Kapitel 29
Ich zog mir noch meine weißen Sneakers an und verließ dann mein Zimmer. Liam wartete schon an der Wohnungstür auf mich. Er hatte seine Jogginghose gegen eine locker sitzende Jeans eingetauscht und trug noch immer ein Trikot unserer Universität.
„Fertig?", fragte er und grinse. Ich nickte.
„Warum grinst du so?"
Achselzuckend antwortete Liam: „Ich freue mich einfach, dass du den Spaß mitmachst, obwohl du nicht weißt, was auf dich zukommt."
„Es wäre ja keine Überraschung mehr, wenn du es mir sagen würdest."
„Nicht jeder mag Überraschungen. Delilah würde nicht mitmachen. Vor allem, wenn sie wüsste, was ich vorhabe."
Ich sagte nichts, sondern hob nur eine Augenbraue und sah Liam in die Augen. Er verstand meine Reaktion sofort. Wieso zum Henker gab er sich mit ihr ab? Was hatte Delilah an sich, dass er sie bei sich behielt? War sie etwa so gut im Bett? Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken und das blöde Kopfkino zu vertreiben. Ich sollte mir nicht den Tag vermiesen.
„Dann scheint es ja eine gute Überraschung zu werden", kommentierte ich nur noch trocken, bevor ich Liam ein erfreutes Lächeln zuwarf. Liam blinzelte kurz einmal und musste sich dann ein Schmunzeln verkneifen.
Liam setze einen schwarzen Rucksack auf, wo wahrscheinlich unser Trinken drin war und gemeinsam verließen wir die Wohnung. Zu meinem Erstaunen gingen wir nicht zum Strand und ließen auch das Auto stehen. Ich folgte Liam einfach und hoffte, dass mich am Ende nicht doch noch etwas Schlimmes erwartete. Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Ein paar Mal waren wir abgebogen und allmählich ahnte ich, wo Liam mich hinbringen wollte. Dennoch wartete ich geduldig. Als wir am Campus der University of San Francisco ankamen, war ich nicht überrascht. Doch Liam blieb nicht stehen, sondern lief am Campus vorbei. Verdattert sah ich hin hinterher und versuchte ich schnell wieder einzuholen.
Liam schien in Gedanken zu sein. Sein Blick wirkte konzentriert. Er schien nicht einmal zu merken, dass wir eine ganze Weile nicht mehr miteinander geredet hatten. Wahrscheinlich dachte er über irgendetwas nach und hatte mich vollkommen vergessen. Aber wusste er dann noch, wo wir hin wollten? Vorsichtig zupfte ich am Ärmel von Liams Trikot.
Erschrocken blieb Liam stehen und sah mich an. „Tut mir leid, ich war in Gedanken."
„Habe ich mitbekommen. Ist alles in Ordnung?" Liam nickte. „Ja, alles gut. Komm, es ist nicht mehr weit."
Ich runzelte die Stirn. „Du wolltest nicht auf den Campus?" Anstelle einer Antwort nahm Liam meine Hand und zog mich mit sich. Völlig überrumpelt von dieser Geste stolperte ich Liam hinterher und hatte dabei die ganze Zeit den Blick auf unsere Hände gerichtet.
Spürte er es nicht? Konnte Liam es vielleicht wirklich nicht spüren? Dabei waren doch dieses Kribbeln und die Wärme, die sich langsam aber beständig von meiner Hand aus in meinem ganzen Körper verbreiteten, so intensiv, dass man es gar nicht nicht spüren konnte. Die Versuchung war da, meine Finger mit Liams zu verschränken. Oder vielleicht sollte ich sie lieber wieder wegziehen, damit endlich mein Herz aufhören konnte so zu flattern. Dabei hatte ich mir doch vorgenommen, dass das mit Liam und mir nicht mehr war als Freundschaft. Warum wollte mein Körper das nicht verstehen?
„Wir sind da."
„Was?" Ich kam nicht rechtzeitig zum Stehen und lief direkt in Liam hinein. Liam stolperte nach vorn, zog mich mit sich, aber konnte sich nach ein paar Schritten wieder fangen. Er drehte sich in einer flüssigen Bewegung zu mir um und fing mich dieses Mal auf, als ich wieder gegen ihn fiel. Mein Herz hämmerte in meiner Brust als mich Liams Wärme und sein einzigartiger Duft umhüllten. Das Blut rauschte in meinen Ohren.
„Wenn du kuscheln willst, sag es. Du musst mich ja nicht gleich so anspringen."
Geschockt riss ich den Kopf hoch und starrte Liam an. Meine Wangen fingen an zu brennen und ich merkte regelrecht, wie mein Kopf immer mehr die Farbe einer Tomate annahm. Als hätte ich mich an Liam verbrannt, der amüsiert zu mir herunter sah, sprang ich zurück.
Sofort verschwand die Wärme, aber meine Wangen glühten immer noch. „Ich wollte mich dir nicht an den Hals werfen!" Ich schrie die Worte beinahe heraus und legte eine Hand auf die Stelle meiner Brust, wo mein Herz versuchte heraus zu hüpfen.
Liams Blick wurde weich. „Ich weiß." Seine Augen hatten wieder begonnen zu glänzen und ein Lächeln umspielte seine Lippen, sodass sich ein kleines Grübchen auf seiner linken Wange bildete. „Wo warst du mit deinen Gedanken?"
Ich zuckte kaum merklich zusammen, weil ich mich ertappt fühlte. „Ich..." Achselzuckend verstummte ich wieder. Liam legte den Kopf schräg. „Okay, die Ausrede hat nicht geklappt. Und die Wahrheit?", fragte er sanft nach.
Ich blinzelte. Hatte er doch tatsächlich mitbekommen, dass ich nach einer Ausrede gesucht hatte. „Ich war verwirrt, weil du einfach hier stehen geblieben bist."
Ich sah zur Seite, um mich zu orientieren und stockte. Dann drehte ich mich einmal im Kreis und bekam große Augen.
Nach einer weiteren Runde, die ich mich staunend umgesehen hatte, landete mein Blick wieder auf Liam. Er sah mich an und wartete gespannt, was ich sagen würde.
„Du hast mich auf ein Footballfeld gebracht?", fragte ich ungläubig und doch vollkommen begeistert.
„Überraschung gelungen?", fragte Liam und ich konnte eine Spur Hoffnung in seiner Stimme erkennen. Ich nickte begeistert. „Absolut. Ich war noch nie auf einem Footballfeld, geschweige denn bei einem Spiel. Okay, im Fernsehen habe ich auch noch keins gesehen." Liam lachte und kam auf mich zu. „Wird Zeit, dich in den amerikanischen Sport einzuweihen."
Er nahm seinen Rucksack von der Schulter und öffnete ihn. Als plötzlich eine Wasserflasche auf mich zugeflogen kam, war es reiner Reflex, dass ich sie fing. Liam sah mich anerkennend an. „Nicht schlecht. Gute Reflexe sind schon mal eine gute Voraussetzung für Football."
„Ich wollte einfach keine Flasche in meinem Gesicht haben. Das mag meine Brille nicht so gern", antwortete ich und öffnete meine Flasche.
Liam lachte. Dann zog er einen Football aus seinem Rucksack. Und wieder flog etwas auf mich zu. Vor Schreck ließ ich die Flasche auf den Rasen fallen und fing den Football auf. Schnell kniete ich mich hin und hob meine Wasserflasche auf, die jetzt ein gutes Stück leerer war.
„Du schuldest mir 300 Milliliter Wasser", murrte ich und befreite die nasse Flasche von einzelnen Grashalmen.
„Ich teile mit dir, keine Sorge. Verdursten werden wir nicht."
Wir grinsten uns kurz an, ehe wir beide etwas tranken und Liam danach die Flaschen und seinen Rucksack an den Rand einer Tribüne stelle, damit sie im Schatten lagen. Als er zurück gejoggt kam, hatte ich den Football schon genau inspiziert und war mir sicher, dass meine Brille heute noch zu Bruch gehen würde.
„Du siehst aus, als hättest du Angst vor dem Ball." Ich nickte, weshalb Liam erstaunt neben mir stehen blieb. „Ich sehe schon, wie du ihn mir ins Gesicht oder in die Magenkuhle wirfst."
„Nat, ich werde aufpassen. Auf keinen Fall will ich dir wehtun." Liam sah mich ernst an und gab mir zu verstehen, dass er wirklich aufpassen würde.
„Gut, dann vertraue ich dir einfach mal." Liams ernstes Gesicht wandelte sich in ein überraschtes. Er sah mir eine Weile stumm und mit ungläubigem Blick in die Augen. „Du vertraust mir?"
Ich nickte. Wieso war er so überrascht, dass ich das tat? Liam war ein Freund. Ich wusste, dass ich mir bei ihm keine Sorgen machen müsste. „Ja, das tue ich."
Erneut wandelte sich Liams Gesichtsausdruck. Liam sah mich nun so liebevoll an, dass sich mein Herz zusammenzog und freudig in meiner Brust hüpfte. In meinem Kopf erschienen Bilder, wie ich ihm sanft über seine glatt rasierte Wange strich und mich an ihn kuschelte. Liam würde seine Arme um mich legen und mich an sich ziehen, so nah es nur ging. Wir würden eine Ewigkeit einfach nur fest umschlungen hier stehen, bis Liam mir einen Kuss auf den Scheitel geben würde. Ich würde zu ihm aufsehen.
Eine plötzliche Berührung ließ mich aus meinem Tagtraum schrecken. Liam hielt sanft mein Handgelenk umfasst und musterte mein Gesicht. Ich versuchte nicht rot anzulaufen, als mir bewusst wurde, was genau ich mir da gerade vorgestellt hatte. Innerlich schalt ich mich. Ich sollte solche Gefühle nicht haben. Ich durfte einfach nicht!
„Woran denkst du?", fragte Liam mich schließlich.
„Was?" Verwirrt blinzelte ich. Ich musste mich erst einmal wieder fangen und endlich aufhören innerlich irgendwelche Kämpfe auszutragen.
„Eben sahst du noch ziemlich glücklich aus und jetzt hast du diese tiefe Falte zwischen deinen Augenbrauen."
Sanft strich Liam über meinen Nasenrücken hoch zu meiner Stirn, als wollte er die Falte wegwischen. Dann grinste er. „Besser. Komm, lass uns ein paar Würfe üben." Liam ließ mich los und lief ein paar Meter. Scheinbar wollte er doch keine Antwort mehr auf seine Frage. Das war gut. Denn eine Antwort hätte ich ihm schlecht geben können, ohne zu lügen oder mich vollkommen zum Affen zu machen.
Ich wünschte mir, Liam wieder neben mir zu spüren. Er sollte nochmal meine Hand halten. Das freudige Klopfen meines Herzens hörte abrupt auf, als mir bewusst würde, dass Liam mir ungewollt das Herz brechen würde. Er konnte nichts dafür, dass er war wie er war und ich mich in ihn verliebt hatte, obwohl ich das nie wollte.
„Natalie, du hast den Ball. Wirf soweit du kannst!", rief Liam plötzlich und winkte. Ich zögerte einen Moment und seufzte schließlich. Es war egal. Ich wollte ja bei Liam sein und ich würde das nehmen, was er mir geben konnte. Freundschaft. Damit würde ich mich abfinden müssen, denn ich konnte Liam nicht wieder aus meinem Leben streichen.
Ich akzeptierte diese Tatsache und ließ all die Traurigkeit hinter mir. Warum sollte ich etwas hinterher trauern, was ich nie haben konnte? Der Zug war abgefahren. Ich musste ihm nicht mehr hinterherlaufen.
Ich nahm all meine Kraft zusammen, die ich in meinem rechten Arm hatte, holte aus und warf den Ball zusammen mit all meinen Gefühlen zu Liam.
„Wow!" Ich starrte dem Ball hinterher, der im hohen Bogen durch die Luft flog. Liam, der nicht einmal ansatzweise soweit gelaufen ist, rannte weiter nach hinten. Mit einem filmreifen Hechtsprung fing er den Ball auf und landete hart auf dem Rasen. Er schlitterte noch zwei Meter weiter, eher er zum Stillstand kam.
„Liam!" So schnell ich konnte lief ich zu Liam herüber, der auf dem Boden lag und sich nicht rührte. „Liam!" Ich schrie erneut seinen Namen über das ganze Footballfeld. Mein Herz begann unangenehm zu rasen und Adrenalin durchflutete meinen Körper.
Japsend ließ ich mich neben Liam auf den Rasen fallen und drehte ihn auf den Rücken. Ich wollte ihm den Ball wegnehmen, den er fest umklammert hielt, damit ich an seinen Brustkorb heran kam, doch ich zog vergeblich.
„Hey, ich hab ihn gefangen. Du darfst den mir nicht einfach wegnehmen. Das ist gegen die Regeln.", ertönte Liams amüsierte Stimme.
Erschrocken zuckte ich zurück. „Wieso sagst du nichts, wenn ich nach dir rufe?", schrie ich Liam panisch an.
Das Grinsen verschwand von Liams Gesicht und er setzte sich auf. „So macht man das beim Football. Man bleibt erstmal liegen, weil auch etliche Menschen auf einen drauf springen", erklärte er stirnrunzelnd.
Ich schüttelte heftig den Kopf. „Aber ich bin doch nicht auf dich gesprungen. Verdammt Liam, ich dachte, dir sei etwas passiert!"
„Hey, Nat..." Liam hob die Hand, doch ich schüttelte den Kopf. „Mach das nie wieder!" Ich schniefte und realisierte erst jetzt, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Wunderbar, jetzt heulte ich vor Liam schon wieder und das wegen nichts. Aber es sah so aus, als wäre er unglaublich hart auf dem Boden aufgekommen. Ich hatte plötzlich solche Angst gehabt.
„Nicht weinen Nat", bat Liam. In der nächsten Sekunde umfingen mich zwei Arme und ich wurde hochgehoben, um kurz darauf wieder auf Liams Schoß abgesetzt zu werden. Automatisch krallte ich meine Finger in Liams Trikot und vergrub mein Gesicht an seinem Brustkorb.
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