Kapitel 42
Ich stand von meinem Bett auf und ging zu Liams Zimmer. Nachdem ich einmal anklopfte, bat Liam mich herein. Überrascht blieb ich stehen und sah Liam dabei zu, wie er gerade seine Bettwäsche wechselte. Liam sah kurz auf und warf mir einen kurzen Blick zu. „Und wie siehts aus?"
„Eine Freundin übernimmt meine Schicht. Ich schulde ihr nur zwei Wochen lang Icechino. Kein schlechter Deal."
„Ich kann mich an den Kosten beteiligen", bot Liam an, doch ich winkte sofort ab. „Nein, nein. Dann habe ich wenigstens einen Grund auch täglich meine Zucker- und Koffeindosis abzuholen." Liam lachte. „Aber finanziell passt bei dir jetzt alles?"
„Ja. Es läuft alles ganz gut soweit. Das Krankenhaus bezahlt nicht schlecht. Mehr, als in Schottland auf jeden Fall!"
„Okay." Liam zog den Bezug von seinem Kissen ab und schmiss ihn neben den Deckenbezug auf den Boden. Dann ging er zu dem Bettkasten vor seinem Bett und holte neues Bettzeug heraus. Automatisch trat ich einen Schritt zurück. Liam merkte es und sah mich überrascht an.
„Was hast du?"
Ich schüttelte den Kopf, doch Liam richtete sich auf und sah mich nun eindringlich an. Kurz flog mein Blick zurück zu dem Bettkasten bevor ich wieder Liam ins Gesicht sah. Verwirrt folgte er meinem Blick und sah ebenfalls zum Bettkasten.
„Wenn ich raten müsste..." Liam legte den Kopf schräg.
„Was?" Ich blinzelte mehrmals und atmete einmal tief ein, um meinen Herzschlag wieder zu normalisieren.
„Der Bettkasten scheint dich an etwas zu erinnern, dass dir Angst macht."
„Angst? Liam rede keinen Unsinn." Ich lachte hohl. Doch Liam warf mir nur einen Blick zu, der bedeutete, dass er mich ganz genau durchschaut hatte.
„Komm mal her."
„Ich muss noch was für die Uni machen."
„Ja, gleich. Aber jetzt komm mal her", bat Liam. Er streckte seine Hand zu mir aus, doch ich schüttelte den Kopf.
„Nat. Vertrau mir."
Mein Blick heftete sich an Liam. Ich sah ihm in seine braunen Augen und erkannte tiefe Ruhe in ihnen. Liam hielt noch immer die Hand nach mir ausgestreckt und wartete, dass ich von der Tür weg auf ihn zutrat. Ich schluckte mehrmals, weil mein Hals sich plötzlich sehr trocken anfühlte. Liam nickte aufmunternd.
Seufzend ging ich zu Liam rüber. Im Grunde konnte mir nichts passieren. Liam würde mir nie wehtun oder mir Angst machen. Wieso sollte er auch. Er war ein guter Kerl. Und er mochte mich. Das waren genug Gründe, um ihm zu vertrauen. Der Bettkasten würde mich nicht beißen oder verschlingen. Also streckte ich meine Hand ebenfalls aus und legte sie in Liams. Er lächelte mich stolz an und zog mich sanft zu sich und dem Bettkasten heran.
„Was ist passiert, dass du so einen großen Bogen um den Bettkasten machst?"
Ich seufzte. „Einfach nur eine böse Kindheitserinnerung."
Liam nickte. Ich dachte, er würde es dabei belassen, doch Liam machte einen Schritt weiter zu dem Bettkasten und zog mich mit sich. Sein Griff wurde fester, als er meinen Widerstand bemerkte. „Vertrau mir", bat er erneut. Ich seufzte innerlich und machte wie Liam einen Schritt auf die Kiste zu.
„Was ist damals passiert?", fragte Liam mich. Er drehte mich zu sich, damit ich ihn und nicht mehr den Bettkasten ansah.
„Es war im Kinderheim, oder?" Liam schien zu raten. Aber er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Daher nickte ich. „Es gab da zwei Jungen, die mich immer wieder geärgert haben. Sie waren fünf Jahre älter als ich. Heute würde ich sagen, sie hatten Angst sich mit gleichaltrigen anzulegen. Daher war ich ihr Opfer."
„Kinder können richtig scheiße sein." Ich nickte. Wohl wahr.
„Wir hatten keine Schränke, da viele Kinder in einem großen Raum geschlafen haben. Wir hatten alle nur eine kleine Kiste vor unseren Betten, in der wir unsere paar Habseligkeiten aufbewahren konnten."
„Haben sie etwas mit deiner Kiste gemacht?"
Ich schüttelte den Kopf. „Sie haben mich einmal in eine leere Kiste gesteckt, sie zugeschlossen und mich eine Weile darin zurückgelassen."
Liams Griff wurde stärker. Ich senkte den Blick, wandte den Kopf aber auch so ab, dass ich den Bettkasten nicht mehr in meinem Sichtfeld hatte. „Kinder sind manchmal echt scheiße", betonte Liam noch einmal. Ich nickte nur. Was hätte ich auch sonst sagen sollen?
Ein sanfter Ruck ging durch meinen Körper und einen Augenblick später fand ich mich in einer innigen Umarmung wieder. Ich blinzelte und brauchte einen Moment, ehe ich die Nähe akzeptierte und meine Arme locker um Liam legte.
„Ich weiß, dass die Kiste nicht das Problem ist. Eigentlich sind es diese Kinder gewesen, aber immer, wenn ich solch eine Kiste sehe, ist es, als wäre ich wieder gefangen."
„Das ist verständlich, Nat. Jeder hat etwas, dass ihn sofort in einen Moment zurückkatapultiert, den man lieber vergessen würde."
Ich fragte mich, was Liams Trigger war. Liam hatte eben zugegeben, dass auch er Sachen erlebt hat, die er am liebsten vergessen würde. Aber ich hatte keine Ahnung, was genau das sein könnte. Ich hatte immer gedacht, Liam hat ein gutes, behütetes und wunderbares Leben geführt. Den Ausrutscher um Delilah mal ausgelassen. Doch scheinbar gab es etwas in Liams Leben, dass auch ihn bedrückte. Der Gedanke gefiel mir nicht. Er war auch keine Erleichterung, wie Liam vielleicht vermutete. Vielleicht interpretierte ich aber auch einfach zu viel in diese ganze Sache hinein.
Langsam löste ich mich wieder von Liam. „Danke, dass du mir zugehört hast."
Liam lächelte. „Keine Ursache. Dir muss nur bewusst sein, dass die Kiste dich niemals beißen oder verschlingen wird."
Ich musste kichern, als plötzlich in meinem Kopf ein Bild entstand, dass einem schlechten Horrorfilm glich. „Die Killerkiste?" Wir lachten.
„Ich muss jetzt aber wirklich an meiner Facharbeit weiterschreiben. Ich habe das Gefühl schon viel zu spät angefangen zu haben."
„Abgabe am Ende des Semesters?
Ich kräuselte meine Nase und nickte missmutig. „Eher werde ich mit dem Ding auch sicher nicht fertig."
Am nächsten Morgen saßen Liam und ich schon in der Küche und aßen gemeinsam Frühstück, als Mike dazu kam. Als er uns sah blieb er verwirrt stehen und sah zwischen Liam und mir hin und her. „Was habe ich verpasst?", fragte er mit gerunzelter Stirn.
„Was meinst du?" Liam sah Mike ebenso verwirrt an, wie er uns.
„Wie kommt es, dass ihr beide an einem Tisch sitzt? Irgendwas zwischen meiner Bitte, mich Adam vorzustellen und jetzt muss passiert sein. Sonst würdet ihr hier nicht so sitzen", fasste Mike zusammen. Ich schmunzelte. Irgendwie klang es wie das Ende eines Referats.
„Oh wir haben unser Kriegsbeil begraben und gestern Abend, als du sicherlich sehr viel Spaß hattest, Kumbaya zusammen gesungen."
Mike rollte mit den Augen und sah mich dann gespielt genervt an. „Nein wirklich. Ist, was auch immer vorher zwischen euch war, aus der Welt?"
Liam und ich sahen uns kurz an. Ich überlegte, was überhaupt das Problem gewesen ist. Eigentlich wusste ich bis heute nicht zu hundert Prozent, wieso mich Liam gemieden hat. Ich konnte es erahnen, da er mich bat, aufzupassen, dass wir nicht von Delilah gesehen wurden, doch was genau jetzt zwischen uns gestanden hatte, wusste ich nicht. Liam sah mich jedoch so lieb und offen an, dass ich nicht anders konnte, als zu nickten. Sollte der richtige Moment mal kommen, in dem Liam mir alles erklären würde, dann wäre ich froh darüber. Im Augenblick reichte es mir aber so wie es war.
„Sehr gut." Mike grinste, holte sich einen Kaffee und setzte sich zu uns an die Kücheninsel. Es war fast wie zu meinem Einzug. Die Jungs frühstückten, ich trank meinen Kaffee und wir redeten über alles Mögliche, nur über nichts, was man hätte ernst nehmen müssen.
Mike und Liam debattierten gerade darüber, ob es sich lohnen würde einen zweiten Kühlschrank nur für Getränke, anzuschaffen, als mein Handy klingelte. Ich fischte es schnell aus meiner Hosentasche heraus und nahm ab.
„Hey Adam!" Ich drehte mich von der Kücheninsel weg, um die Stimmen der anderen beiden besser ausblenden zu können. „Hey Natalie. Sag, ist Liam gerade in deiner Nähe?" Ich sah über meine Schulter. Liam merkte meinen Blick und richtete seine Aufmerksamkeit auf mich.
„Ja, wieso?"
„Im wachen Zustand und angezogen?", ertönte plötzlich Patricks Stimme. Ich zuckte zusammen und wurde rot, obwohl ich mir nichts hatte zu Schulden kommen lassen.
„Tut mir leid. Ich habe Lautsprecher an."
„Schon okay. Und um deine Fragen zu beantworten, Patrick. Ja und ja." Erneut warf ich Liam einen kurzen Blick zu. Er zog die Augenbrauen in die Höhe, als er meine roten Wangen bemerkte.
„Oh, er ist wirklich in der Nähe. Hörweite würde ich Tippen."
„Du magst es, andere aufzuziehen, oder?" Ich schüttelte amüsiert den Kopf.
„Tut er. Jedenfalls kannst du Liam meinen besten Dank ausrichten. Er ist nicht an sein Hady gegangen und ich wollte ihm aber sofort mitteilen, dass der Text, der er mir gestern geschickt hat, perfekt ist."
„Warte, warte. Ich reich dich weiter." Ich hielt Liam das Handy hin. „Hier, ich habe eine große Tüte Lob für dich."
Liam runzelte die Stirn, nahm aber das Telefon und hörte dann Adam und wahrscheinlich auch Patrick eine Weile zu. Ich sah zu Mike und fragte leise: „Liam hat den Text schon geschrieben?" Er nickte. „Ja, er hat fast sofort nachdem du gegangen bist, Adam angerufen und angefangen zu schreiben."
„Hat er?", fragte ich erstaunt eher mich selbst als Mike und sah wieder zu Liam. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Liam sich schon an die Arbeit gemacht hatte. Er hatte aber auch nichts in der Richtung erwähnt. Daher hatte ich angenommen, dass er sich noch bei Adam melden müsste. Ich war schon ein bisschen baff, dass Liam sich sofort um meine Bitte gekümmert hat. Andererseits, ich war Liam wichtig. Das hatte ich nun begriffen. Trotzdem war ich überrascht, aber auch dankbar. Auf Liam war letzten Endes immer Verlass.
„Und was ist mit dir?", fragte ich Mike nun.
„Oh, Adam und ich stehen auch schon in Kontakt. Ich arbeite schon an etwas, aber was, das bleibt geheim." Mike zwinkerte mir zu. „Als Liam sich mit Adam getroffen hat, hat er mich gleich mitgenommen und vermittelt." Erfreut und auch ein wenig stolz sah Mike zu Liam. Ich konnte verstehen, warum er Liam so ansah, denn auch ich hatte das Gefühl, dass Liam wieder eine 180 Grad Kehrtwende gemacht hatte. Der alte Liam, den ich kennengelernt hatte, schien wieder da zu sein. Zumindest, wenn Delilah nicht in der Nähe war. Das war ein Anfang. Den Rest würden wir drei auch noch hinbekommen. Zuversichtlich trank ich den letzten Schluck meines Kaffees. Kurz danach legte Liam auf und gab mir mein Handy zurück.
„Danke für deine Hilfe."
Liam nickte schien aber ein wenig erstaunt zu sein. „Was ist?", fragte ich daher. Liam sah mich an und blinzelte ein paar Mal, als müsste er erst den Fokus wiederfinden, um mich wirklich wahrnehmen zu können. „Adam sagt, er hat schon zwei große Investorenzusagen."
„So schnell?" Ich riss die Augen auf.
„Wow. Nicht schlecht."
„Nicht schlecht? Adam hat in seinem Drei-Jahres-Plan stehen gehabt, dass die ersten Investoren in 6 Monaten frühestens zusagen werden. Liam wirklich, ich habe keine Ahnung, was du da geschrieben hast, aber es muss verdammt gut sein. Danke dir." Ich legte meine Hand auf Liams Unterarm. „Wirklich."
Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass auch Liam rot werden konnte. Es war nur ein leichter Schimmer, der seine Wangen überzog, aber er war zu sehen. Angestrengt versuchte ich, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Zum Großteil gelang es mir auch. Mike fiel es auf, Liam jedoch nicht, denn er schien selbst noch vollkommen überrollt zu sein.
Natürlich machte Liams Text allein nicht alles aus. Wichtig war auch das, was Adam anbot und um was für ein Produkt, Software oder Dienstleistung es sich handelte. Aber Liam hatte mich Sicherheit dazu beigetragen. Und scheinbar hat er den richtigen Ton getroffen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top