Kapitel 40
Glücklicherweise begann der Tag verhältnismäßig entspannt, weshalb ich mich auf jeden Patienten, der eingeliefert wurde, richtig konzentrieren konnte. Vor allem an Wochenenden waren die Tage lang und energieraubend.
In der Mittagspause setze ich mich in das kleine Café, in dem ich vor ein paar Wochen mit Fiona, Jun und Mrs. Louis gesessen habe. Ich genoss meinen Nudelauflauf, denn im Gegensatz zu dem anderen Krankenhausessen, dass kaum bis gar nicht gewürzt war, weil viele dieses Essen nicht vertrugen, war dieser köstlich zubereitet.
„Hey Natalie." Fiona stelle ihren Teller, auf dem auch eine große Portion Nudelauflauf war, neben mich auf den Tisch und ließ sich seufzend auf den Stuhl fallen. „Ich brauche ein Bett."
„So anstrengend?", ich sah Fiona mitfühlend an. Sie arbeitete jetzt seit einiger Zeit auf der Onkologie. Und ich konnte mir vorstellen, dass die Arbeit mit Krebspatienten nicht immer einfach sein konnte. Besonders taten mir immer die kleinen Kinder leid, die keine Ahnung hatten, warum ihnen so schlecht war oder wieso sie im Krankenhaus bleiben und all diese Untersuchungen über sich ergehen lassen mussten.
„Du kannst es dir gar nicht vorstellen. Patienten, die aufgeben, sind schlimm. Patienten, die dich für ihre Misere verantwortlich machen, sind auch schlimm. Aber am schlimmsten ist es, wenn Patienten Hoffnung haben und du als behandelnde Schwester schon alle Hoffnung für sie insgeheim aufgegeben hast."
„Ich will jetzt lieber nicht über Wahrscheinlichkeiten reden."
Fiona schüttelte den Kopf. „Nein, lassen wir das lieber."
„Was macht die Notaufnahme?", wechselte Fiona daher das Thema.
„Wie immer. Wobei wir heute auch einen wirklich schlimmen Fall hatten, wo einem durch eine Explosion auf Arbeit ein Teil seines Gesichtes verbrannt wurde."
Fiona verzog das Gesicht. „Autsch." Ich nickte.
„Fiona! Natalie!"
Verdutzt sahen wir beide auf, als wir eine Kinderstimme hörten, die unsere Namen rief. Jun saß in einem Rollstuhl und wurde von ihrer Mutter in unsere Richtung geschoben.
Ich lächelte das Mädchen an. Innerlich begann mein Magen jedoch zu rumoren. Dass sie wieder hier war und dazu noch im Rollstuhl saß, konnte nichts Gutes bedeuten. Ich war eigentlich froh gewesen, dass Jun wieder nach Hause hatte gehen können.
„Wusstest du, dass sie wieder da ist?", fragte Fiona flüsternd. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. „Sie ist dünner als beim letzten Mal." Ich nickte.
„Hallo Jun. Schön dich zu sehen." Ich stand auf, um den Tisch umrunden zu können. Vor Jun ging ich in die Hocke und lächelte das braunhaarige Mädchen an.
„Können wir zusammen wieder Eis essen?", fragte Jun hoffnungsvoll. Juns Mutter ging jedoch gleich dazwischen. „Du weißt, dass der Arzt dir gesagt hat, dass du nichts Süßes essen sollst." Jun nickte geknickt. Liebevoll tätschelte Juns Mutter, den Kopf ihrer Tochter.
„Bleibst du einen Moment hier? Ich bin gleich wieder da." Jun nickte ihrer Mutter zu.
„Ich passe solange auf Sie auf." Juns Mutter lächelte mir dankbar zu und ging.
„Tut dein Bauch noch immer weh?"
Jun nickte. „Ja. Aber es ist komisch. Manchmal kann ich tagelang spielen und habe keine Probleme. Ich kann in die Schule gehen und muss lernen. Aber dann gibt es Tage, da kann ich das nicht. Niemand weiß, was ich habe." Jun wirkte ehrlich geknickt.
Ich wünschte mir wirklich sehr ihr helfen zu können, doch auch ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was Jun fehlen könnte. Es war keine Zyste, kein Krebs oder ein Tumor. Nichts deutete darauf hin, dass Jun krank war. Und dennoch tat ihr der Bauch weh.
„Glaubst du, dass ich wieder gesund werden?"
Ich lächelte Jun zuversichtlich an. „Ja, das denke ich. Und bis dahin werden Fiona und ich uns mit allen anderen hier im Krankenhaus gut um dich kümmern."
Jun kicherte. „Bis wir wieder Eis essen können!" Wir nickten. „Bis wir wieder Eis essen können."
Nach meiner Frühschicht im Krankenhaus fuhr ich noch in die Bibliothek, da ich für eine Facharbeit noch nach dem passenden Input suchte. In der Bibliothek angekommen setzte ich mich an einen Computer und holte mein Notizbuch heraus. Ich hatte Zuhause schon nach ein paar Fachbüchern recherchiert. Jetzt wollte ich sie mir nur noch schnell ausleihen, da ich nicht sehr viel Zeit hier verbringen wollte. Es war nicht so, dass ich Bibliotheken nicht mochte, aber die Konzentration und einen Schub Arbeitsmotivation, die andere hier fanden, bekam ich nie. Ich saß lieber Zuhause und arbeitete an meiner Facharbeit, anstatt ständig fremde Leute im Rücken zu haben.
Es dauerte nicht lange, bis ich mir alle Regalnummern aufgeschrieben hatte. Das Suchen hingegen dauerte eine Weile, da ich das System der Regalnummerierung nicht ganz verstand. Als ich nach einer halben Stunde noch immer nicht alle Bücher beisammen hatte, wollte ich schon aufgeben, als ich eine ältere Frau mit Ausweis sah, die durch den Gang lief. In der Hoffnung, eine Bibliothekarin gefunden zu haben, eilte ich ihr hinterher. An der Ecke zum Gang blieb ich aber abrupt stehen, als ich sah, wie sich die Frau einige Meter entfernt mit Liam unterhielt. Er lächelte und nickte, während der Frau etwas zu sagen schien.
Mein Herz zog sich zusammen, als ich daran dachte, dass Liam mich schon eine ganze Weile nicht mehr angelächelt hatte. Das Glitzern seiner Augen fehlte noch immer, aber es tat gut, Liam wenigstens mal wieder lächeln zu sehen. Automatisch presste ich die Bücher in meinen Armen stärker an meine Brust.
An ein Regal gelehnt schaute ich Liam und der Bibliothekarin eine Weile beim Reden zu. Ein Lächeln schlich sich in mein Gesicht. Liam wirkte im Moment so geerdet, ruhig und schien sich wohl zu fühlen. Seit einige Wochen hatte ich das nicht mehr sehen können. Und auch wenn es banal wirken musste für andere, schien eine große Last von meinem Herzen zu fallen, während ich daran dachte, dass Liam wahrscheinlich oft in der Bibliothek war und sich hier erholen konnte. Auf seine eigene Art und Weise.
Hier waren die Bücher, die Liam so schätzte. Und auch wenn ich diese Faszination für sie nicht ganz teilen konnte, konnte ich doch nachempfinden, dass Liam hier ganz und gar in dem aufging, was er tat. Mir ging es nicht anders, wenn ich mich um Patienten kümmerte. Es fühlte sich gut an, ihnen zu helfen. Und sei es auch nur, weil jemand um ein Glas Wasser bat.
Liams Blick traf irgendwann meinen und ich hatte fast das Gefühl die bernsteinfarbenen Sprenkel in seinen Augen sehen zu können. Doch über die Entfernung war das unmöglich.
Ich blinzelte, als ich realisierte, dass Liam nicht mehr die Bibliothekarin ansah, sondern meinen Blick anwiderte. Mir stockte der Atem, als er weiter lächelte und den Kopf leicht schräg legte. Er schien etwas von mir zu erwarten. Ertappt stieß ich mich vom Regal ab und ging zu Liam und der Bibliothekarin herüber. Die Bibliothekarin drehte sich um, als sie Liams Blick bemerkte.
„Hey", begrüßte ich mehr Liams als die Frau und wirkte dabei noch recht unsicher.
„Gut Liam, bis zum nächsten Mal also." Die Bibliothekarin nickte mir kurz zu und ging dann weiter. Ich öffnete den Mund und hob einen Arm, um sie aufzuhalten, als Liam plötzlich nach meinem Handgelenk griff und mich sofort verstummen ließ. Mit großen Augen sah ich zu ihm auf.
„Ich brauche ihre Hilfe", erklärte ich schnell. „Darum wollte ich nur warten, bis ihr beide fertig seid mit Reden."
Liam schmunzelte. „Dafür hing dein Blick aber ziemlich eindeutig auf mir." Er zwinkerte und ich riss die Augen auf. War das...? Flirtete Liam gerade mit mir? Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Das war nur..." Ich verstummte wieder. Liam lachte leise und ließ dann mein Handgelenk los, ehe er mir kurz über den Kopf strich. „Sorry. Ich wollte dich nicht ärgern."
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Ärgern?"
Doch Liam ging nicht weiter darauf ein. Er trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zu gewinnen. Sofort hatte ich wieder das Gefühl etwas zu verlieren. Ich war versucht einen Schritt auf Liam zuzumachen, um die Lücke, die Liam geschaffen hatte wieder zu schließen. Doch ich hielt mich zurück und seufzte einfach nur.
„Wo ich deine Hilfe habe gehen lassen, kann ich dir vielleicht helfen?" Liam sah mich ehrlich und offen an. Aber ich erkannte einen Funken Unsicherheit in seinen Augen. Es war möglich, dass er erwartete, ich würde ihn einfach stehen lassen.
Das kam für mich aber nicht infrage. Dafür genoss ich gerade viel zu sehr, in Liams Nähe zu sein. Ich hatte Angst, dass ich irgendwann um jede kleine Sekunde mit Liam betteln würde. Doch ich verdrängte den Gedanken schnell wieder. Im Moment wollte ich einfach nur die Zeit genießen, die er bereit war, mir zu geben.
„Wo du meine Hilfe hast ziehen lassen, bist du wohl oder übel die Vertretung. Ob dir das gefällt oder nicht." Ich zuckte mit den Achseln und tat offensichtlich gespielt beleidigt. Liam hielt sich die Hand vor den Mund, um mich laut loszulassen.
„Nat, lass das. Wir müssen und hier benehmen. Ich habe vor, noch oft herzukommen."
Ich nickte. „Gut. Dann kommen wir zu deiner Aufgabe." Ich reichte Liam mein aufgeschlagenes Notizbuch mit den Büchern, die ich suchte, und deren Regalnummern. „Die drei hier habe ich schon. Die Frage ist, wo zum Henker befinden sich die anderen?"
Liam sah auf die Liste und nickte ein paar Mal. Scheinbar wusste er, wo es langging, denn als er das nächste Mal aufschaute, nahm er erneut mein Handgelenk und zog mich auch schon hinter sich her. Ich stolperte die ersten Schritte, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass Liam regelrecht losstürmen würde. Verwirrt warf ich einen Blick zurück, bevor Liam in eine Regalreihe einbog. Ich war der Meinung eben Delilah gesehen zu haben, schüttelte aber den Kopf über diesen Gedanken. Liam hatte keinen Grund mit mir vor ihr zu flüchten. Also lief ich ihm einfach nur hinterher und wartete geduldig darauf, dass Liam anheilt.
Nach weiteren 20 Minuten hatte Liam mich zu allen Regalen gebracht und mir geholfen, die richtigen Bücher zu finden. Er half mir beim Tragen, während wir zum Empfang gingen, damit ich mir die Bücher ausleihen konnte. „Du bist oft hier, oder?"
„Ja, schon. Du weißt ja, ich und Bücher." Ich kicherte. „Man kennt sogar schon deinen Namen."
„Vielleicht bin ich auch einfach beliebt?", schlug Liam schmunzelnd vor.
„Das klang jetzt gar nicht eingebildet", erwiderte ich und sah Liam kritisch an. Er lachte nur wieder und schüttelte amüsiert den Kopf.
„Ich habe übrigens mit Adam telefoniert." Überrascht und erwartungsvoll sah ich auf. „Und?"
„Ich werde ihm helfen."
„Danke Liam. Wirklich." Ich lächelte Liam an und er erwiderte das Lächeln. Letzten Endes war Liam ein wirklich guter Kerl. Es war nur logisch gewesen, dass ich mich in ihn verliebe, wenn ich dabei auch unglücklich war. Er sollte glücklich sein. Das war, was zählte. Erfreut packte ich meine Bücher ein.
„Ich habe mit ihm auch gleich über Mike gesprochen. Und Adam war nicht abgeneigt sich einen Designer ins Boot zu holen."
„Das ist fantastisch. Wirklich. Adam arbeitet hart daran, dass seine Firma groß wird. Und was jetzt als kleine Studentenfirma anfing, soll mal ganz groß werden."
„Du magst ihn echt, hm?"
Ich stockte in der Bewegung und legte das Buch, dass ich gerade in den Beutel tun wollte wieder hin. Dann sah ich zu Liam auf und seufzte. „Nicht so wie du denkst. Adam... ist ein Freund. Er ist ein klasse Kerl, aber leider übt er keine wirkliche Anziehungskraft auf mich aus."
„Leider?" Liam machte große Augen und ich nickte. „Er wäre sicherlich ein perfekter Freund, Mann und einmal Vater. Aber Sowas wie ein Prickeln gabs zwischen uns nie." Liam runzelte die Stirn. „Es ist wie Mike. Auch wenn die beiden wie Tag und Nacht sind. Mike ist kein schlechter Kerl und ich glaube, wenn eine Frau ihn mal zähmt, dann wird auch er einer der loyalsten Männer, die es geben kann, aber auch wenn ich das weiß, ist allein der Gedanke, Gefühle für ihn zu entwickeln echt komisch. Verstehst du, was ich meine?"
Liam schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich."
„Was ist mit Nora?"
„Nora ist okay, aber als loyale Ehefrau würde ich sie jetzt nicht einstufen." Er verzog das Gesicht und ich musste lachen.
„Du musst doch eine Freundin haben. Also eine gute Freundin." Dieses Mal nickte Liam selbstverständlich. „Gut und jetzt stell dir vor, du würdest 20 Jahre mit ihr zusammen sein, ihr hättet geheiratet, 2,4 Kinder und ein Haus mit Garten, Zaun und Hund. Komisch, nicht?"
Liams Blick schweifte ab und ich sah, dass er nachdachte. Während er das tat, packte ich die letzten zwei Bücher in den Beutel, den ich mir extra mitgenommen hatte und schulterte ihn. Dann sah ich wieder zu Liam und zuckte zusammen, als ich seinen durchdringenden Blick auf mir bemerkte.
„Was ist?", fragte ich verdattert.
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