Kapitel 27
Ich war am Ende. Jeder Knochen tat mir weh und ich hatte höllische Kopfschmerzen. Die Sonne war schon längst untergegangen, als ich das Krankenhaus wieder verließ. Wer konnte auch ahnen, dass mein erster Arbeitstag so stressig sein würde? Ich winkte müde ein paar Krankenschwestern zu, die eine rauchten und mir mitleidige, aber auch freundliche Blicke zuwarfen und zurück winkten. Müde machte ich mich auf den Heimweg. Am Anfang meiner Schicht hatte ich daran gedacht, nach dem Feierabend mich noch ein bisschen ans Meer zu setzen. Dieses Vorhaben hatte ich aber schnell wieder verworfen. Jetzt nach 13 Stunden wollte ich einfach nur noch eine Dusche, etwas zu Essen und mein weiches Bett.
Ich hatte das Gefühl im Schneckentempo durch die Straßen zu laufen, aber viel schneller wollte ich nicht laufen, weil meine Füße drohten abzusterben und ich jeden Schritt vorsichtig machte, um nicht zu stark aufzutreten. Ja, ich war vollkommen fertig. Und das an meinem ersten Arbeitstag. Etwas mehr als 30 Minuten später war ich endlich bei meiner Wohnung angekommen. Müde schleppte ich mich in die oberste Etage und verfluchte innerlich Liam und Mike dafür, dass sie ganz oben wohnten. Schöner Ausblick hin oder her! Ich sollte vielleicht in einen Treppenlift investieren. Schnell schüttelte ich den Kopf. Meine Güte, ich musste wirklich fertig sein.
Selbst das Aufschließen der Tür kam mir etwas zu anstrengend vor. Als ich es schließlich doch geschafft hatte, ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und ging geradeaus auf mein Zimmer zu. Der Flur war dunkel, weshalb ich ein wenig schneller lief. Dann plötzlich hörte ich ein Geräusch und blieb stehen. Ich runzelte die Stirn und lauschte angestrengt. Hatte ich es mir eingebildet? Kurz bevor ich weiterlaufen wollte, hörte ich es erneut.
Schlagartig lief ich rot an, als mir bewusst wurde, was genau ich da gerade gehört hatte. Da war es wieder. Ich schüttelte den Kopf, als mir schlecht wurde. Es war ein tiefes Stöhnen und es kam aus keinem anderen Zimmer als aus Liams. In mir zog sich etwas schmerzhaft zusammen und ich war versucht, in mein Zimmer zu sprinten, doch dann würden Delilah und Liam mich hören. Denn es lag auf der Hand, dass Liam nicht allein in diesem Zimmer war.
Langsam ging ich zu meinem Zimmer und versuchte das Stöhnen, dass ich immer mal wieder hörte auszublenden. An meiner Zimmertür angekommen, betätigte ich den Lichtschalter für den Flur, drehte mich um und sah zur Wohnungstür. Dort stand eine Handtasche, die nicht mir gehörte. Ja, sie war wirklich hier. Ich machte das Licht wieder aus, ging in mein Zimmer und ließ mich bäuchlings auf mein Bett fallen. Immerhin hörte ich jetzt nichts anderes mehr, als einen leichten Windzug, der durch den offenen Spalt an meinem Fenster kam.
Ich seufzte. Unerwartet wurde aus dem Seufzer ein Schluchzen und kurz danach ein Wimmern, bis mir die ersten Tränen über die Wangen liefen. Ich versuchte kläglich, es zu unterdrücken. Doch es brachte nichts. Ich war übermüdet, hatte höllische Kopfschmerzen und fühlte mich zu allem Überfluss plötzlich vollkommen allein. Was völlig dumm war, weil sich von heute früh auf jetzt nichts verändert hatte. Aber mir so bildhaft – oder geräuschhaft, falls es das Wort gab – vor Augen zu führen, dass Liam vergeben war und all die Berührungen, Momente und Augenblicke eigentlich gar nichts bedeuteten, fühlte sich an wie ein Schlag in die Magenkuhle.
Ich presse mein Gesicht in das Kissen, damit meine kläglichen Laute gedämpft wurden. Wie konnte ich nur so dumm sein und mich in einen Kerl verlieben, der vergeben war? Ich hatte es doch von Anfang an gewusst! Wie hatte das nur passieren können? Es gab kein Halten mehr. Endlos viele Tränen sammelten sich in meinem Kissen und meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer.
Wie lange ich letztendlich um einen Verlust geweint hatte, den ich selbst nicht ganz verstand, wusste ich nicht, aber irgendwann hatte mich die Dunkelheit des Schlafes umfangen und damit das Gefühl von Einsamkeit und Schmerz verdrängt.
Mein Bett bewegte sich. Verwirrt erwachte ich langsam aus meinem Schlaf, wurde aber noch immer von der Müdigkeit gefangen gehalten. Plötzlich spürte ich eine leichte Berührung an meinem Kopf. Ich runzelte die Stirn, als sich Kälte über meinem Körper ausbreitete. Ehe ich durch die Müdigkeit wieder in den Schlaf gezogen wurde, spürte ich erneut eine Berührung. Dieses Mal an meinem Handgelenk.
Mit einem Schlag war ich wach und versteifte mich. Mein Herz begann zu rasen und ich drohte die Orientierung zu verlieren. Mir wurde schlecht, ich bekam keine Luft und hatte das Gefühl eingesperrt zu sein. Die Berührung stoppe, doch noch immer konnte ich einen leichten Druck an meiner Hand spüren. Wie von einer Tarantel gestochen schreckte ich auf, sprang auf der Seite vom Fenster aus dem Bett und trat so viele Schritte zurück, bis ich die Wand hinter mir spürte.
Ich zitterte und meine Beine drohten unter mir nachzugeben, doch ich versuchte mich zusammenzureißen. Das Rauschen in meinen Ohren war unerträglich. Eine ausgewachsene Panikattacke konnte ich mir jetzt nicht leisten. Erst musste ich verstehen, was hier los war. Ich blinzelte, doch es war dunkel in meinem Zimmer und Sternchen schienen vor meinen Augen zu tanzen. Da war der erste Fehler. Es sollte doch nicht absolut dunkel in meinem Zimmer sein. Wofür sonst hatte ich das Nachtlicht?
Dann glitt mein Blick zur Tür, die ich nur schemenhaft sehen konnte. Ich riss die Augen auf. Die Tür war offen! Das war unmöglich. Ich schloss sie doch immer ab. Ich wollte meine kurze Schlafhose ein Stück weiter nach unten ziehen, merkte aber, dass ich gar nicht meine Schlafsachen anhatte. Verwirrt sah ich an mir herunter und erkannte meine weißen Sachen, die ich für das Krankenhaus angezogen hatte.
Die Erinnerungen kamen zurück. Ich war tot müde nach Hause gekommen, die Wohnung war dunkel gewesen, Liams stöhnen, Delilahs Tasche, die Kopfschmerzen und Tränen und dann erlösender Schlaf. Ich hatte vergessen die Tür zu verschließen. Ich schlang die Arme um meinen Körper, um das Zittern ein wenig unterdrücken zu können. Es half nichts.
Plötzlich nahm ich vor mir eine Bewegung wahr. Ich presste mich weiter gegen die Wand, doch einen Ausweg gab es nicht. Ich wartete auf Schmerzen oder irgendetwas anders und kniff die Augen zusammen. Vielleicht würde es alles ein wenig leichter machen. Doch es passierte nichts. Keine Berührung, kein Schmerz, keine Panik. Blinzelnd öffnete ich die Augen.
Das Zimmer war plötzlich leicht erleuchtet. Die kleine Lampe auf meinem Schreibtisch war angeschaltet. Ich nahm die Gestalt neben der Lampe wahr, die sich jetzt zu mir umdrehte. Mein Herz wollte versagen, bis ich ihn erkannte. Liam sah mich so erschrocken an, wie ich mich selbst fühlte.
„Natalie?"
Ich zuckte zusammen. Liam hatte meinen Namen geflüstert und ich war zusammengezuckt. Ich atmete zitternd ein. Die Arme um den Körper zu schlingen hatte nicht geklappt. „Natalie?", frage Liam noch einmal. Das Rauschen ließ etwas nach und selbst mein Herzschlag wurde etwas langsamer. Doch ich war noch weit davon entfernt, wieder ruhig zu sein. Erneut blinzelte ich, um mich zu sammeln.
„Was machst du hier?", brachte ich schließlich erstickt heraus.
Liam sah mich noch immer so erschrocken an und hatte sich auch noch keinen Zentimeter mehr bewegt. Hatte er mich angefasst, als ich geschlafen hatte? Das würde erklären, warum er jetzt im Zimmer war. „Ich..." Liam fuhr sich frustriert durch die Haare. Bei dieser abrupten Bewegung zuckte ich wieder unweigerlich zusammen, weshalb Liam den Arm langsam wieder sinken ließ.
„Was machst du hier?", fragte ich erneut. Dieses Mal war meine Stimme sogar etwas lauter, wenn sie auch noch immer zitterte und ängstlich wirkte. Ich schluckte schwer und versuchte mich zu beruhigen. Es war Liam, der vor mir stand und nicht irgendjemand anderes. Ich sollte mich zusammenreißen!
„Natalie." Wieder sprach Liam meinen Namen vorsichtig aus.
„Was?", schrie ich jetzt auf einmal und blickte Liam wütend in die Augen. Sie wirkten im Licht der Lampe fast schwarz. Die Qual konnte ich dennoch nicht übersehen. Sofort bekam ich wieder Angst.
„Ist etwas passiert?", fragte ich. Liam runzelte die Stirn, als verstünde er meine Frage nicht. Dann schüttelte er langsam den Kopf. „Das fragst du mich? Natalie du weinst, zitterst, springst schreiend vom Bett und siehst mich jetzt an, als würde ich dich gleich umbringen wollen."
„Ich hab nicht geschrien! Ich hab mir nur erschrocken", verteidigte ich mich. Liam schüttelte den Kopf. „Und geweint hast du auch nicht?" Ich schüttelte resolut den Kopf.
Liam sah mich traurig an. „Und wieso sind dann deine Wangen so nass?" Erschrocken fasste ich meine Wangen an. Ich hatte tatsächlich geweint. Hatte ich dann auch geschrien, als ich aus dem Bett gesprungen war? „Habe ich laut geschrien?", fragte ich leise. Liam nickte, sein Blick blieb dabei so traurig wie vorher.
„Ich wollte das nicht", beteuerte Liam. Er hob die Hand und streckte vorsichtig den Arm nach mir aus, doch ich presste mich weiter gegen die Wand. Verletzt ließ Liam den Arm wieder sinken. „Ich würde dir nie wehtun. Das weißt du doch, oder Natalie?"
Ich antwortete nicht, weil in meinem Kopf nichts mehr funktionierte, wie es sollte. Natürlich wusste ich, dass Liam mir niemals etwas antun würde. Doch ich zuckte zusammen, als ich an den Schmerz in meiner Brust dachte, in dem Moment als ich ihn gehört und Delilahs Tasche gesehen hatte. Es war unfair ihn dafür verantwortlich zu machen. Doch traute ich mich einfach nicht von der Wand wegzutreten.
„Natalie. Was ist passiert?" Erschrocken sah wieder zu Liam. Mein Blick war abgeschweift und auf den Boden gerichtet gewesen. „Es war ein langer Tag auf Arbeit. Ich muss in meinen Klamotten eingeschlafen sein."
Meine Antwort schien Liam nicht zu gefallen, denn er schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass ich das nicht meine. Wieso siehst du mich so panisch an, obwohl du weißt, dass ich dir nie etwas tun würde? Wieso hast du Angst im Dunkeln und schließt deine Tür ab?" Mich durchlief ein Schauer. „Wieso Natalie? Was hat man dir angetan?", Liam hob wieder den Arm und dieses Mal zuckte ich nicht so heftig zurück wie vorher, wenn ich mich auch innerlich schon wieder bereit machte, zu flüchten.
„Bitte tu das nicht. Hab keine Angst vor mir." Liam sah mich so gequält an, während er sprach, dass sich mein Herz unweigerlich zusammenzog. Ich wäre ihm wohl mittlerweile schon längst in die Arme gelaufen, wenn ich ihn und Delilah nicht vorher gehört hatte. Das hatte mir gezeigt, dass ich nichts in Liams Armen zu suchen hatte. Eine andere Frau hatte diesen Platz.
„Es geht schon wieder. Ich habe mich nur sehr erschrocken. Das ist alles." Es war eine lahme Ausrede, das wussten wir beide, aber die einzige Erklärung, die ich Liam geben wollte. Liam ließ erneut den Arm sinken, ohne mich berührt zu haben. Er wirkte entmutigt. Er tat mir schon wieder leid.
„Aber du weißt es, oder?"
„Was meinst du?" Mein Puls hatte sich wieder fast normalisiert und das Zittern war jetzt auch kaum noch zu sehen. Die Panikattacke hatte sich gelegt, ohne dass ich mich vor und zurück wiegend in einer Ecke verkrochen hatte. Das war gut. Ein richtiger Fortschritt.
„Dass ich dir nie etwas tun würde. Das würde ich nie. Das weißt du, oder?"
Ich blinzelte und musste plötzlich ein bisschen lächeln. Liam schien sich augenblicklich zu entspannen. Mir war vorher gar nicht aufgefallen, wie angespannt seine Schultern gewesen waren. „Das würdest du nicht. Ich weiß." Damit schien die letzte Anspannung von ihm zu weichen, denn Liam atmete langsam aus und sah mich erleichtert an. „Geht es dir besser?" Ich nickte.
Liam zögerte noch einmal kurz, eher er sich abwandte. „Ich geh dann lieber wieder."
„Warte. Wieso warst du überhaupt hier?" Liam drehte sich wieder zu mir. „Ich habe dich nicht kommen hören und als ich dich anrufen wollte, ist mir aufgefallen, dass du meine, aber ich nicht deine Handynummer habe. Darum habe ich mehrmals heute in dein Zimmer geschaut und dann lagst du plötzlich im Bett und hast geschlafen."
„Ich bin ziemlich spät zurück gekommen", bestätigte ich. Liam runzelte die Stirn. „Wieso hast du nicht gesagt, dass du wieder da bist?" Ertappt sah ich auf meine Finger, die ich abwechselnd knetete. „Nat?"
„Du hattest Besuch. Delilah war bei dir im Zimmer." Vorsichtig sah ich auf und erblickte Liams weit aufgerissenen Augen. „Ich wollte euch nicht stören, na ja weil... ich euch gehört habe."
„Was hast du gehört?", fragte Liam sofort und etwas zu laut, sodass ich schon wieder zusammenzuckte. Er murmelte gleich wieder eine Entschuldigung. „Lass mich das nicht aussprechen", bat ich, doch Liams Blick hatte sich an mich geheftet. Stumm wiederholte er seine Frage, bis ich geschlagen die Hände hochwarf.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top