Kapitel 16

Ich machte mich auf den Heimweg. Es war schon kurz vor sechs und ich hatte Grandma eigentlich versprochen, mit ihr zu Abend zu essen. Daraus würde wohl nichts mehr werden. Ich zog mein Handy aus meiner Handtasche und rief bei Grandma an. Es klingelte ein paarmal, bis Grandma abnahm

„Grandma, hallo hier ist Natalie. Ich werde es nicht pünktlich zum Essen schaffen."

„Das ist schade." Abrupt blieb ich stehen und für einen Moment setzte mein Herz aus. Das war nicht Grandma! „Wer?" Noch während ich fragte, erkannte ich die Stimme. „Mike?"

„Erraten." Mike lachte.

„Was machst du bei Grandma?"

„Ihr Essen genießen. Hoffentlich bald. Es sieht alles verdammt gut aus und du wirst dich ärgern, wenn du nicht bald hier auftauchst. Denn deine liebe Grandma will erst die Kartoffeln aufsetzten, wenn sie weiß, wann du kommst."

„Sag ihr, ich bin eben erst aus dem Krankenhaus raus. Ich werde noch über eine Stunde brauchen."

Mike seufzte gespielt tadelnd. „Wenn du mich nicht hättest." Ich runzelte die Stirn und wich einem Passanten aus, der mir entgegenkam. „Wieso das?"

„Wo bist du gerade?"

„Zwei Blocks vom Medical Center entfernt. Mike ich komme wirklich spät. Sag Grandma, ihr sollt allein Essen. Das ist nicht schlimm." Auch wenn mich der Gedanke gerade wirklich verwirrte, dass Mike bei Grandma war.

„Geh zurück. Ich rufe Liam an. Der müsste noch irgendwo unterwegs sein. Er holt dich mit dem Auto ab. Das geht etwas schneller. Hoffe ich. Ich sterbe gleich vor Hunger. Also zurück mit deinem hübschen Hintern zum Krankenhaus und warte dort auf Liam."

Dann war die Leitung tot. Verstört schaute ich mein Telefon an. Was zum Henker machte Mike bei Grandma, wenn Liam doch gar nicht dabei war? Und wieso waren sie plötzlich zum Abendessen eingeladen? Ich verstand die Welt nicht mehr. Bei dem BBQ hatte ich nicht den Eindruck gehabt, dass Grandma und Mike auch so ein gutes Verhältnis haben wie Liam und sie es haben. Das alles war schon wieder so unvorhersehbar, dass ich automatisch schmunzeln musste. Amerikaner waren wirklich verrückt.

Achselzuckend drehte ich mich auf dem Absatz um. Dann würde ich eben auf Liam warten. Im selben Moment lief jemand in mich rein. Ein älterer Mann sah mich böse an. „Bleib doch nicht einfach stehen und dreh dich um, Mädchen. Was soll das denn?" Eine Entschuldigung murmelnd trat ich aus dem Weg und ließ den Mann und die Fußgänger hinter ihm an mir vorbei. Volle Straßen hatte ich schon immer schrecklich gefunden.

Ich lief den Weg wieder zurück und stellte mich an den Straßenrand vor dem Krankenhaus. Leider hatte ich keine Ahnung, was für ein Auto Liam fuhr, sodass ich auch nach niemandem Ausschau halten konnte. Ich wartete jedoch keine zehn Minuten, da hielt plötzlich ein silbernes Auto vor mir. Das Fenster wurde heruntergelassen und mein Lächeln fiel in den Moment wieder in sich zusammen, als ich Delilah erblickte, die mich abschätzig über den Rand ihrer Sonnenbrille ansah. Na toll. Das konnte ja nur ein wirklich spaßiges Abendbrot werden.

Ich setzte mich auf den Rücksitz hinter Delilah und Liam drehte sich zu mir um. „Hey. Ich habe gehört, du warst heute nochmal im Krankenhaus?"

„Liam, fahr los", jammerte Delilah. Seufzend und mir einen entschuldigenden Blick zuwerfend, drehte Liam sich wieder nach vorne und fuhr los. Dennoch antwortete ich: „Ja, ich habe die Verträge unterschrieben."

„Wirst du bald eingewiesen in das Krankenhaus hier?", fragte Delilah. Eingewiesen? Ich blinzelte mehrmals. War das ihr Ernst? „Schatz, Natalie arbeitet bald hier. Sie hat heute die Arbeitsverträge unterschrieben." Liam sah mich im Rückspiegel an und lächelte. Doch wieder fehlte das Glänzen in seinen Augen. Meine Stimmung sank ein Stück weiter. „Herzlichen Glückwunsch. Es freut mich wirklich, dass es geklappt hat."

„Danke, Liam. Das ist lieb." Ich erwiderte Liams Lächeln, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte.

„Ja, manchmal ist er ein richtiger Softie. Kannst du dir vorstellen, dass er sogar bei Filmen anfangen kann zu heulen?" Liam warf Delilah einen unsicheren Seitenblick zu. Wollte sie Liam vor mir schlecht machen? Oder warum sagte sie das? Ich verstand Delilah nicht. Dennoch wollte ich diesen Satz nicht einfach im Raum stehen lassen.

„Na dann sind wir schon zwei. Ich bin, was traurige Enden angeht, wirklich eine Heulsuse." Wieder warf Liam mir ein Lächeln über den Spiegel zu, was ich erneut erwiderte. Ich mochte Liam wirklich sehr. Darum wollte ich, dass er verstand, dass es mir vollkommen gleich war, was Delilah über ihn erzählte.

„Männer weinen nicht!", bestritt Delilah.

„Und wieso nicht? Sie verfügen immerhin auch über Tränendrüsen." Jetzt war ich neugierig. Was für ein Bild hatte Delilah von Männern? Wie sollten sie ihrer Meinung nach sein. Und wenn Liam diesem Bild nicht entsprach, sondern sie sich einen harten Typen wünschte, warum war sie dann mit Liam verlobt?

„Das ist nicht männlich. Männer müssen der Fels in der Brandung und stark für die Frau sein."

„Meinst du das ernst?"

Delilah drehte sich zu mir um und sah mich verständnislos an. „Ja, selbstverständlich. Wir Frauen wollen von unseren Männern beschützt werden. So ist das nun mal."

„Okay. Erstens, nicht jede Frau will das. Ich kann gut und gern auf mich selbst aufpassen und so denken auch viele andere Frauen. Männer sollen ihre Frauen unterstützen, ihnen beistehen und Kraft spenden und nicht vor jedem Unheil bewahren. Das können sie gar nicht. Sie sind auch nur Menschen. Und zweitens" Delilah machte den Mund auf, um mir zu widersprechen, doch ich ließ sie nicht zu Wort kommen. „Warum sollten Männer nicht auch weinen können? Sie haben Gefühle wie wir. Da ist nichts verwerflich dran. Und das ist schon gar nicht unmännlich. Männer, die immer so tun, als ob sie stark sind, sind doch in Wirklichkeit die größten Weicheier, weil sie sich nicht trauen ehrlich zu sich selbst und der Welt zu sein."

Delilah klappte ihren Mund wieder zu. Ihr schien wieder eine Stichelei einzufallen, doch bevor sie es aussprechen konnte, sagte ich: „Und nein, das hat nichts damit zu tun, dass ich aus Schottland komme!" Trotzig drehte Delilah sich wieder nach vorne und verschränkte die Arme. Wie ein kleines Kind bockte sie und starrte aus dem Fenster. Ich gab mir alle Mühe meinen Triumph nicht zu genießen. Gespielt gleichgültig sah ich ebenfalls aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden Häuser und Menschen. Irgendwann sah ich zu Liam. „Danke, dass du mich abholst."

„Kein Problem. Wir waren noch bei mir, daher war es noch nicht mal ein wirklicher Umweg", winkte Liam ab. Verwunderte legte ich den Kopf schräg. Warum waren Liam und Delilah noch in der Wohnung, wenn Mike doch schon bei Grandma war und darauf wartete, dass es Essen gab? Mir kam plötzlich ein Gedanke, den ich ganz schnell wieder vertrieb, weil ich keine Bilder im Kopf haben wollte.

„Warum ist Mike eigentlich bei Grandma?", fragte ich trotzdem. Liam lachte. „Er hat sich selbst bei Eloise zum Essen eingeladen, als er erfahren hat, dass sie mich eingeladen hat." Liams Wortwahl, dass nur er eingeladen wurde und nicht er und Delilah fand ich interessanter als die eigentliche Antwort auf meine Frage. „Mike war in der Gegend, also nervt er Eloise schon seit fast einer Stunde. Aber wenn wir weiter so gut durchkommen sind wir in 20 Minuten da."

„Ohje, die Arme."

„Delilah, kannst du Mike schreiben, dass wir gleich da sind?" Genervt drehte sie sich zu Liam. „Wieso? Er wird doch wissen, wann wir ungefähr da sind."

Jetzt wirklich genervt zog ich mein Telefon aus der Tasche und rief noch einmal bei Grandma an.

„Ich habe Huuuuunger," rief Mike ins Telefon. Ich zuckte zusammen, musste aber gleichzeitig lachen, weil er wie ein kleines Kind klang. Oh man, niemals sollten seine Freundinnen erfahren, wie kindlich Mike doch sein konnte. Das würde sein ganzes Image ruinieren.

„Gut, dann sag Grandma, dass wir in 20 Minuten da sind."

„Amen. Das ist noch auszuhalten. Danke Natalie, dass ihr mich endlich von meinem Leid erlöst. Dafür werde ich mich bei dir erkenntlich zeigen."

„Erkenntlich? Inwiefern?" Meine Neugierde hatte gesiegt.

„Na ja, mir wird da schon etwas einfallen. Aber ich kann das nicht so vor deiner Grandma erzählen."

„Mike Anderson. Wenn du meine Enkelin auch nur anrührst, werde ich dich mit meinem Essen vergiften. Das schwöre ich dir!" Grandmas Stimme ertönte drohend aus dem Hintergrund. „Aber Eloise, ich würde doch nie-"

„Spar die deine Ausflüche du Lustmolch. Das zieht bei mir nicht." Plötzliche Stille trat ein, dann fingen Mike und ich schallend an zu lachen. Ich hielt mir den Bauch vor Schmerzen und die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten. Lustmolch. Ich weiß nicht, ob ich dieses Wort jemals schonmal gehört hatte.

„Hast du das gehört, Nat. Ich werde von deiner Grandma gerade auf das Äußerste beschimpft." Ich wischte mir eine Träne weg. „Du wirst es aushalten. Diese Beleidigung hat dich bestimmt hart getroffen, aber glaube mir, der Schmerz vergeht."

Mike schnaubte. „Ich hätte etwas mehr Mitgefühl erwartet. Danke für nichts."

„Immer wieder gern. Bis gleich." Ich legte auf, bevor das Gespräch noch skurriler wurde.

„Danke, Nat." Ich nickte, konnte mit dem Kichern aber noch nicht aufhören. Die Wortwahl meiner Grandma war manchmal wirklich einfach nur herrlich.

„Was war denn so witzig?", fragte Delilah scheinbar beiläufig.

„Ach nichts besonders. Wenn man es erzählt, ist es gar nicht mehr so lustig."

„Glaubst du, ich würde es etwa nicht lustig finden?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Das habe ich doch gar nicht gesagt. Verdreh mir nicht die Worte im Mund." Ruckartig drehte sich Delilah zu mir um und sah mich böse an.

„Delilah...", bat Liam leise, doch sie beachtete ihn nicht.

„Sag mir nie. Nie! Was ich sagen soll und was nicht." Ihre dunklen Augen zu schlitzen verengt, fixierte sie mich.

„Dann hör auf verdrehte Tatsachen zu schaffen. Sag von mir aus, was du willst, aber lass mich daraus." Delilah ging mir gehörig auf den Nerv. Ich sah es gar nicht ein, jetzt die Klügere zu sein und Klein beizugeben. „Hast du ein Problem mit mir?"

Delilah sah mich eine Weile einfach nur an, bis sie sagte: „Ich mag dich nicht, Natalie. Du hast etwas an dir, dass mir einfach nicht gefällt. Deine schottische Art wahrscheinlich. Den anderen zuliebe wollte ich es versuchen, aber bisher habe ich nicht viel Gutes von dir gesehen."

Mir klappte der Mund auf. Das hätte eins zu eins der Text sein können, den ich ihr an den Kopf hätte werfen können. Mir fehlten die Worte. Was wollte sie hier vor Liam spielen? Er war immer dabei gewesen, wenn ich Delilah gesehen habe, nur kurz bei dem BBQ war Liam einmal nicht dabei gewesen. Ich verstand einfach nicht, was in ihrem Kopf vor sich ging.

„Du meinst also, ich sein ein schlechter Mensch?", fragte ich nochmal nach. Delilah wog den Kopf hin und her, als müsste sie überlegen. „Ja, irgendwie schon", antwortete sie schließlich.

Ich lachte falsch. Bitte. Wenn das ihre Meinung von mir war, musste ich da wirklich nichts darauf geben. Dennoch wollte ich mehr wissen „Und wieso?"

„Wieso was?"

„Wieso denkst du, ich sei ein schlechter Mensch? Was habe ich getan?"

Delilah zuckte mit den Achseln. „Das ist einfach nur ein Gefühl. Ich glaube, du tust nur so selbstlos. Wahrscheinlich stehst du darauf, dass Menschen krank werden oder so."

Das Auto hielt und ich ah, dass wir endlich angekommen waren. Ich war versucht, Delilah noch eine ordentliche Antwort zu geben, aber ich sparte es mir. Was würde es bringen. Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte. Darum stieg ich ohne ein Wort einfach aus dem Wagen aus und ging zur Haustür.

Ich hörte, wie Liam den Motor abstellte. Zwei Türen gingen auf und dann gleich wieder zu. „Natalie!" Liam rief meinen Namen, aber ich schloss die Haustür auf und öffnete sie. Es wäre dumm, die beiden jetzt einfach draußen stehen zu lassen, darum stellte ich den Fuß gegen die geöffnete Tür und wartete, bis die beiden bei mir ankamen.

Delilah spazierte erhobenen Hauptes an mir vorbei, doch Liams schuldiger Blick traf mich sofort. Warum hatte er nichts gesagt? Wieso hatte er Delilah einfach reden lassen? Dachte er etwa genauso? Aber dann würde er mir nicht über den Weg trauen. Und Liam hatte gesagt, dass er mir vertraute. War es ihm egal, was Delilah sagte? Oder wusste er nicht, dass diese Worte wehtun konnten? Ich wollte wirklich verstehen, warum Liam geschwiegen hatte, doch ich war schlecht drauf, weshalb ich ihn links liegen ließ und Delilah nach oben folgte. Sie klingelte, aber ich schloss die Tür auf, bevor jemand sie aufmachen konnte. Ohne ein Wort an sie ging ich als Erstes in die Wohnung. Meine Stimmung war nun wirklich im Keller.

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