Das Taxi hielt vor unserer Haustür und ich war schon fast rausgesprungen, als mich der Taxifahrer daran erinnerte, dass ich noch zahlen müsste. Schnell gab ich ihm das Geld und ignorierte das fatale Loch, dass diese eine Fahrt in mein Portemonnaie verursacht hat. Unterwegs hatte ich versucht Liam anzurufen, er war jedoch nicht an sein Handy gegangen. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber in meinem Kopf schrillten die Alarmglocken gewaltig. Irgendwas in mir sagte, dass ich Liam nicht mit Delilah hätte allein lassen sollen.
Hastig lief ich die Treppe zu unserer Wohnung hoch. Ich hatte keine Ahnung, ob Liam hier war. Ich hoffte es einfach. Sollte er nicht hier sein, würde ich Mike anrufen. Ich wusste nicht, wo Delilahs Wohnheim lag, da mich das bisher nie sonderlich interessiert hatte. Er musste einfach hier sein.
Fluchend, weil ich gefühlt eine Ewigkeit brauchte, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, öffnete ich schließlich die Wohnungstür und stoppte sofort in meiner Bewegung.
„Du hast kein recht dazu! Jeder, nur du nicht und das weißt du auch!" Delilahs schrille Stimme hallte durch die Wohnung wieder. Schnell aber leise schloss ich die Tür hinter mir. War ich doch zu früh zurückgekommen? Ich schüttelte den Kopf. Delilah brauchte nicht mehr Zeit mit Liam verbringen.
„Delilah, bitte." Liam klang außer Atem. Im Gegensatz zu Delilahs lauter Stimme wirkte seine schwach. Die Alarmglocken in meinem Kopf wurden lauter. Ich zog meine Schuhe aus und schlich zu Liams Zimmer, aus dem die Stimmen der beiden kamen. Die Tür war nur angelehnt, was erklärte, warum ich die beiden so deutlich verstehen konnte. Sein plötzliches Stöhnen ließ mich zusammenzucken. Was zum Teufel?
„Du gehörst mir Liam. Mir allein." Erneut stöhnte Liam. Delilah atmete laut aus.
Unzählige Horrorszenarien spielten sich in meinem Kopf ab. Liam würde doch nicht jetzt noch mit ihr schlafen? Mein Herz schien zu zerreißen. Ich trat einen Schritt zurück und schüttelte geschockt den Kopf. Das wollte ich nun wirklich nicht sehen. Hören auch nicht.
„Du hast nicht das recht glücklich zu sein!", schrie Delilah. Ich stoppte in meiner Rückwärtsbewegung und runzelte die Stirn. Nach Bettgeflüster klang das nicht. Ich fasste einen Entschluss. Was immer ich sehen würde, ich würde mein Herz davor verschließen. Vorerst. Weinen konnte ich immer noch, wenn ich allein war. Ich atmete einmal die durch. Dann trat ich auf Liams Zimmertür zu und machte sie mit einem Schwung auf.
Eben noch hatte ich mir geschworen, mein Herz für den Augenblick zu verließen. Das habe ich getan. Aber nicht dafür, was ich gerade sah. Nicht dafür, was sich mir gerade offenbarte. Erst fragte ich mich wieso. Dann, warum es mir nicht früher aufgefallen war. Und plötzlich wurde ich unglaublich wütend.
Liam kniete vor seinem Bett, die Augen seltsam leer. Delilah hielt Liam an dem Kragen seines Shirts fest und stand dicht vor ihm. Die eine Hand in Liams Shirt gekrallt, auf ihn herabblickend und die andere Hand erhoben und zu einer Faust geballt. Ihre ganze Körperhaltung strahlte so viel Aggression aus, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Sie schlug ihn. Delilah schlug Liam. Die Bedeutung dieser Erkenntnis sickerte ganz langsam in mein Bewusstsein. Der Schock lähmte mich. Wie eingefroren stand ich in der Tür und starrte die beiden, die einst ein glückliches Paar gewesen sein müssen, an, ohne dass sie es bemerkten.
„Du willst sie? Schön. Aber vorher werde ich dir deinen letzten Rest Würde nehmen", spie Delilah Liam entgegen. Doch Liam reagiert nicht. Weder wehrte er sich noch gab es sich Mühe, Delilah aufzuhalten. Er ließ es einfach über sich ergehen. Das war von allem wohl das Schlimmste. Liam schien es nicht für nötig zu halten, sich zu schützen. Er mochte sich dem ausliefern. Ich hatte jedoch nicht vor, Delilah damit einfach durchkommen zu lassen.
„Wenn du nicht sofort von Liam ablässt, schwöre ich dir, wirst du es bereuen." Eisig fixierte ich Delilah, die sich mit schreckgeweiteten Augen zu mir umdrehte. Auch Liam schien aus seiner Trance zu erwachen, als er mich erblickte. Ich konnte seinen Blick jedoch nicht erwidern, da ich Delilah noch immer fixierte.
Langsam und eindeutig nicht freiwillig, ließ Delilah Liam los und senkte die Hand, mit der sie zum nächsten Schlag ausholen wollte. „Du hast keine Ahnung."
„Das mag sein. Trotzdem werde ich nicht zulassen, dass du Liam weiter verletzt. Ich will gar nichts von dir hören, also mach deinen Mund wieder zu und verschwinde. Sofort." Delilah rührte sich nicht. Ich kniff die Augen zusammen. Im Moment war ich sehr versucht sie an den Haaren aus dem Zimmer zu ziehen, ihr die Augen auszukratzen oder sie vielleicht doch aus dem Fenster zu werfen. Die Möglichkeiten waren unendlich. Ich deutete zur Tür. „Verschwinde. Sonst vergesse ich mich." Ich wurde lauter. „Raus!" Erschrocken zuckte Delilah zusammen. „Hau. Ab."
Delilah fing sich wieder, warf mir noch einen wütenden Blick zu und rauschte dann aus dem Raum. Kurz darauf fiel die Haustür laut ins Schloss und Stille legte sich über die Wohnung, über Liam und über mich. Mein Herz drohte aus meiner Brust zu springen so unregelmäßig wie es klopfte. Zitternd atmete ich ein und die Wut verschwand so fluchtartig aus meinem Körper, dass meine Knie weich wurden und unter mir nachgaben.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Ich hatte Liam schon einmal so stöhnen gehört, dachte ich geschockt, doch ich war an der Tür vorbeigelaufen und hatte Liam nicht geholfen. Dabei hätte er Hilfe gebraucht. Doch ich war traurig, verletzt und wütend in mein Zimmer gestürmt und hatte mein Kissen mit Tränen ertränkt. Ich habe Liam im Stich gelassen. Wie hatte es mir nicht auffallen können? Immer wieder hatte ich gesehen, dass Delilah regelrecht über Liam regierte, dass sie ihn an der kurzen Leine hielt und Liam mit eingezogenem Kopf und schweigend alles hatte mit sich machen lassen. Herrgott, als ich sie das erste Mal getroffen habe, hat sie Liam eine schallende Ohrfeige wegen nichts gegeben. Und Liam selbst hatte so viele Anzeichen geliefert. Die blauen Flecke, die Panik, wenn ihn jemand erschreckte oder sich jemand ruckartig auf ihn zubewegte. Wieso war es mir nicht aufgefallen?
Ich fand mich im zusammengesunken auf dem Boden wieder. Mein Blick verschwamm und ich blinzelte mehrmals, um den Fokus nicht zu verlieren. Wieso war mir auf einmal so kalt? „Natalie." Unter der plötzlichen Berührung zuckte ich zusammen.
„Nicht weinen, Nat." Ich spürte Liam mehr neben mir, als dass ich ihn sah.
„Liam. Ich habe dich im Stich gelassen."
„Was redest du da? Du hast mir geholfen. Ich danke dir. Auch wenn es... unangenehm ist." Liams Stimme war immer leiser geworden. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und sah zu Liam auf. „Ich hätte es wissen müssen. Etwas ahnen müssen. Irgendwas. Es tut mir so leid." Ohne weiter darüber nachzudenken, legte ich meine Arme um Liams Hals und zog mich zu ihm hoch. Erstarrt ließ Liam die Umarmung über sich ergehen. Als ich merkte, dass er sie nicht erwiderte, löste ich mich hastig wieder von ihm. Beschämt senkte ich den Blick. Es war nur logisch, dass Liam jetzt nicht angefasst werden wollte. „Tut mir leid."
Liam griff nach meiner Hand. „Ich weiß, dass ich gerade wie ein Häufchen Elend wirke und sicherlich ganz weit in deinem Ansehen nach unten gerutscht bin. Ich wollte dich nicht schockieren, erst recht nicht zum Weinen bringen. Aber ich Nat, ich verspreche dir, mich zu bessern. Dir eine Stütze zu sein. Ein Mann... Freund, auf den du stolz sein kannst. Bitte gib mir eine Chance, damit ich dir beweisen kann, dass ich wirklich der nette Kerl bin, den du meinen Eltern beschrieben hast."
Mit jedem Wort, dass Liam von sich gegeben hat, wurden meine Augen größer und der Schmerz in meiner Brust immer stärker. Dachte er wirklich, dass meine Gefühle für ihn verschwinden konnten? Dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte, weil ich herausgefunden hatte, dass Delilah Liam misshandelt hatte?
„Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um dir das zu sagen, aber..."
„Bitte Nat, ich werde alles für dich tun."
„Hör mir bitte zu."
Liam schloss seinen Mund wieder. Er war wahrscheinlich drauf und dran gewesen, mich erneut um eine Chance zu bitten. Schließlich nickte er, auch wenn ich deutlich sehen konnte, dass er erwartete, ich würde ihn jetzt in den Wind schießen. Liam hatte Probleme, die hatte ich auch. Zum Teil wusste er von ihnen und nun kenne auch ich einen Teil seiner Probleme. Das war für mich alles andere als ein Grund uns nicht die verdiente Chance zu geben, die wir beide verdienten.
„Du bist der nette Kerl, den ich deinen Eltern beschrieben habe. Du bist derjenige in den ich mich verliebt habe. Daran wird sich nichts ändern. Es tut weh, zu wissen, dass du bisher allein da durchmusstest, aber ich will dir beistehen. Wenn du mich lässt. Dann können wir einen Weg finden. Erinnerst du dich an dein Versprechen?"
Liam nickte. Also lächelte ich. „Ich werde dich nicht heute fragen. Vielleicht auch nicht morgen. Ich möchte, dass du es mir erzählen willst. Auch wenn ich gesagt habe, dass ich, wenn dann alles erfahren will. Aber ich möchte, dass du bereit dafür bist."
Liam drückte meine Hand und sah mich schweigend an. Plötzlich atmete er zitternd aus und ließ den Kopf hängen. Ich wollte ihm so gern nah sein. Doch ich wusste nicht, ob er es mögen würde. Wie sollte ich mit Liam jetzt umgehen? Ich fragte mich, wie oft Delilah Liam wohl geschlagen hatte. Täglich? Einmal in der Woche? Einmal im Monat? Es war schlimmer geworden, hatte Liam seinen Eltern gesagt. Aber seit wann? Schlimmer seit ich da bin? War ich mit Schuld an der ganzen Sache? Dieser Gedanke machte mich fertig. Und Mike? Wusste er nichts von dem? Wie hatte Liam es so lange verheimlichen können? Wann hatte Delilah überhaupt damit angefangen? In meinem Kopf wirbelten endlos viele Fragen durcheinander. Natürlich wäre es mir am liebsten, wenn Liam jetzt sofort alles erklären würde. Doch ich musste ihm die Zeit geben, die er brauchte. Wenigstens das konnte ich für ihn tun.
Ein Schluchzen riss mich aus meinen Gedanken. Ein Tropfen fiel auf meine Hand, die Liam noch immer umklammert hielt. Ich sah von unseren Händen auf. Liams Schultern zuckten. Ich beugte den Kopf ein Stück, um Liams Gesicht sehen zu können.
Einige Strähnen verdeckten sein Gesicht. Sie waren länger geworden in den letzten Wochen. Doch sie konnten nicht davor hinwegtäuschen, dass Liam gerade zusammenbrach. Er schluchzte erneut und alles in mir zog sich schmerzhaft zusammen. Ich drückte Liams Hand und er erwiderte den Druck. Tränen sammelten sich auch in meinen Augen. Wir waren beide wohl wirklich ziemlich angeknackst, dachte ich und verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln.
„Ich will dich so sehr, aber ich weiß nicht, ob ich dich verdient habe", brachte Liam mit tränenerstickter Stimme hervor. Meine Tränen zurückzuhalten war jetzt keine Option mehr. „Du hast alles Gute dieser Welt verdient, Liam." Er schüttelte den Kopf, sah aber nicht auf. „Nein. Ich wünschte es wäre so."
„Willst du mich von dir stoßen, weil du denkst, dass du nicht gut genug für mich bist?"
Liam riss den Kopf hoch und sah mich geschockt an. Genau das hatte ich bezweckt. „Nein! Niemals." Erneut schüttelte Liam den Kopf. „Das darfst du noch nicht mal denken, Nat."
„Dann hör du auf, davon zu sprechen, dass ich zu gut für dich sei. Das stimmt nicht. Und das weißt du eigentlich auch. Ich will bei dir sein. Du bei mir. Wo liegt also das Problem?"
Liam runzelte die Stirn und überlegte eine Weile ehe er lächelte. „Lass uns glücklich sein."
Nun musste ich grinsen. Dann sah ich Liam bittend an. „Darf ich dich anfassen?"
Er wirkte überrascht, nickte aber schließlich langsam. Also hob ich meine Hand und legte sie an seine Wange. Ich wischte mit dem Daumen die Tränenspuren fort und überlegte, wie es sein konnte, dass Liam keine blauen Flecken im Gesicht hatte.
„Darf ich dich um noch etwas bitten?" Dieses Mal nickte Liam bereitwilliger. „Kannst du mir zeigen, wo sie zugeschlagen hat? Ich will nur gern sehen, ob ich irgendwas für dich tun kann." Wie erwartet sah ich, dass Liams Blick sich wieder verschloss. Zu meiner Überraschung seufzte er jedoch kurz darauf und nickte. „Der Oberkörper", sagte er schließlich und löste seine Hand aus meiner, um sich kurz darauf das Shirt auszuziehen. Verdattert sah ich Liam an, als er das Shirt beiseite warf. „Keine Geheimnisse haben wir gesagt", erklärte er nur und so nickte ich.
„Die blauen Flecken, die ich den einen Morgen bei dir gesehen habe..." Liam unterbrach mich mit einem erschöpften Nicken. Ich hatte es direkt vor meiner Nase gehabt. Direkt davor und ich habe es nicht gesehen. Niemand. „Und Mike?"
„Der weiß nichts. Und... ich würde dich bitten, es ihm nicht zu sagen." Ich hatte nicht das Recht, jemandem hiervon zu erzählen, also nickte ich und schaute mir dann Liams Oberkörper an. Ich sah auf seinem Brustkorb drei rote Stellen, die sicherlich noch zu blauen Flecken werden würden, doch tiefergehende Wunden fand ich nicht. Auf seinem Rücken entdeckte ich zwei ältere Flecken. Liam sagte nichts zu ihnen, also war auch Daliah für sie verantwortlich.
„Wieso spielst du Football?"
Liam blickte über seine Schulter, da ich hinter ihm hockte, um seinen Rücken zu begutachten. Ich erwiderte seinen Blick. „Weil es mir Spaß macht. Ich werde nie einer der besten Profispieler. Ich bin immerhin kein Quaterback oder so."
„Aber es war auch die Ausrede dafür, dass du blaue Flecken hast, hab ich recht?"
Liam seufzte, nickte aber. „Irgendwie schon. Aber es stand wirklich nicht im Vordergrund."
Ich legte meine Hand auf Liams Rücken. Ich spürte wie er kurz die Muskeln anspannte, doch er lockerte sie sofort wieder. „Ich will, dass du mich berührst."
Ich riss die Augen aus. „Was?", fragte ich vollkommen verdattert.
„Ich will nicht, dass du denkst, deine Berührungen würden mir nicht gefallen. Bevor du es wusstest, hast du mich angefasst, ohne darüber nachzudenken. Ich hoffe, dass das so bleibt. Es wäre komisch, wenn du jetzt jedes Mal überlegst, ob ich es mag oder nicht. Du hast mir, ohne es zu wissen, sehr geholfen. Allein schon dadurch, dass ich es genoss, dich in meinen Armen zu halten."
„Und der Kuss?", fragte ich vorsichtig. „War er für dich auch besonders?" Ich senkte den Blick auf meine Hand, die noch immer auf Liams mittleren Rücken lag. Ich fühlte mich plötzlich unsicher. Eigentlich war ich kein Mensch, der nach Bestätigung suchte. Liam griff nach meiner Hand und drehte sich um, ohne sie loszulassen. Ich hob den Blick wieder und sah ihn an. „Er war perfekt. Beide Küssen waren perfekt. Und ich war bereit, dafür..." Liam stockte.
Eine weitere Erkenntnis. Ein weiterer Schock. „Delilah war hier gewesen an dem Abend. Sie hat dich..." Ich beendete den Satz auch nicht. Es brauchte keiner weiteren Worte. „Gibt dir nicht die Schuld dafür, ja?" Liam legte seine Hand an mein Kinn und strich mit dem Daumen darüber. „Dann tu du es auch nicht", erwiderte ich, während ich trotz dieser furchbaren Situation Liams Berührung genoss.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top