Kapitel 12
„Was meinst du?"
„Kindern helfen. Das hast du richtig gut gemacht und du hast auch extrem schnell reagiert, als das Mädchen hingefallen ist. Aber du bist nicht panisch zu ihr hingelaufen", erklärte das Mädchen.
„Das hätte sie nur noch mehr verunsichert." Das Mädchen nickte.
„Oh, entschuldige. Ich bin Fiona." Sie hielt mir ihre Hand hin und lächelte mich freundlich an. „Natalie, freut mich." Wir schüttelten uns die Hände und sahen dann zu den Kindern, die fast gar nicht mehr zu sehen waren.
„Studierst du?" Ich sah zu Fiona, die mich abwartend ansah und nickte. „Ja, ich komme ins vierte Semester und studiere Krankenpflege." Fionas Augen wurden groß. „Ah, darum hattest du deine kleine Notfalltasche dabei! Ich studiere auch Krankenpflege, bin aber schon im siebten Semester."
Überrascht sah ich Fiona an. Das kam unerwartet. Fiona war ein gutes Stück kleiner als ich und hatte dunkelbraunes Haar, dass ihr glatt über die Schultern fiel und bis zum Brustansatz reichte. Sie hatte braune Augen und eine kleine schmale Nase.
„Schau nicht so, als wäre das vollkommen absurd!", bat Fiona lachend.
„Oh, entschuldige. Ich war nur so überrascht. Das ist alles." Fiona nickte. „Na okay. Lass ich so jetzt einfach mal durchgehen."
„Du bist also schon fast fertig mit dem Studium?"
„Ja, noch ein Jahr, dann bin ich durch. Wird auch endlich Mal Zeit. Dann kann ich Vollzeit im Krankenhaus arbeiten."
„Ja, geteilte Arbeitszeiten, die unregelmäßig sind, tun irgendwie keinem so gut."
„Ja, gut nur, dass die Patienten im Optimalfall nicht lange dableiben, um das zu bemerken." Wie recht Fiona doch hatte. Man hatte zwar feste Vorlesungszeiten, aber an einem Tag fingen die erst 14 Uhr an, am Tag davor waren sie aber schon 12:30 Uhr zu Ende. Streckenweise war es ziemlich anstrengend gewesen, wenn man aus einer Nachtschicht kam und dann am nächsten Morgen gleich eine Vorlesung hatte.
„Wo hast du deine Erfahrung mit Kindern her?"
„Oh, ich habe vorher in Schottland studiert und dort in einem Krankenhaus in der Kinderabteilung gearbeitet."
„Und hier willst du das nicht mehr?"
„Ich würde mich erst einmal darüber freuen, wenn mich ein Krankenhaus nehmen würde. Eigentlich würde ich schon gern auch andere Abteilungen sehen, aber wichtig wäre es mir erstmal wieder das tun zu können, was ich gerne tue."
„Menschen helfen. Ich sehe schon. Du hast genauso wie ich dieses Helfersyndrom." Ich lachte. Obwohl ich Fiona eben erst kennengelernt hatte, machte es Spaß mit ihr zu reden. Es war einfach und unkompliziert, aber wir waren auf einer Wellenlänge.
„Komm mal mit." Fiona nahm plötzlich meine Hand und zog mich mit sich vom Strand weg wieder auf die Stadt zu. „Warte, was?" Verwirrt trotte ich Fiona hinterher.
„Keine Sorge. Ich will dich nicht entführen, ausrauben oder umbringen. Dafür bist du ein viel zu guter Mensch. Wir brauchen mehr wie dich. Die Kindern zu Hilfe kommen und gern anderen Menschen helfen."
Da ich kein ungutes Gefühl hatte, Fiona zu folgen, lief ich ihr einfach hinterher und wartete ab, wo sie mich hinbringen wollte. Wir liefen auf der Straße entlang, die gleich neben dem Strand verlief. Es war eine schöne Gegend. Nicht zu nobel, aber auch nicht heruntergekommen. Die Mehrfamilienhäuser waren allesamt ordentlich saniert und teilweise sogar hübsch anzusehen. Irgendwann blieb Fiona schließlich stehen.
Verdutzt sah ich über sie hinweg und entdeckte ein Krankenhaus, dass ein paar Meter vor uns stand. „Ein Krankenhaus direkt am Meer?"
„Luxus, nicht wahr? Da kann man, wenn man seine Mittagspause mal genießen kann, gerne die Beine ins Wasser halten. Würde ich liebend gern öfter machen, als ich wirklich kann."
„Du arbeitest hier?", fragte ich überrascht.
„Jap. Seit fast zwei Jahren. Komm mit." Wieder nahm sie mich bei der Hand und lief auf das Krankenhaus zu. Wir gingen an der Notfallambulanz vorbei und nahmen den Haupteingang, der zum Wasser zeigte. Das war wirklich eine perfekte Lage. Ich fragte mich dennoch, wie es sein konnte, dass ein Krankenhaus hier am Rand der Stadt sein konnte. Sollten sie nicht eher zentraler liegen?
„Dr. Human, ja so heißt unsere Krankenhausleiterin wirklich, hat das Krankenhaus in vierter Generation ihrer Familie übernommen. Sie ist eine Top Chirurgin und auch Leiterin." Der Name der Ärztin schien mir schon etwas seltsam, aber irgendwie auch passend. Ich schmunzelte, fragte dann aber: „Und wieso liegt das Krankenhaus hier?"
Fiona, die mich gerade durch eine moderne Eingangshalle, sogar mit Blumenladen und schicker Cafeteria leitete, lachte. „Es passt ganz gut, da hier schnell Hubschrauber landen können, viele Badeunfälle einen kurzen Weg zu uns haben und auch Menschen, die entgegen des Berufsverkehrs nach außen fahren wollen, es einfacher haben, anstatt im Stau zu stecken. Wir haben eine große Gynäkologie und Geburtshilfe, aber auch unsere Chirurgen sind bekannt in der Stadt und Umgebung. Wir haben als schon etwas zu bieten."
„Schön, dass du in der Wir-Form sprichst. Du bist vollkommen Teil des Teams." Fiona lachte wieder. „Ja, das kann man wohl nicht mehr abstreiten. So, wir sind da." Fiona hielt vor einer Tür als Milchglas und drehte sich grinsend zu mir um.
„Was wollen wir hier?" Anstatt mir zu antworten, klopfte Fiona und eine Stimme bat uns, einzutreten. Fiona öffnete die Tür und deutete mir, ihr zu folgen. Verunsichert, da ich nicht wusste, was mich hinter der Tür erwartete, folgte ich ihr und schloss die Tür hinter mir. Dann sah ich zu der Frau, die an einem Schreibtisch saß und Röntgenbilder gegen das Licht hielt. Sie trug einen Arztkittel und ein Stethoskop um den Hals. Ich musste bei diesem klassischem Anblick einer Ärztin lächeln.
„Hallo Dr. Human!" Fiona ging zu dem Schreibtisch und setzte sich in einen der zwei Sessel. Ich tat es ihr gleich, als sich Dr. Human zu uns drehte und von Fiona kurz zu mir sah und dann wieder zurück zu ihr.
Dr. Human war vielleicht Mitte vierzig. Sie hatte schwarze Haare, die zu einem ordentlichen Dutt im Nacken zusammengebunden waren und dunkelblaue Augen. Eine rahmenlose Brille steckte in ihrer Brusttasche. Als sie anfing zu lächeln, bildeten sich Lachfältchen um ihre Augen herum. Sie sah sehr freundlich aus und schien auch ein gutes Verhältnis zu Fiona zu haben. Keiner, der beiden schien zumindest den anderen nicht leiden zu können.
„Fiona, was machst du hier? Du hast doch heute frei. Und wer ist deine Freundin?"
Ich wollte mich eben bei Dr. Human entschuldigen, als Fiona mir zuvorkam. „Ich wollte den freien Tag wirklich genießen und war sogar am Strand, aber da hab ich Natalie hier kennengelernt und herausgefunden, dass sie neu in San Francisco ist. Sie studiert auch Krankenpflege und sucht noch ein Krankenhaus, in dem sie arbeiten kann."
Überrascht und vor allem interessiert blickte Dr. Human von Fiona nun wieder zu mir.
„Guten Tag. Man Name ist Dr. Veronica Human. Ich bin die Leiterin des San Francisco Medical Center."
„Hallo. Ich bin Natalie Roy, na ja und wie Fiona eben sagte, studiere ich auch Krankenpflege. Ich komme ursprünglich aus Schottland bis aber zu meiner Grandma hierhergezogen."
„Das ist eine ziemlich weite Reise und wenn ich sagen darf eine große Umstellung." Ich lachte. „Ja, da haben Sie vollkommen recht."
„Also Natalie, ich darf doch, Natalie zu Ihnen sagen?" Ich nickte. „In welchem Semester sind Sie denn?"
„Im vierten jetzt. Ich wäre eigentlich im fünften, aber da ich den Universitätswechsel von Schottland nach Amerika mache, muss ich ein Semester wiederholen."
„Haben Sie denn vorher schon in Krankenhäusern gearbeitet?"
„Ja, anderthalb Jahre in der Kinderabteilung."
„Und wollen Sie wieder in diese Abteilung?" Dr. Human hatte sich nach vorne gelehnt, die Unterarme auf dem Schreibtisch aufgestützt und die Finger verschränkt. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt mir. Das machte mich ein bisschen nervös, aber Dr. Human war nett und sah mich freundlich an. Daher fiel es mir nicht schwer, mich einigermaßen zu entspannen.
„Es wäre kein Problem für mich, wieder in dieser Abteilung zu arbeiten, aber ich finde auch die Chirurgie interessant und die Notfallambulanz."
„Das sind beides komplett andere Gebiete und sehr nervenaufreibend. Glauben Sie, sie würden das schaffen?"
„Ich glaube, mit Kindern braucht man auch Geduld und eine Menge Nerven. Vor allem, wenn es ihnen nicht gut geht. Keine Abteilung im Krankenhaus ist einfach. Dem einen mag die eine leichter vorkommen als die andere, aber das ist meiner Meinung nach subjektiv."
Dr. Human nickte. „Das ist eine gute Einstellung. Als hören Sie Natalie, ich hatte nicht geplant noch einen Studenten einzustellen, aber ich glaube, Sie könnten eine gute Bereicherung für ihr Team sein. Sie sind ohne Vorbereitung in dieses Gespräch und haben sich doch gut geschlagen. Senden Sie mir einfach schnellstmöglich Ihren Lebenslauf und Ihre Referenzen zu. Dann schaue ich mal, was sich machen lässt. Wie klingt das?"
„Das, das wäre großartig!" Fassungslos blinzelte ich die Frau vor mir an. War nun doch noch ein Wunder geschehen?
„In einer neuen Stadt, dazu noch in einem neuen Land, braucht man ab und an Hilfe und Menschen, die einem eine Chance geben."
„Na das war doch schon ein voller Erfolg." Vollkommen überrumpelt von der ganzen Situation war ich Fiona wieder nach draußen gefolgt und hatte dabei vergessen, dass ich meine Unterlagen schon bei mir hatte. Dr. Human hatte mir ihre Karte mit ihrer Mail Adresse geben und da sie kurz nach uns das Büro verlassen hatte und schnellen Schritts an uns vorbeigegangen war, hatte ich sie auch nicht noch einmal suchen wollen. Sie hatte sicherlich genug zu tun. Da wollte ich es ihr so einfach wie möglich machen. Die Daten per Mail zusenden, würde auch nicht sehr lange dauern.
„Ja, das stimmt. Danke Fiona." Ich nahm Fionas Hände und drückte sie. Ihr Lächeln war so ehrlich, dass es mich rührte. Ich konnte gar nicht sagen, ob es jemanden gab, der für mich so etwas schon mal getan hatte. Es war neu, dass jemand mir seine Hilfe anbot, ohne mich zu kennen.
„Kein Problem, wirklich. Aber wehe, du bist unzuverlässig. Das fällt dann auf mich zurück!" Fiona hob spielerisch den Zeigefinger und drohte mir, zwinkerte im selben Augenblick aber auch. Ja, Fiona mochte ich sehr.
„Keine Sorge. Ich werde so fleißig sein, wie ich nur kann."
„Warum hab ich keinen Zweifel daran? Natalie Roy. Ich freue mich, bald mit Ihnen zusammen dieses Krankenhaus unsicher machen zu dürfen."
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