mich das Gästezimmer neu einrichten könnte, weil du bei mir einziehst. Er dachte, ich scherze, aber als er merkte, dass ich es ernst meinte, wurde er sehr misstrauisch. Seine Bedenken konnte ich aber recht schnell zerstreuen." Ich nickte, wusste es aber besser, denn Liam zweifelte noch immer. „Und warum hast du ihm nicht gesagt, warum ich erst jetzt herkomme?" Grandma seufzte bei meiner Frage. Ich hatte sie so vorsichtig und unsicher gestellt, dass ich mir sicher war, dass sie meine Besorgnis heraushören konnte. „Liam ist fast wie ein Familienmitglied, aber ich hatte das Gefühl, dass du entscheiden sollst, wem du deine Geschichte erzählen willst und wem nicht. Es fühlte sich nicht richtig an. Darum habe ich ihm gesagt, dass er mir vertrauen soll, und ich diejenige war, die nach all den Jahren den Kontakt zu dir gesucht hat und es nicht andersherum war." Irgendwie fiel mir ein Stein von Herzen. Sie hatte sich nicht für mich geschämt und wollte auch nicht das Gesicht der Familie wahren. Sie wollte mich einfach nur schützen. Aus einem Impuls heraus drehte ich mich zu Grandma und umarmte sie von der Seite. „Danke Grandma. Ich bin froh, dass du mich gefunden hast." Grandma tätschelte mit ihrer freien Hand meinen Arm.
Nachdem ich mich wieder von Grandma gelöst hatte, war das Thema beendet und ich setzte mich brav an den Tisch, um darauf zu warten, dass Grandma das Abendbrot zubereitete. Sie machte ein paar leckere Sandwich und schneller als wir gucken konnten, waren sie auch schon alle aufgegessen und wir beide satt.
Die erste Nacht in meinem neuen Zuhause, was eigentlich auch nur ein vorübergehendes Zuhause sein sollte, war sehr unruhig. Immer wieder träumte ich von Grandma, meiner Mutter und auch Liam zusammen mit einer Frau. Und doch war ich froh, dass ich hier ein Zimmer für mich hatte. Ich konnte die Tür verriegeln wann ich wollte und hatte mein kleines Nachtlicht in eine Steckdose gesteckt. Gut, dass ich an einen Adapter gedacht hatte. Ich würde mir wohl ein neues Nachtlicht, Ladekabel und anderes holen müssen, damit ich keine Probleme bekam.
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