Kapitel 34
Die letzten Tage vor dem Semesterbeginn vergingen schnell. Die Tage wurden zunehmend eintönig. Selbst wenn auf Arbeit ein Tag kaum dem nächsten glich, so blieb der grobe Rahmen doch stets gleich. Denn die nächsten Tage bestanden nur aus Aufstehen, Arbeiten, Schlafen. Ich bekam Mike nur selten zu Gesicht. Liam sah ich kein einziges Mal. Ich fragte mich zwischenzeitlich, ob er überhaupt zwischendurch mal in der Wohnung gewesen war. Mike und ich redeten nie über Liam. Daher wusste ich nicht, wie es ihm ging, was er trieb oder irgendetwas anderes. Wenn er gestorben wäre, hätte mir Mike sicherlich schon etwas gesagt, oder Grandma hätte es getan. Wir hatten schon ein paar Mal miteinander telefoniert, ich sprach jedoch kein einziges Mal an, was ich von Liam und Mike zu meinem Einzug erfahren hatte.
Ich trat auf der Stelle. Meine Brille hatte ich wieder gegen Kontaktlinsen getauscht, die Zimmertür kontrollierte ich mittlerweile schon dreimal, bevor ich ins Bett ging und Grandma belog ich irgendwie auch. Seit dem „Spiel" am See hatte ich das Gefühl mich immer mehr zurück zu entwickeln. Ich hatte das Gefühl immer mehr zu der Natalie zu werden, die ich vor nicht allzu langer Zeit in Schottland gewesen bin. Doch eigentlich wollte ich genau das Gegenteil. Ich dachte, San Francisco würde ein Neuanfang für mich werden. Doch das war es nicht. Das einzig gute war die Arbeit, die ich sehr oft zusammen mit Fiona erledigen konnte, weshalb wir uns schon sehr gut verstanden.
Sie war es, die mich regelmäßig zum Lachen brachte. Sie und einige Patienten, die immer wieder ein paar nette Geschichten parat hatten. Ich war dankbar einen Job zu haben, der es mir ermöglichte mit anderen Menschen zusammen sein zu können. Wir arbeiteten beide noch auf der Kinderstation, aber schon bald sollte ich in die Notaufnahme wechseln. Da ich am ersten Tag, als er große Wasserunfall mit den Kindern gewesen war, freiwillig mitgeholfen hatte, musste ich ein paar Kollegen von mir überzeugt haben, weswegen sie mich als Unterstützung haben wollen. Ich fühlte mich auf der einen Seite geehrt. Auf der anderen machte ich mir Sorgen, nicht schnell und gut genug arbeiten zu können, denn die Notaufnahme war sicherlich alles andere als ein Zuckerschlecken.
Ich genoss die letzten Tage, die ich mit Fiona auf der Kinderstation verbrachte. Vor allem, weil alles reibungslos und ohne Zwischenfälle verlief.
„Und wie ging es nun aus?", fragte Jun, ein 12-jähriges Mädchen, das wegen Magenbeschwerden ins Krankenhaus war, Mrs. Louis, die wiederum wegen einer Knie-OP ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Die ältere Dame lachte herzhaft.
„Oh, ich habe ihn nie wiedergesehen. Aber die Erinnerung an diese Nacht ist mir bis heute geblieben." Ich musste schmunzeln, während ich darüber nachdachte wie es sein muss, in Italien eine romantische Nacht zu verbringen. Wein, Rosen, Kerzenschein und unzählig viele Tänze. Das klang schon sehr verführerisch.
„Sie haben nie wieder nach ihm gesucht?", fragte Fiona überrascht.
Zusammen mit Mrs. Louis und Jun saßen Fiona und ich in dem kleinen Café des Krankenhauses, weil es hier das beste Eis im näheren Umfeld gab. Ich hatte Jun zu einem kurzen Spaziergang überredet, da sie die letzten Tage nur im Bett gelegen hatte. Der behandelnde Arzt von Jun hatte mir sein Einverständnis gegeben, dass eine kleine Kugel Eis ihr schon nicht schaden würde. Da bisher keiner wusste, warum Jun manchmal so starke Magenschmerzen hatte, wollten wir vorsichtig sein, doch am Essen konnte es nicht liegen. Soviel hatten wir schon herausfinden können. Nächste Woche würde für Jun anstrengend werden, da einige Untersuchungen anstanden. Daher wollte ich den Sonntag nutzen und ihr das ein oder andere Lächeln ins Gesicht zaubern.
Diesen Job übernahm jedoch gerade Mrs. Louis. Fiona, die heute auf einer anderen Station aushalf, war mit ihr ebenfalls ein wenig umher gelaufen, um Mrs. Louis Bein zu trainieren. Und die ältere Dame hatte so viele spannende Geschichten aus ihrer Zeit in Europa zu erzählen, dass wir alle drei gespannt lauschten und regelmäßig lachen konnten.
Mrs. Louis schüttelte nur den Kopf. „Nein. Er war eine Urlaubsromanze. Für einen einzigen Tag und eine einzige Nacht. Ich liebe meinen Mann, auch wenn er heute mal wieder auf sich warten lässt. Und ich bin froh, ihn zu haben." Glücklich lächelte mich Mrs. Louis an. Ich erwiderte das Lächeln automatisch. Auch wenn mir ihr Glück einen kleinen Stich versetzte, freute ich mich doch, dass sie einen Mann gefunden hatte, dem sie vertrauen konnte und der ihre Liebe uneingeschränkt erwiderte. Denn selbst wenn Mrs. Louis über die Unpünktlichkeit ihres Mannes schimpfte, waren sie doch ein Herz und eine Seele.
„Wie haben Sie denn Ihren Mann kennengelernt?", fragte Jun, die gerade ihren Eisbecher auskratze. Ich sah gebannt zu Mrs. Louis, die nur eine wegwerfende Handbewegung machte. „Ich habe in einem Blumenladen ausgeholfen. Er suchte Blumen für seine Mutter und war dabei einen Grabstrauß zu kaufen." Wir vier fingen an zu lachen. „Sie haben ihn doch bestimmt aufgeklärt." Mrs. Louis nickte. „Natürlich. Und seltsamerweise wollte er daraufhin immer öfter von mir zu Blumen beraten werden. Tja. Und irgendwann gab es das erste Rendezvous." Jun kicherte. „Er hat sich bestimmt weniger für die Blumen und mehr für die Verkäuferin interessiert. Das ist ja wie in einem Liebesfilm, die immer im Fernsehen laufen." Ich nickte zustimmend. Sie hatte recht. Es klang ziemlich danach.
„Nun. Vielleicht wird später einmal eine von euch eine schöne Geschichte erzählen können, wie sie ihren Traummann kennengelernt hat", erwiderte Mrs. Louis nur. Während Jun das Gesicht verzog und Fiona lachte, drohte ich schon wieder in Gedanken zu versinken und an Liam zu denken. Denn selbst wenn wir uns nicht sahen, konnte ich einfach nicht aufhören an ihn zu denken. Dafür waren er und alle Erinnerungen rund um Liam noch viel zu präsent in meinem Kopf.
„Aber genug von mir. Morgen beginnt das neue Semester, nicht wahr?", lenkte Mrs. Louis geschickt das Thema auf mich. Sie schien bemerkt zu haben, dass ich mit den Gedanken woanders gewesen war. Ich nickte schnell. „Ja. Ich bin sehr gespannt, wie es morgen wird." Beruhigend tätschelte Fiona meine Hand. „Wir gehen zusammen hin. Auch wenn wir ganz unterschiedliche Vorlesungen haben, werde ich die Zeit finden dich auf jeden Fall herumzuführen", versicherte Fiona mir.
„Um mir zu zeigen, wo der gutaussehende Barista arbeitet, von dem du mir ständig vorschwärmst?" Wir lachten. „Ja, auch deswegen. Aber ich als dein Senior muss doch Sorge tragen, dass du dich nicht verläufst und letzten Endes in der falschen Fakultät landest."
„Wenn ich später einmal auch aufs College gehen kann, möchte ich so wie Natalie und Fiona Krankenschwester werden." Jun grinste uns an und ich konnte das Grinsen nur erwidern. Sie sah mit ihrem goldenen Haar, das zu zwei Zöpfen gebunden war wirklich niedlich aus. Ich hoffte, dass sie sich ihren Traum, egal welcher es am Ende wird, erfüllen kann.
„Das schaffst du bestimmt. Wenn du das möchtest. Fiona und ich helfen dir dann."
„Wirklich?" Jun machte große Augen und sah uns hoffnungsvoll an. Wir nickten und Mrs. Louis lachte aus vollem Halse.
Kurz darauf kam Juns Mutter vorbei und brachte Jun zurück in ihr Zimmer. Wir verabschiedeten uns alle von ihr, blieben aber noch sitzen und tranken unseren Kaffee weiter.
„Ich habe gehört die Möchtegernjuristen auf dem Campus wären ein Fall für sich", sagte ich irgendwann. Fiona und Mrs. Lous lachten. „Anwälte sind doch immer etwas eigenwillig", entgegnete Mrs. Louis nur, doch Fiona nickte bestätigend. „Nicht nur die. Auch die Sportstipendiaten musst du nicht unbedingt gleich am ersten Tag treffen. Die vergraulen dich morgen sonst sofort wieder."
„Das wäre sehr schade." Mrs. Louis machte einen Schmollmund und sah mich gespielt traurig an. „Wer hört sich denn sonst meine ganzen Geschichten an?"
„Ich werde schon nicht davonlaufen. Nicht wegen ein paar dahergelaufener Juraanwärter und zukünftiger Spitzensportler", versicherte ich den beiden, bevor ich meinen letzten Schluck Kaffee austrank.
„Wir sehen uns dann in ein paar Tagen wieder Mrs. Louis. Ich komme sie dann mal besuchen. Vielleicht lerne ich dann auch ihren Mann kennen." Kurz legte ich ihr meine Hand auf den Unterarm. Dann stand ich auf. Es war Zeit nachhause zu gehen.
„Immer schön fleißig lernen Natalie." Ich nickte. „Ist ein Versprechen."
Ich verabschiedete mich von Fiona und Mrs. Louis und machte mich auf dem Weg zu den Spinden, um meine Sachen zu holen. Kurz bevor ich bei den Spinden ankam, klingelte mein Handy.
„Sollen wir uns morgen vor dem Campus treffen?", fragte Fiona, nachdem ich abgenommen hatte. „Dann kann ich dir einen kurzen Crashkurs über unsere Räume geben, bevor wir in unsere ersten Vorlesungen müssen", fügte sie gleich noch hinzu, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte.
„Das wäre tatsächlich sehr nett. Aber du musst dir meinetwegen auch keine Umstände machen, das weißt du. Ich kann auch jemanden fragen, wenn ich mich verlaufen sollte."
„Das mach ich doch gern. Wirklich." Ergeben nickte ich und bedankte mich bei Fiona. Im Gegensatz zu Liam, der niemals nachgehakt hatte, wenn ich über etwas nicht reden wollte, war Fiona offener und stellte ihre Fragen direkt. Daher wusste sie auch von meinem derzeitigen Zustand. Liam hatte mich die letzten Tage komplett gemieden. Delilah kam sehr häufig vorbei, blieb aber nie über Nacht. Ich hatte die Gedanken an die beiden so weit wie möglich in den Hintergrund geschoben und mich nur auf meine Arbeit konzentriert. Es funktionierte nur leider nie ganz. Fiona war eine große Hilfe gewesen, denn nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich mich in meinen Mitbewohner verguckt hatte, der eigentlich schon vergeben war, hatte sie mir einen ihrer Meinung nach heißen Typen nach dem anderen gezeigt. Sie wollte mich auf andere Gedanken bringen. Zwischenzeitlich hatte ich aber herausgefunden, dass Fiona zwar gern Männer ansah, sich jedoch nie traute sie auch anzusprechen. Das war irgendwie niedlich. Ich war gespannt, ob sie jemals dem Barista, den sie ins Auge gefasst hatte, auch wirklich mal ansprechen würde. Und so war es einfach, nicht immer an Liam zu denken, wenn die Arbeit und Fiona mich von ihm ablenken konnten.
Zugegeben, ich konnte ihn nicht komplett streichen, aber so war es ein Anfang.
„Dann sehen wir uns morgen vor dem Campus", schloss Fiona. „Bis morgen Natalie."
„Bye." Ich legte auf und ging zu meinem Spind. Schnell zog ich mich um, schnappte mir meine Handtasche und machte mich auf den Weg zum Ausgang. Unterwegs verabschiedete ich mich noch von ein paar Kollegen und trat kurz darauf in die schwüle Abendluft von San Francisco.
Gemütlich lief ich durch die Straßen nach Hause und dachte über den morgigen Tag nach. Ich hoffte, die Immatrikulation hatte ohne Probleme funktioniert und ich würde morgen nicht dastehen und keinen Vorlesungsplan haben.
Mittlerweile musste ich gar nicht mehr nachdenken, wo ich langlaufen musste. Es geschah schon fast automatisch, dass ich in die richtigen Straßen abbog. Und schneller als gedacht stand ich dann schon vor der Haustür. Bevor ich die Tür aufschloss, schaute ich hoch in den Himmel und bewunderte die vielen Farben des Sonnenuntergangs. Die Sonne an sich konnte ich nicht mehr sehen, aber sie tauchte die Wolken noch immer in schöne rot-orange Töne.
Oben in der Wohnung angekommen, stellte ich fest, dass ich allein war. Ich schmiss nur schnell meine Tasche in mein Zimmer auf das Bett und machte mich kurz darauf schon in der Küche ans Werk, um Abendessen zu machen. Ich briet ein bisschen Gemüse und Hähnchen an und griff auf eine Fertigsauce zurück, da ich keine große Lust mehr hatte, eine Sauce jetzt noch selbst zu machen.
Mit meinem lecker duftenden Essen und einem Tee setzte ich mich an die Küchentheke und aß still vor mich hin. Die Wohnung war komplett still und so genoss ich den Moment der Ruhe nachdem ich den Krach des Krankenhauses den halben Tag um mich herum gehabt hatte. Ich war fast mit dem Essen fertig, als ich hörte, wie die Wohnungstür aufging. Schnell setzte ich mich aufrecht hin und lauschte. Sollte Delilah jetzt in der Wohnung sein, würde ich mich in mein Zimmer zurückziehen. Denn ich hatte einfach keine Lust darauf, sie zu sehen.
Zu meiner Erleichterung war Delilah nicht dabei, als Liam ins Wohnzimmer trat und sich unsere Blicke trafen. Ich hatte Liam nie wirklich lange gesehen, sondern immer nur flüchtig getroffen. Liam öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch er tat es nicht. Stattdessen drehte er sich um und wollte den Raum wieder verlassen.
„Liam warte!" Ich stand auf, während Liam in der Bewegung innehielt und sich wieder zu mir umdrehte.
„Du kannst ruhig reinkommen. Ich bin eh fertig. Einen Moment dann bin ich weg." Ich versuchte so neutral wie möglich zu klingen, doch es war schwer. Ein Kloß schien in meinem Hals zu sitzen und Tränen drohten sich in meinen Augen zu sammeln. Er konnte es noch nicht einmal mehr mit mir im selben Raum aushalten. Ich musste es wirklich versaut haben.
Der Gedanke, dass Liam es keine Sekunde mit mir im selben Raum aushielt, tat verdammt weh. Ich wollte nicht, dass er sich nicht mehr frei in seiner Wohnung bewegen konnte, daher beeilte ich mich und stellte mein Geschirr nur schnell in die Spüle. Ich konnte mich auch noch später darum kümmern.
Mit gesenktem Kopf lief auf an Liam kurz darauf vorbei, als ich plötzlich am Handgelenk festgehalten wurde. Mein Herz, das ich bisher in seine Schranken hatte weisen können, schlug mit einem Mal wieder schneller. Es war, als hatte mein Körper nur auf eine Berührung von Liam gewartet, denn ich drohte schon wieder von der Wärme, die von Liams Hand ausging, eingelullt zu werden.
„Denkst du gerade, dass ich nicht mit dir im selben Raum sein kann oder will?", fragte Liam scheinbar ehrlich schockiert. Verwirrt runzelte ich die Stirn, drehte mich aber nicht zu Liam um. Es war offensichtlich gewesen, dass Liam nicht in meiner Nähe sein wollte. Dafür hatte er viel zu oft einen Raum verlassen, wann immer ihn betreten hatte. Dafür hatte er viel zu selten mit mir geredet. Er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben.
Wahrscheinlich hatte ich mit meinem Kuss am Lagerfeuer doch eine Grenze überschritten. Wir hätten es bei dem einen belassen sollen. Oder uns am besten erst gar nicht küssen dürfen. Dummes Spiel. Ich hatte es von Anfang an gesagt.
„Nat?" Ich zuckte bei dem Spitznamen zusammen und Liam ließ mein Handgelenk los.
„Lass gut sein, Liam. Ich hab es schon verstanden. Ich werde mich von dir fernhalten. Und wenn du denkst, es ist besser, dass ich ausziehe, dann tue ich das." Ich ließ die Schultern hängen und sah auf den Boden. Noch immer hatte ich mich nicht zu Liam umgedreht. Ich konnte ihm einfach nicht in die Augen sehen. Auch wenn ich die Tränen noch zurückhalten konnte, wusste ich nicht, ob das noch möglich war, wenn ich erst einmal in Liams Augen gesehen hatte.
„Nat, bitte." Liams Stimme hatte einen seltsamen Klang angekommen, den ich nicht zuordnen konnte. Ich wollte mich umdrehen und Liams Gefühle von seinen Augen ablesen, doch ich dufte es nicht.
„Ich hab noch was vorzubereiten für morgen. Keine Ahnung was, aber da ist sicherlich was. Gute Nacht." Schnell und ohne Liam einmal angesehen zu haben, verließ ich das Zimmer und ging auf direktem Weg in meines. Hinter mir schloss ich schnell die Tür und lehnte mich dagegen, als hätte ich Angst, Liam würde die Tür gleich einrennen. Ich musste wirklich schnell einen Weg finden, um mit dieser Situation umgehen zu können. Lange würde ich das nicht mehr durchhalten. Irgendwann würde ich nur noch weinend in der Ecke sitzen. Und das wollte und konnte ich nicht zulassen.
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