Kapitel 1

Das Haus sah schon ziemlich heruntergekommen aus. Insgesamt sechs kleine Apartments verbargen sich hinter der roten Holztür, an der unten die Farbe schon stark abgeblättert war. Die Steinstufen hatten auch schon einige Risse, schienen aber trittfest zu sein. Am meisten machte mir das Metallgeländer Sorgen. Es war zwar schön geschwungen und hat vor einigen Jahren bestimmt auch wirklich nett ausgesehen, aber es machte so einen wackeligen und rostigen Eindruck auf mich, dass ich es sicherlich nie anfassen würde.

Andererseits würde meine Grandma es sicherlich ohne dieses Geländer nicht schaffen die Stufen zur Haustür hoch- oder runterzulaufen. Sie war mit ihren 70 Jahren vielleicht noch wirklich unternehmungsfreudig, aber dennoch machten sich ihre Gelenke und Knochen bestimmt schon bemerkbar.

Ich nahm meine Koffer wieder in die Hand und trug sie die Treppen hoch. Rechts neben der Tür befanden sich die Klingeln. Als ich die meiner Grandma gefunden hatte, klingelte ich mit klopfendem Herzen.

Bis jetzt ging es mir noch gut. Ich war aufgeregt gewesen, aber das war ein normales Maß gewesen. Jetzt aber würde ich mich am liebsten übergeben, weglaufen oder irgendwo verkriechen. Wahlweise auch alles drei zusammen. Meine Nervosität machte mich ganz kirre und so wischte ich mir erneut meine schwitzigen Hände an meiner Jeans ab. Seit ich den Brief vor einem halben Jahr erhalten hatte, war ich stets aufgeregt gewesen, wann immer ich mit Grandma telefoniert hatte. Aber das war nichts im Vergleich zu der Nervosität, die ich in diesem Moment verspürte. Das machte mich wahnsinnig.

Ich hatte keine Ahnung, wie meine Grandma aussah und doch wusste ich, dass sie bestimmt einmal eine sehr hübsche Frau gewesen sein muss. Über den Gedanken an die Geschichten, die sie mir in einem Brief erzählt hatte, wie sie damals einigen Männern – auch meinem Grandpa – den Kopf verdreht hatte, musste ich schmunzeln.

„Hallo?" Eine verzerrte, kratzige Stimme drang durch den Lautsprecher. „Hallo Grandma, ich bin es Natalie." Eine Weile hörte ich nur das Rauschen der Gegensprechanlage. „Oh Natalie Liebes, bitte komm rein. Ich wohne im ersten Stock." Automatisch griff ich nach dem runden Türknauf und wollte die Tür aufdrücken, aber sie blieb verschlossen. „Grandma, die Tür ist zu", rief ich nach rechts, in der Hoffnung, dass meine Grandma mich noch hören konnte. „Oh, ja richtig. Geht es jetzt?" Ein Summen ertönte und ich stolperte einen Schritt nach vorne, als die Tür nachgab und sich öffnen ließ. „Ja. Ich bin gleich da!" Ich schüttelte vergnügt den Kopf und pustete mir eine Strähne meines roten Haares aus dem Gesicht. Im Hausflur war es angenehm kühl. Draußen herrschten mit Sicherheit knapp dreißig Grad.

Für solch ein Wetter besaß ich einfach keine richtige Kleidung. Eine meiner ersten Taten würde es sein, mehr Sommerkleidung zu kaufen. In Schottland kannte man sowas wie 30 Grad im Schatten gar nicht. Wir freuten uns über 24 Grad. Dennoch liebte ich meine Heimat und vermisste sie schon jetzt. Die endlosen Highlands, der stürmische Wind und die Freundlichkeit der Menschen. Hier in Amerika herrschte ein ganz anderes Klima. Und damit meinte ich nicht nur das Wetter.

Die Holztreppe des Hauses knarrte wirklich stark, als ich auftrat und versuchte meine zwei Koffer mit mir hochzuziehen. Wieso hatte ich diese ganzen Sachen mitgenommen? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich diese ganzen dicken Pullover und langen Jeanshosen hier in San Francisco nie brauchen würde. Sich bei dem lauten Knarren unbemerkt in das Haus oder hinaus zu schleichen, war unmöglich. Immerhin wirkte das Holzgeländer stabiler als das draußen am Eingang und hatte noch immer etwas von der grünen Farbe, die einst bestimmt mal wirklich hell geleuchtet haben musste. Ich schnappe mir meine großen Koffer und hievte sie Stufe für Stufe ein Stück höher.

Ziemlich schnell war ich im ersten Stock angekommen. Zwei Türen befanden sich auf dieser Etage. Die eine links und die andere rechts. Ein Schloss wurde zur Seite geschoben, ein Schlüssel umgedreht und eine Kette von dem Türhaken abgenommen. Dann ging die Tür links von mir auf. Hinter der schwarzen Holztür kam eine kleine, etwas rundliche Gestalt zum Vorschein. Ich musste sofort lächeln, als ich die geblümte alte Schürze meiner Grandma sah. Unter der Schürze trug Grandma ein einfaches weißes T-Shirt, dazu einen knielangen burgunderroten Faltenrock und schon abgetragene Slippers. So hatte ich sie mir vorgestellt.

Ich betrachtete Grandma eine ganze Weile, während auch sie den Blick über mich gleiten ließ. Aus irgendeinem Grund wollte ich, dass sie mich mochte. Ich wollte, dass ihre Worte am Telefon und in den Briefen nicht nur Floskeln waren, sondern auch ihre ehrlichen Gefühle gewesen waren. Ich wüsste nicht, was ich machen sollte, wenn ich dieser Frau nicht näher kommen könnte. Immerhin hatte ich alles auf eine Karte gesetzt, um mein Studium hier in San Francisco weitermachen zu können. Ich wollte bei Grandma sein, sie kennenlernen, ihre Geschichten hören und vielleicht auch etwas über meine Mom erfahren.

Ihr gegenüber empfinde ich nicht viel. Weder Abscheu noch Zuneigung. Sie ist die Frau, die mich auf die Welt gebracht hat, aber mich nicht wollte, wie schwer es damals für sie auch gewesen sein muss. Verzeihen konnte ich ihr das nicht mehr, da sie schon längst gestorben war, aber ich hasste sie dafür auch nicht, denn ich wüsste auch nicht recht, wie mein Leben verlaufen würde, wenn ich plötzlich schwanger werden würde. Vielleicht musste ich mir erst noch meiner Gefühle ihr gegenüber bewusstwerden. Aber eigentlich tendierte ich nicht dazu, Menschen zu hassen oder jemandem etwas lange übel zu nehmen. Ich war eigentlich ein sehr genügsamer Mensch. Einige nannten mich naiv, aber das war meiner Meinung nach Ansichtssache. Wer wollte auch schon als naiv betitelt werden?

Während ich Grandma so betrachtete, fragte ich mich, ob sie mir damals als kleines Kind auch immer Kekse gebacken hätte, wie ich es oft im Fernsehen gesehen hatte. Ob ich auch auf ihrem Schoß gesessen und wir zusammen etwas gebacken hätten. Sehnsucht breitete sich in mir aus. Es war nicht das erste Mal, dass ich dieses Gefühl verspürte. Es war während meines ganzen Lebens ein ständiger Begleiter gewesen. Etwas in mir zog sich zusammen und ich merkte, wie mich ein Gefühl der Traurigkeit überkam.

Oft habe ich mir gewünscht, eines der Kinder sein zu können, das eine Familie hatte und noch nichts von der hässlichen Seite dieser Welt wusste und genauso oft habe ich mich selbst dafür gescholten, denn durch diese Denkweise konnte nichts besser werden. Weder mein Leben noch die Welt. Würden alle Menschen so denken, wo würde das enden? Wenn ich die Welt heller und besser machen wollte, dann musste ich das selbst in die Hand nehmen und dazu etwas beitragen. Selbst wenn meine Hilfe nur ein einzelner Tropfen ist, so reicht doch dieser eine aus, um das Glas zum Überlaufen zu bringen. Vielleicht bin ich nicht der letzte entscheidende Tropfen, aber ich bin und will ein Tropfen sein, der das Glas ein Stückchen weiter füllt. Ich will anderen ihr Leben erleichtern und ihr Leid mindern. Irgendwie wollte ich das schon immer. Und das hat sich auch nie geändert.

„Meine Güte, Liebes sieh dich an!" Verwirrt blinzelte ich meine Grandma an, als sie mich mit ihrem Ausruf wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Ich sah an mir herunter. Hatte ich etwas Seltsames an? Ich blickte auf meine weißen Schneaker, die nur einen roten Streifen zwischen Schuhsohle und Stoff hatten, auf meine dreiviertellange blaue Jeans und mein lockeres rotes Oberteil. Prüfend fasste ich nach meinen Haaren. Meine Haare waren nicht lang und reichten mir gerade einmal bis zu den Schultern, aber da ich sie zu einem Longbob geschnitten hatte, der vorne etwas länger war als hinten und meine Haare seidenglatt waren, lagen sie fast immer, wie sie sollten. Ich wusste wirklich nicht, was meine Grandma so erschreckt haben könnte.

„Du bist zu so einer hübschen jungen Frau herangewachsen! Du musst die Jungs seit einigen Jahren schon verrückt machen." Ich blinzelte einmal. Dann nochmal, bis die Worte in meinem Kopf ankamen. Ich fing an zu lachen. „Grandma. Die Männer stehen nicht Schlange bei mir." Sie runzelte die Stirn. Wahrscheinlich verstand sie es wirklich nicht. Aber sie kam auch aus einer ganz anderen Zeit. Es mag sein, dass meine feuerroten Haare für Aufmerksamkeit sorgten, doch die meisten Männer standen weniger auf Kurven, sondern mehr auf Modelmaße. Eigentlich hätte ich durch die Welt einen Komplex entwickeln und meinen Körper nicht als schön empfinden müssen, aber ich war mit mir im Reinen. Dass ich nicht in die Kinderabteilung musste, um mir eine Hose zu kaufen, fand ich eher angenehmer als alles andere. Aber wahrscheinlich war der Gedanke gemein und ich zog damit wieder alle über einen Kamm.

Ich schüttelte den Kopf über meine Gedanken. „Das glaube ich dir nicht. Aber wen interessieren schon die Männer? Komm doch erst mal rein und dann können wir uns erstmal richtig begrüßen. Ich wollte auch gerade einen Kuchen backen!" Lächelnd trat ich in die Wohnung meiner Grandma. Dass sie sich keine so großen Umstände machen sollte, sagte ich ihr lieber nicht, da ich ihr das in jedem unserer letzten Telefonate gesagt hatte und sie mich dafür immer nur liebevoll getadelt hatte. Sie wollte mich verwöhnen und mir geben, was ich bisher nicht hatte. Das fand ich süß. Machte mich aber auch wieder auf eine gewisse Art traurig. Ich konnte es selbst nicht erklären, aber so war es.

Ich betrat den schmalen Flur der Wohnung und sofort umhüllte mich der Geruch von Mandeln, verschiedensten Teegerüchen und Kerzenduft. „Es ist wirklich schön, dich zu sehen Grandma." Ich trat auf Grandma zu und umarmte sie fest. Sie erwiderte die Umarmung sofort, ohne zu zögern. Ihre feuchten Augen sind mir dabei nicht entgangen. Wenn ich aber ehrlich war, ging es mir nicht anders. Ich musste ganz schön kämpfen, um meine Tränen im Zaum zu halten. Seltsamerweise war es aber nicht zwanghaft und komisch zwischen uns. Es fühlte sich irgendwie richtig an. So, als hätte sich jetzt endlich eine Lücke geschlossen, die ich schon mein ganzes Leben lang in mir getragen hatte.

„Wir haben uns viel zu erzählen", erwiderte sie, als wir uns nach einer Weile wieder voneinander lösten. „Aber zuerst zeige ich dir mal das Gästezimmer, dass ich für dich hergerichtet habe. Es ist nicht groß, aber sollte seinen Zweck erfüllen, bis du eine Wohngemeinschaft gefunden hast oder du einen Platz im Wohnheim bekommst. Du hast von dem Zimmer aus eine schöne Aussicht auf den kleinen Park hinter dem Haus." Grandma erzählte vor sich hin, während sie mich durch den kleinen Flur dirigierte und auf eine geschlossene Tür deutete. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich und irgendwie fand ich das niedlich. Ja, genau so hatte ich mir meine Grandma immer gewünscht und vorgestellt. Und so wie es aussah, war ich gerade dabei so eine Grandma zu bekommen.

Grandma öffnete eine Tür und gab den Blick auf ein wirklich liebevoll eingerichtetes Zimmer frei. Cremefarbene Vorhänge wehten in der leichten Brise, die durch das hochgeschobene Fenster hineinströmte. Vor dem Fenster stand ein kleines Bett, auf dem ich allein gerade genug Platz finden, es aber noch nicht mal mit einer Katze teilen konnte. Mehrere Kissen standen ordentlich aufgeschüttelt auf der Tagesdecke, die meine Grandma sicherlich einmal selbst genäht hatte. Geblümte Muster schienen wohl ihre Lieblingsmuster zu sein. Blumen standen auch auf dem kleinen weißen Schreibtisch, der genau neben dem Bett stand und somit immerhin ein Drittel des Fensters einnehmen konnte. Die lila Blumen gaben einen schönen Kontrast zu der babyblauen Tagesdecke und den cremefarbenen Wänden. Die weißen Möbel – der Kleiderschrank, Schreibtisch und ein schmaler Nachttisch ließen den Raum letztlich sogar größer aussehen, als er wahrscheinlich war. Grandma hatte sich so viel Mühe gemacht, dabei hatte sie gewusst, dass ich nicht ewig hier wohnen würde. Wieder musste ich mit den Tränen kämpfen. In der Mitte standen vier Kartons, in denen ein paar Sachen wie Bücher und Ähnliches waren. Ich hatte sie vorher hierhergeschickt, damit ich mich mit denen nicht hätte auch noch rumschlagen müssen.

„Es ist wirklich schön hier, Grandma. Ich werde mich hier sicher viel schnell einleben und dann nie wieder weg wollen", sagte ich schmunzelnd und drehte mich zu meiner Grandma. Sie stand in der Tür während ich ein paar Schritte in mein neues Zimmer gegangen war, um mich richtig umsehen zu können.

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Hallo alle zusammen, 

und damit herzlich willkommen zu einer neuen Geschichte! Ich freue mich, neue und auch wieder altbekannte Leser & Leserinnen zu treffen. Vorerst werde ich jeden Freitag ein neues Kapitel hochladen. Im August und September stehen bei mit die Abschlussprüfungen für das Semester an, daher brauche ich den Puffer, sonst komme ich mit dem Schreiben wohl nicht so hinterher, wie ich es gern wollte. Wenn das vorbei ist, werde ich gehabt auch wieder öfter Kapitel hochladen! Versprochen.
Ich freue mich schon darauf mit euch zusammen Natalies und Liams Geschichte zu erleben. Bis nächsten Freitag also!

Ciao

C.N.

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