my first
Jaemin.
Den Namen wurde Jeno nicht los. Nicht einmal, wenn er schlief. Er begleitete ihn Tag für Tag, wich nur von seiner Seite, wenn er den Besitzer dieses Namens sah; Na Jaemin. Sie teilten sich einen Kurs, doch Jaemin war nie mit den anderen beschäftigt, nach dem Unterricht oder auch nur in einer kurzen Pause wendete er sich dem wichtigsten aller Dinge zu: seinen Büchern.
Jeno war fasziniert von dem blonden Jungen, seine Haare waren gefärbt und doch sahen sie so weich aus, dass er sich schon zu oft bei dem Gedanken erwischt hatte, durch sie zu streichen. Jeno wusste, welche Haarfarbe er von Natur hatte, hatte ihn noch mit dunklen Haaren bemerkt, er kannte seinen Kleidungsstil, sein Lieblingsbuch, wusste, welches Genre er am liebsten las, wusste, dass er gut im Unterricht war, liebte seine Stimmfarbe. Doch es gab eine Sache, die Jeno nicht kannte:
Jaemins Augenfarbe.
Nicht, dass er seine Augen nicht sehen konnte. Aber sie saßen zu weit voneinander entfernt und Jaemin sah viel zu selten in Jenos Richtung, als dass er sie wirklich wahrnehmen konnte.
Mit Sicherheit waren sie braun, das wusste Jeno, doch er wollte sie sehen, so dringend sehen. Er kannte die Augenfarben seines gesamten Fußballteams, die Farbübergänge, Sprenkel. Aus nur einem Grund; er zeichnete sie.
Alle Augen, die er jemals gesehen hatte, sich gemerkt hatte, weil sie besonders für ihn waren. Jeder Mensch hat ganz eigene, spezielle Augen, ob wegen der Form oder der Farbe oder des Lidstrichs. Jeno zeichnete sie alle.
Anfangs waren es Skizzen, Anfängerstil, kaum detailreich. Doch je mehr er zeichnete, desto besser wurde er. Mittlerweile tat er es nicht mehr. Nicht, bevor er nicht Jaemins gesehen hatte.
Jeden Montag, Mittwoch und Freitag stattete Jeno der Schulbibliothek einen Besuch ab, nur um Jaemin immer am gleichen Ort zu finden, einem dunkelblauen Ledersessel neben dem Poesieregal, abgelegen und vor fremden Blicken geschützt.
Außer vor Jenos.
Er konnte ihm ewig dabei zusehen, wie seine Finger noch während er las unter die nächste Seite glitten, fast lautlos umblätterten und fließend ihren Weg unter die nächste Buchseite fanden. Meistens wendete Jeno den Blick ab, wenn er Schritte hörte, peinlich berührt studierte er die Bücher im Psychologieregal, bis die Schritte verhallt waren und sein Blick wie von selbst zurück auf den bildhübschen Jungen glitten.
Manchmal bewegte Jaemin sich über Stunden nicht, nur seine Finger glitten über und unter die Seiten. Seine langen Wimpern senkten sich dann und wann langsam, nur um hastig wieder aufzugehen. Als hätte sein Blinzelreflex ausgesetzt, zu sehr war er auf das Buch konzentriert, doch er hätte die Zeile verlieren können, hätte er die Lider zu lange geschlossen gehalten.
Es verging keiner dieser Tage, ohne dass Jeno ihn nicht dort sitzen sah. Noch nie hatte er ihn mit etwas anderem als Büchern oder Stiften in der Hand gesehen, hauptsächlich Fantasie oder Poesie, Füllfederhalter oder Kugelschreiber. Auch auf der Straße nicht, im Park, als Jeno einmal an ihm vorbeigelaufen war, er war so vertieft in sein Notizheft gewesen, eine aufgeschlagene Gedichtsammlung neben ihm.
Jeno wusste das, da diese Sammlung eines der wenigen Bücher war, das ihn tatsächlich interessiert hatte. Er hatte sie in sich aufgesogen wie sonst nur Jaemins Erscheinen, und schon damals hatten seine Freunde ihn für verrückt gehalten, sich so in etwas hineinzusteigern. Er hatte viel interpretiert, darüber nachgedacht, war ihnen mit Versen oder gar ganzen Strophen auf die Nerven gegangen.
Und auch mit Jaemin war es nicht anders. Er redete viel von ihm oder aber gar nicht, starrte dann nur ins Nichts, häufig mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Sie hielten ihn für bescheuert, so viel über einen Jungen nachzudenken, den er nicht einmal kannte. Doch wie schon mit den Gedichten war es Jeno egal, und selbst falls es ihn interessiert hätte, hätte er sich doch nicht dagegen wehren können. Jaemin war immer da, immer in seinen Gedanken oder seinem Blickfeld, und es war noch schlimmer geworden, als er seinen Namen kannte.
Na Jaemin, Na Jaemin, Na Jaemin.
Sein Kaffee, sein Zeitvertreib im Unterricht, seine Gutenachtgeschichte, sein Traum.
Montags, mittwochs, donnerstags hatten sie gemeinsam Unterricht. In der ersten, vierten und fünften. Am Mittwoch nur diese eine Stunde, eine Qual für Jeno. Doch am schlimmsten war immer der Dienstag. Nicht einmal auf dem Heimweg sah er Jaemin, konnte nicht in der Bibliothek vorbeisehen, zu dringend musste er den Bus bekommen. Meistens war er den ganzen Tag geistesabwesend, war selbst im Unterricht nur selten geistig vor Ort, wo er doch eigentlich sehr darauf achtete, zuzuhören und alles zu verstehen. Darunter litten seine Englischnoten ein wenig, da dienstags am häufigsten neue Grammatik eingeführt wurde. Während der Doppelstunde musste er zu oft zur Aufmerksamkeit gezwungen werden, er war wie ausgewechselt.
Nur wegen dieses Jungens.
Es gab keine Person in seinem Freundeskreis, die wusste, wer der „Bibliotheksschwarm" war. Jeno befürchtete, einer könnte ihn ansprechen oder wissen, wer er war, und ihn zu Kontakt zwingen. Dazu fühlte er sich noch nicht bereit. Lieber aus sicherer Entfernung beobachten, für ihn schwärmen. Denn das tat er definitiv.
Na Jaemin, achtzehn Jahre alt, schweigsam und zurückhaltend, und Jenos größtes offenes Geheimnis.
Er war nie sonderlich interessiert an seiner Umgebung, den Menschen, in den meisten sah er nicht mehr als bekannte Fremde, in wenigen einen Nutzen, in den seltensten Fällen Freunde. Und so war es kein Wunder, dass er Jeno nie wahrgenommen hatte, zu fokussiert war er auf seine Bücher. Er kannte die Namen seiner Sitznachbarn und seiner Lehrer, des ein oder anderen aus seinen Kursen, derjenigen, die er aus dem Augenwinkel als interessant empfunden hatte, die Namen aufgeschnappt hatte.
Die Bücher waren so oder so seine liebste Gesellschaft, die stummen Erzähler, so ruhig in seinen Händen, so aufgewühlt in ihren Inhalten. Jeder Satz erzählte ihm eine eigene Geschichte, in jedem standen Gefühle, versteckte Gedanken. Und war das nicht der Fall, las Jaemin die Bücher nicht. Er war auch deshalb ein so großer Fan von Poesie, denn sie verlieh in seinen Augen jedem einzelnen Wort so viel Bedeutung, Interpretation, Gewicht, Wichtigkeit.
So war auch er versucht, Gedichte auf Papier zu bringen, war manchmal gar zufrieden mit seinen Werken. Doch er blieb dennoch lieber beim Lesen fremder eigener Gedanken. Ja, manchmal kam es ihm so vor, als hätte der Dichter direkt in seine Seele gesehen, seine Gefühle und Gedanken perfekt ausgedrückt, wo es ihm an Worten mangelte.
Vermittlung von Gefühlen. Der Grund, wieso er Gedichte so liebte.
Sie sogen ihn ein, nahmen ihn in ihr Reich aus wirren Gedankensträngen auf, entließen ihn erst wieder, als er die letzte Seite gelesen hatte. Etwas, das er nur daheim tat. Zu häufig benötigte er danach Musik, und er mochte es nicht, an öffentlichen Orten wie der Bibliothek, seinem Rückzugsort, Kopfhörer zu nutzen. Fühlte sich dabei ignorant, wie ein Eindringling in die mit Büchern gefüllte Stille.
Jaemin mochte dieses Gefühl des vollständigen Versinkens in den Texten, liebte es, wie er spüren konnte, dass er die reale Welt ausblendete, die Welt auf Papier betrat und zu einem Teil davon wurde. Diese Welt war ihm noch lieber als diejenige, die er zu Gesicht bekam, wenn er den Kopf hob, egal, in welchem Genre er sich befand. Selbst Horror, Thriller, etwas, das er selten las, in den grausigsten Momenten, die ihm eine Gänsehaut schickten, war ihm lieber. Denn er wusste, dass er jederzeit einfach daraus verschwinden könnte, das Buch zuklappen und etwas anderes tun könnte. Was er außergewöhnlich selten tat, war meist nur dazu gezwungen, durch die Rufe seiner Mutter, die Anwesenheit des Lehrers.
So wusste er nicht, dass es in dem Universum außerhalb seiner Bücher jemanden gab, der ihn vergötterte. So hätte Jaemin es genannt. Jeno nannte es lediglich „an ihm interessiert sein", doch Jaemins Bezeichnung war deutlich passender. Jeno hat Stunden in der Bibliothek verbracht, nur um ihn aus dem Augenwinkel sehen zu können, seine Lektüre unter die Lupe nehmen zu können.
Er las gern das gleiche Buch wie Jaemin, hing ihm jedes Mal hinterher. Was mitunter daran lag, dass Jaemin die Bücher verschlang wie Jeno sich nur in seinen Sport stürzen konnte, doch dazu kam auch immer und immer wieder der Gedanke, was Jaemin zu dieser und jener Stelle dachte, wie er diesen und jenen Satz interpretierte, ob er diese oder jene Zeile als schöner empfand. Häufig, zu häufig, kamen diese Gedanken in Jenos Lesezeit vor, und jedes Mal fragte er sich wieder, wieso es ausgerechnet Jaemin war, der ständig seine Gedanken besetzte. Es hätte jeder sein können. Stattdessen war es der Junge, mit dem er nie ein Wort gewechselt hatte, immer nur beobachtet hatte, von der Ferne geliebt hatte, kannte, ohne ihn zu kennen.
Faszinierend, nicht wahr?
Das waren die beiden allgemein.
Jaemin nicht so sehr wie Jeno, schließlich hatte er ihn bis zum Ende nie bemerkt. Er wusste durchaus, dass der Kapitän des Schulfußballteams in seinem Kurs war, doch er war nie daran interessiert gewesen, Kontakt mit ihm aufzubauen. Empfand sich nicht als seiner würdig, da er ja der Supersportler war. Und er selbst nichts weiter als ein Büchernarr, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Hätte er gewusst, dass er derjenige war, zu dem Jeno sich am sehnlichsten Kontakt wünschte, wäre das zwischen den beiden wohl um einiges schneller in die Gänge gekommen.
Jeno traute sich nie, ihn anzusprechen, auch nicht in der Zeit, in der er sich nur gewundert hatte, weshalb Jaemin nie etwas anderes tat als zu lesen. Er hatte immer eine Abfuhr erwartet, von Anfang an. Ihre Welten seien zu verschieden gewesen, das war immer das, was er als Begründung nahm, wenn ihn wieder jemand bei seinem Gestarre erwischt hatte.
Wenn sie nur gewusst hätten, dass niemand besser füreinander geeignet war als sie es waren.
Wie viel früher sie wohl angefangen hätten, sich zu treffen? Wie viele Erinnerungen sie noch miteinander gehabt hätten? Niemand wird es je wissen.
19-11-02
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