❊ 9 ❊

𝑫𝒆𝒓 𝑮𝒓𝒖𝒏𝒅, 𝒘𝒂𝒓𝒖𝒎 𝒊𝒄𝒉 𝑩𝒂𝒃𝒚𝒃𝒆𝒍𝒔 𝒊𝒎 𝑮𝒆𝒔𝒊𝒄𝒉𝒕 𝒉𝒂𝒃𝒆 ...
━━ ❊ ━━

Vollkommen abgehetzt friemle ich meine Buskarte aus dem Geldbeutel, der aus allen Nähten platzt. Wieso suche ich mir die auch nicht früher raus, sondern erst, wenn der Bus vor meiner Nase steht? Ach richtig ... Ich musste unbedingt wissen, ob Dobby tatsächlich gestorben ist. Ich kann es immer noch nicht glauben! Erst Hedwig, dann Dobby ... Dieses Buch macht mich fertig! Aber zum Glück bin ich nicht die Einzige, die jetzt hier wartet und einsteigen will. Allerdings kann ich mir einen Sitzplatz abschmin-

»Fährt dieser Bus zum Hallenbad?«

Irritiert schaue ich kurz nach links und oha ... Wer ist das? Spricht der etwa mit mir? Na ja, er sieht mich an. Und wow, dieses Lächeln! Das stellt gerade eindeutig was mit mir an.

Genau in diesem Augenblick rücken seine Mundwinkel ein kleines Stückchen weiter nach oben, sodass jetzt auch noch ganz deutlich ein Grübchen zum Vorschein kommt. Gefährlich ... Sehr gefährlich ...

»Sorry, aber ich kenne mich hier noch nicht so gut aus. Deswegen ... Fährt der hier zum Hallenbad? Oder weißt du zufällig, welcher da hinfährt?«, fragt mich der Obermegahammertyp, was meinem Gehirn signalisiert, dass es langsam Zeit ist, wieder anzuspringen.

»Jap, herzlichen Glückwunsch! Das ist der richtige Bus!«, quieke ich etwas zu euphorisch und könnte mich dafür ohrfeigen. Dabei spüre ich regelrecht, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Die zwei Babybels machen sich bestimmt super in meinem Gesicht.

»Perfekt, danke dir! Musst du auch rein?« Er zeigt mit dem Finger auf den Bus, vor dem inzwischen gar keiner mehr steht.

Panisch greife ich nach seinem Ärmel, zerre ihn zum Einstieg und verhindere gerade noch so, dass sich die Türen vor unserer Nase schließen. Der Busfahrer schüttelt kurz genervt den Kopf und winkt uns dann herein.

Nachdem ich ihm meine Karte gezeigt habe und sich der megasüße Grübchen-Kerl eine gekauft hat, finden wir uns in einen mehr als vollgestopften Bus wieder. Dass der so fahren darf? Verkehrssicher ist so etwas ja nicht unbedingt, aber egal. Ich möchte mich nicht beschweren. Ich will nicht mal einen Sitzplatz. Viel lieber stehe ich Schulter an Schulter gepresst neben dem Kerl mit dem unwiderstehlichsten Lächeln.

Sag etwas! Das ist die Chance!

Kurz wandert mein Blick zu der großen blauen Tasche, die er in seiner linken Hand trägt. »Du musst also zum Hallenbad? Schwimmst du oder so was?«

»Ja, ich bin im Verein. Heute ist mein erster Trainingstag«, erklärt er mit einem flüchtigen Lächeln. Irgendwie wirkt er auf einmal etwas nervös, wie er seinen Blick durch die vorbeiziehende Gegend schweifen lässt.

»Dein erster Trainingstag? Du meintest, du kennst dich noch nicht so gut aus. Bist du etwa erst hierher gezogen oder so?«

Seine Augen finden die meinen und er lächelt erneut. »Ja, ich wohne erst seit einer Woche in Ingolstadt. Ursprünglich komme ich aus der Nähe von Memmingen. Aus einem Dorf, in dem es einen Bus gibt, der höchstens viermal am Tag fährt.«

»Dann herzlich willkommen in Ingolstadt! Ich bin eine Niete in Erdkunde, also weiß ich nicht, wie groß Memmingen ist. Auf jeden Fall ist es hier bei uns relativ überschaubar. In einer Großstadt wie München wäre ich eindeutig lost. Glaub mir, fahr ein paarmal durch die Gegend und du kennst dich hier aus!«, versichere ich und zwinkere ihm zu.

Er zuckt mit den Achseln und grinst kurz. »Danke, das wird schon, denke ich.«

»Und falls du Hilfe brauchst, dann hast du ja mich!«, rutscht es wie selbstverständlich aus mir heraus. Super gemacht!

Um die Röte in meinem Gesicht zu verstecken, fixiere ich schnell den Boden, atme dabei dreimal tief ein und aus, ehe ich es wieder wage, zu ihm rüber zu linsen. Doch anstatt mich anzuschauen, als wäre ich geistig zurückgeblieben, durchbohren mich seine dunkelbraunen Augen und ich meine, darin zu versinken. »Schön zu wissen, dass ich auf dich zählen kann. Wie heißt du denn eigentlich?«

»Jutta. Und du?«

Wieder lächelt der noch namenlose Obermegahammertyp. Dieses Mal aber so, dass meine Knie ganz weich werden und sich irgendetwas in meinem Bauch bewegt. Könnte vom Gefühl her ein Schwarm Kolibris oder so etwas sein ...

»Paul«, hauche ich seinen Namen und mein Blick bleibt an seinem Grübchen hängen. Es scheint, als sei für einen Moment plötzlich alles um uns herum verschwommen gewesen. Wie kann es sein, dass er so eine ungeheure Wirkung auf mich hat, obwohl hier nur seine jugendliche Version vor mir steht?

»Schön, dass du meinen Namen nicht vergessen hast.« Sein Lächeln vertieft sich, bevor er weiterspricht. »Nach was suchst du denn heute? Hast du die fünf Bücher von letzter Woche etwa schon alle durch? Langsam glaube ich, dass du kein Mensch, sondern eher eine Maschine bist.«

Dann zwinkert er mir zu und wirft einen Blick auf den Computer. »Der ... Was? Körpertauschblog?«

Da mein Hirn wieder einmal eine Pause einlegt, bin ich sehr stolz, dass es zumindest meine Augen schaffen, sich von Pauls sagenhaftem Anblick loszureißen, um ebenfalls auf den Bildschirm zu schauen.

Der Körpertauschblog.

Erschrocken blicke ich an mir herab und stelle fest, dass ich ja immer noch Dora bin. Wie konnte ich das vergessen?

»Äh ja, das ist ein sehr interessanter Blog.« Und das ist nicht mal gelogen. Warum wird mir dennoch ganz heiß dabei? Vermutlich glühen meine Wangen wieder einmal. Normalerweise werde ich nie rot, aber bei Paul passiert mir das ständig. Zumindest früher ...

»Okay ...« Er zieht das Wort derart in die Länge, dass ich weiß, was er denkt: Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank. Danke, das denke ich auch schon die ganze Zeit, ich habe nur mal eben eine Bestätigung von außen gebraucht. »Und du liest das, weil ...?«

»Freaky Friday«, schießt es aus mir heraus und Paul sieht immer noch danach aus, als denke er das, was er zuvor gedacht hat. Hilfe! »Weißt du, ich hab' den Film gestern gesehen und irgendwie war ich total fasziniert von der Story und dachte mir, ich recherchiere mal ein bisschen zu dem Thema.«

Paul nickt kurz nachdenklich, als müsste er verarbeiten, was ich gesagt habe. Dann lacht er auf einmal laut auf, sodass wir ein genervtes »Pscht« von der rechten Seite kassieren.

»Ja, das sieht dir ähnlich«, flüstert er schließlich, nachdem er es halbwegs geschafft hat, ein weiteres Lachen zu unterdrücken. »Und, was hast du herausgefunden?«

»Dass viele Menschen gerne in einem anderen Körper stecken wollen, aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Und na ja ... Dann bin ich noch auf etwas total Verrücktes gestoßen.« Ich verweise mit der Hand zum aufgerufenen Eintrag von Gugu1974.

Paul kneift die Augen zusammen und liest über die Zeilen. Derweil rutsche ich mit einem ganz unsicheren Gefühl auf meinem Stuhl herum und traue mich nicht, ihn anzusehen. Was ist denn plötzlich los mit mir?

»Wow, das klingt abgedreht«, sagt er und zieht kurzerhand einen freien Stuhl aus der Nähe zu uns, um sich zu setzen. »Und was kommen da so für Antworten?«

Ich blicke in Pauls Augen, in denen ich auf einmal nicht mehr zu sehen meine, ich sei verrückt. Im Gegenteil. Irgendwie wirkt er sogar interessiert.

Diese Erkenntnis bringt mich unwillkürlich zum Lächeln. »Das wollte ich eigentlich gerade lesen.«

━━ ❊ ━━

Nach zwei Stunden Recherche mit äußerst interessanten Informationen gehen wir gemeinsam zur nächsten Eisdiele, die sich ganz in der Nähe befindet und zufällig die besten Sorten im Angebot hat. Paul besteht darauf, mich einzuladen — er ist einfach schon immer ein Gentleman gewesen.

Dennoch finde ich es so seltsam, hier als Dora mit ihm zusammen auf den Stufen vor dem Stadttheater zu sitzen. An dem Ort, wo vor einigen Tagen noch alles normal gewesen ist und wir endlich unser erstes Date hatten ... Normal bis zu meinem Zusammenbruch, versteht sich. Und jetzt bin ich hier in einem anderen Körper mit ihm. Dabei habe ich gar nicht gewusst, dass Paul und Dora jemals einen engeren Kontakt miteinander gehabt haben.

»Also, diese Gugu ist einfach mal in der Zeit gereist und in einen anderen Körper gesprungen. Irgendwie kann ich das immer noch nicht glauben. Was denkst du?«, meint Paul, während er in Gedanken versunken sein Eis schleckt.

Ich fixiere kurz meine Füße, ehe ich wieder zu ihm blicke. »Hältst du mich für verrückt, wenn ich sage, dass ich ihr das tatsächlich abkaufe? Klar, es klingt vollkommen abgefahren und eigentlich gibts so was nicht ... Aber was, wenn doch?«

Paul hält für einen Moment inne und scheint darüber nachzudenken. »Ich halte dich nicht für verrückt. Na gut, verrückt ist der Gedanke vielleicht schon, aber ich gebe dem Ganzen eine Chance, weil du daran glaubst. Ich meine, man kann weder sagen, dass es wahr ist, noch dass es das nicht ist. Wir wissen es einfach nicht. Aber was ich weiß, ist, dass du für mich einer der cleversten Menschen bist.«

Plötzlich sieht er mich mit einer Intensität an, die mir schier den Atem raubt. Mein Herz beginnt doppelt so schnell zu schlagen und ich lasse mein Eis fast fallen, weil ich wie hypnotisiert von seinen Augen bin. Bevor ich mich vollkommen darin verlieren kann, schaut er mit einem Mal weg und widmet sich seinem Eis, das an der Waffel hinunter auf seinen Finger läuft.

Dann räuspert er sich kurz. »Ich finde es schon ein wenig ... Wie soll ich sagen? Gruselig? Was Gugu sonst noch alles herausgefunden hat. Dass sie und diese nierenkranke Frau am selben Tag geboren sind. Dann die Tagebucheinträge, in denen etwas vom Körpertausch der verstorbenen Mütter der beiden drinstand. Das klingt alles zu unglaublich, als dass so was tatsächlich passieren könnte. Und dann auch noch zweimal innerhalb der Familie. Hat Gugu das vielleicht von ihrer Mutter geerbt? Oder ist das eine Art Fluch? Als Laune der Natur kann man das nicht wirklich abtun.«

Ich nicke lediglich als Zustimmung, weil mein Körper gerade innerlich am Durchdrehen ist. Mein Herz. Meine Schweißdrüsen. Ich beginne unweigerlich zu zittern, wenn ich daran denke, wie viele Parallelen es zwischen Gugus Fall und meinem gibt. Ihre und die Mutter der Körpertauschfrau sind am selben Tag geboren, auch Tag und Monat des Todestages sind gleich — wie bei Doras und meinem Vater. Dahingehend muss ich Paul recht geben: Das klingt alles zu unglaublich. Kann man hier noch von Zufall sprechen? Nein, es muss mehr dahinter stecken!

Selbstverständlich ist mir bei den Ähnlichkeiten nicht entgangen, dass Gugus Tauschpartnerin eine lebensbedrohliche Erkrankung hat, genauso wie ich ...

»Der Körpertausch hat eine Woche vor dem Todestag der Mütter stattgefunden. Und Gugus letzter Kommentar kam einen Tag davor. Seitdem nichts mehr. Was ist, wenn die OP misslungen ist?«, fasele ich vor mich hin und erneut ergreift mich die blanke Panik.

»Puh ... Das wäre bitter ... Aber ich fürchte, das werden wir wohl nie erfahren. Wir wissen ja keine echten Namen, sonst könnten wir — so übel das auch klingen mag — nach Todesanzeigen suchen«, erwidert Paul, was nicht gerade zur Besserung meines derzeitigen Zustandes beiträgt.

Durch diese ganzen Erkenntnisse beschleicht mich eine ziemlich miese Ahnung. Sofern alles so abläuft, wie es in meiner Zeitschiene in der Zukunft gewesen ist, wird Dora am 15. September sterben. Aber was passiert dann mit mir? Sterbe ich dann in ihr mit? Und sie? Was ist mit ihr? Wo steckt sie überhaupt gerade? Weiter in meinem neunundzwanzigjährigen Ich, in das sie womöglich gesprungen ist? Allmählich glaube ich daran, denn ich kann ja schlecht zwei koexistierende Seelen in zwei verschiedenen Körpern haben. Falls Dora in mir in 2022 lebt, dann möchte ich mir gar nicht ausmalen, was sie gerade durchmachen muss. Was ist, wenn weitere Untersuchungen dazu führen, eine möglichst zeitnahe Entfernung des Tumors vorzunehmen? Zum Beispiel am 15. September?

Mir wird heiß und kalt bei dem Gedanken. Das Eis, das ich zuvor gierig in mich geschlungen habe, verliert an Geschmack, wird ungenießbar. Ich kann es nicht mehr essen, weil mir nur noch schlecht davon wird. Dieser ganze Dora-Trip lässt mich eindeutig an meine physischen und psychischen Grenzen stoßen.

Auf einmal beginnt die linke Hand angenehm zu kribbeln. Erst da bemerke ich, dass Paul die seine auf meine gelegt hat, um sie behutsam zu streicheln. Er malt Kreise, so wie er es vor ein paar Tagen im Theater getan hat. Und wieder hat es eine beruhigende, wenn auch gleichzeitig aufregende Wirkung auf mich. Mein Herz galoppiert, versetzt mein Inneres in Aufruhr. Mir wird furchtbar heiß, das Blut rauscht in meine Wangen. Unendlich viele Kolibris werden in mir freigesetzt, flattern vollkommen aus dem Häuschen.

Doch zugleich beschleicht mich ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich in diesem intimen Moment an den Paul in meiner Zeit denken muss. Seit dem misslungenen Date habe ich mich nicht bei ihm gemeldet. Ich wollte es wirklich, aber als ich von meiner Erkrankung erfahren habe, hatte ich einfach keinen Kopf mehr dafür ...

Ich wage einen Blick in Pauls jugendliches Gesicht. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen, bringt sein Grübchen hervor, was mich einmal wieder gefährlich schwach werden lässt. Ich schmelze förmlich dahin und meine Knie sind längst flüssigste Masse, als sich schließlich auch noch unsere Blicke ineinander verhaken und nicht mehr voneinander loslassen können. Sein unverwechselbarer Duft umhüllt mich, löscht den letzten Funken Denkvermögen in mir aus. So nah wie gerade eben bin ich ihm noch nie gewesen. Und gerade sehnt sich jede Faser meines Daseins danach, ihm noch ein Stückchen näher zu kommen.

»Du bist unglaublich, Dora«, wispert Paul und lässt meine Augen dabei keine Sekunde los, während er sich mir gänzlich zuwendet. »Du steckst voller Überraschungen, wie ich heute wieder mal erleben durfte.«

Inzwischen umfassen seine Hände meine beiden und ziehen mich langsam, aber sicher zu sich. Dann leckt er sich kurz über seine Lippen, die mich geradezu anflehen, sie zu küssen. Ob sie wohl noch ein wenig nach dem Zitroneneis schmecken?

»Du hast gesagt, ich soll dich nie wieder fragen, aber ich muss es einfach noch mal tun, weil es einfach nichts anderes mehr gibt, an das ich denken kann ...« Ich schließe meine Augen, spüre seine unmittelbare Präsenz, die meinen Puls auf ungeahnte Höhen treibt. Er ist mir nun so nah, dass sein frischer Atem auf meinen Mund trifft. »Darf ich dich küssen?«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top