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𝑫𝒆𝒓 𝑮𝒓𝒖𝒏𝒅, 𝒘𝒂𝒓𝒖𝒎 𝒆𝒔 𝒅𝒊𝒆𝒔𝒆𝒓 𝑻𝒂𝒈 𝒊𝒏 𝒅𝒊𝒆 𝑻𝒐𝒑 𝑻𝒆𝒏 𝒎𝒆𝒊𝒏𝒆𝒓 𝒔𝒆𝒍𝒕𝒔𝒂𝒎𝒔𝒕𝒆𝒏 𝑬𝒓𝒍𝒆𝒃𝒏𝒊𝒔𝒔𝒆 𝒔𝒄𝒉𝒂𝒇𝒇𝒕 ...
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Ich drehe mich im Kreis. Traum? Realität? Nein, das kann alles nicht sein. Aber hier bin ich und stehe vor dem Grab von Doras Vater. Und es ist eindeutig in Stein gemeißelt.
Leonard Runge
geliebt und unvergessen
*04. Mai 1956
†15. September 1996
Das Geburtsdatum ist identisch. Sein Todestag ist ebenfalls fast gleich, allerdings genau sechs Jahre früher als der meines Vaters. Und auch Dora wird am 15. September sterben. In nur wenigen Tagen ...
Mir läuft ein Schauder den Rücken hinab — scheint heute irgendwie ein Dauerzustand zu sein. Denn langsam, aber sicher beschleicht mich das Gefühl, dass ich mich doch nicht in einem Traum oder einer Halluzination befinde. Insgeheim habe ich ohnehin schon daran gezweifelt. Dafür fühlt sich einfach alles viel zu real an.
Ich lasse den Tag noch einmal in meinem Kopf Revue passieren. Sehe dabei meine — Doras — Hände an. Ich spüre ihren schnellen Herzschlag. Wie das Blut durch die Venen pulsiert. Und ich meine auch einen Teil von Dora wahrnehmen zu können. Ganz tief im Inneren. Diese Leere und Traurigkeit. Gefühle, die ich in dieser Intensität nicht kenne. Das muss doch Dora sein.
Nichts könnte sich greifbarer anfühlen als genau das. Es ist kein Traum. Keine Ausgeburt meiner blühenden Fantasie. Nicht Raupe Nimmersatt. Das hier ist echt. Auch wenn jegliche Vernunft und Wissenschaft dagegen sprechen.
Aber wie kann das sein? Wie konnte das passieren? Und warum?
Es muss eine Verbindung zwischen Dora und mir existieren. Genau diese hat zu meinem jetzigen Zustand geführt. Und irgendwie hängt das mit unseren Vätern zusammen, da bin ich mir fast sicher.
Eine weitere Frage ist: Steckt Dora momentan auch in mir? Also im Jahr 2022? So als hätten wir beide eine Art Körpertausch gekoppelt mit Zeitreise gemacht?
Auweia, wie verrückt hört sich das bitte an?
Aber ich muss es allmählich in Betracht ziehen. Denn wenn das alles gerade wirklich passiert, dann muss das einen ganz bestimmten Grund haben. So etwas Unglaubliches geschieht doch nicht einfach aus Jux und Tollerei. Und dann sind da noch diese verdächtig ähnlichen beziehungsweise identischen Lebensdaten.
Mein Gefühl sagt mir, dass das alles vor allem mit Doras bevorstehendem Tod zu tun hat. Ich muss dringend mehr über diese ganze Sache in Erfahrung bringen. Vielleicht kann ich ihr helfen? Vielleicht kann ich irgendwie ihren Tod verhindern? Vielleicht ist genau das der Grund, warum ich hier bin?
Andererseits ... Was passiert, wenn ich die Vergangenheit ändere? Das könnte ungeahnte Folgen für die Zukunft haben. Böse Folgen. Oder positive Folgen. Immerhin ist es nicht sonderlich fair, wenn ein Mensch im Alter von sechzehn Jahren stirbt. Da hat man doch noch sein ganzes Leben vor sich.
Was ist damals nur passiert? So genau hat das niemand gewusst. Zumindest von den Außenstehenden. Familie Runge ist verständlicherweise derart in Trauer gewesen, dass sie diesbezüglich nichts preisgegeben hat. Es gab natürlich Gerüchte, denn die gibt es immer. Leute, die sich auf übelste Art und Weise den Mund zerreißen müssen, weil sie es nicht ertragen können, nicht die Wahrheit zu wissen. Aber ich habe dem nie ein Gehör geschenkt. Was ich sicher weiß, ist, dass Dora von ihrer Mutter tot im Zimmer aufgefunden wurde. Es muss die Hölle gewesen sein. Das eigene Kind ... Ich möchte es gar nicht zu Ende denken, weil sich schon wieder alle Haare aufstellen, sodass es mich regelrecht schüttelt.
Da stecke ich schon so viele Stunden in Dora und weiß eigentlich immer noch nichts über sie. Okay, sie hat ein ausgewachsenes Faible für Pflanzen. Sie isst kein Fleisch. Und sie kommt regelmäßig in den Genuss des Aschenputteldaseins. Wow, das ist echt erschreckend ... wenig.
Ich schüttele den Kopf, während mich ein frisches Lüftchen streift. Als ich zum Himmel aufschaue, sehe ich, wie sich dunkle Wolken auftürmen. Sie ziehen sich schnell zusammen und hüllen die Umgebung in eine triste Dunkelheit. Der Wind pfeift durch die Bäume, lässt das Laub laut rascheln und die Äste knacksen.
Obwohl ich den plötzlichen Wetterumschwung willkommen heiße und ich am liebsten hier draußen bleiben wollen würde, wird es Zeit. Ich sollte wieder zum Haus der Runges. Aber zuvor möchte ich noch kurz Papa besuchen. Ich möchte nicht hier sein und gehen, ohne bei ihm vorbeigeschaut zu haben.
Sein Grab ist nur wenige Gänge entfernt. Ich streife durch die Wege, die von grünen Hecken umgeben sind. Ich beobachte die Eichhörnchen, wie sie sich verkriechen. Die Vögel haben aufgehört zu zwitschern. Eine ältere Frau bringt im Laufschritt eine Gießkanne zum Brunnen, ehe sie weiter Richtung Ausgang marschiert. Sonst scheint sich hier kein Mensch mehr aufzuhalten.
Ich biege rasch um die nächste Ecke und renne plötzlich derart hart in jemanden hinein, sodass ich mir sowohl den Kopf als auch die Brust unsanft anstoße.
»Hey Dora! Hast du einen harten Schädel! Aber gut, da ist ja auch 'ne Menge Gehirnmasse drin.« Ich blicke in die blauen Augen, die mir nicht bekannter sein könnten. Finde keine Worte, sondern starre einfach nur. »Was machst du denn bei diesem Wetter noch so spät hier auf dem Friedhof?«
»Hallo Ju... Jutta«, stammele ich und reibe über die demolierte Stelle an der Stirn. Könnte eine kleine Beule werden. Super, wenn ich so weitermache, ruiniere ich auch noch Doras Kopf.
»Oder magst du dieses Wetter auch so gerne? Ich finde ja, Sommergewitter haben so etwas ... Magisches an sich.« Ich weiß eigentlich, wie sich meine Stimme für andere anhört, aber war sie früher noch heller und nerviger? Eine furchtbare Zumutung!
»Da hast du recht«, stimme ich mir logischerweise zu, weil ich es ja genauso empfinde.
Was ist das nur für eine seltsame Situation? Ich spreche gerade mit mir selbst!
»Echt cool, dass du das auch so siehst! Stehst du dann auch so gerne im Regen? Also, ich meine jetzt ohne Schirm. Oh Mann, du musst mich für komplett verrückt halten.« Meine jüngere Version schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, lächelt dann aber kurz darauf und zuckt mit den Achseln.
Es wird nicht besser, mich selbst zu beobachten. Diese Begegnung — ach was, dieser ganze Tag — kommt eindeutig in die Top Ten der seltsamsten Erlebnisse meines Lebens.
»Du bist vielleicht verrückt. Aber dann bin ich es auch«, erwidere ich und schenke mir ebenfalls ein Lächeln.
»Schön zu wissen, dass man nicht alleine ist. Das ist immer gut.« Teenie-Ich grinst mich derart stark an, dass sich automatisch auch meine Mundwinkel weiter heben. »Also bist du nur wegen des genialen Wetters hergekommen?«
Ich schüttele ehrlicherweise den Kopf, kann aber unmöglich den wahren Grund nennen, sonst würde sie mich auf jeden Fall für bekloppt halten.
»Ich auch nicht.« Sie schaut kurz auf ihre Schuhe und begegnet dann wieder meinem Blick. Das tue ich immer, wenn ich überlege, mit der Wahrheit herauszurücken. »Ich habe meinen Vater besucht. Er ist vor ziemlich genau sieben Jahren gestorben. Irgendwie komme ich immer gerne her, um mit ihm zu reden. Ich weiß, es klingt abgedreht. Aber so fühle ich mich ihm in gewisser Weise verbunden. Fast so, als wäre er noch da. Und das tut gut.«
Jetzt, wo mein jüngeres Ich das sagt, überkommt mich mit einem Mal ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ich war früher sehr oft zum Friedhof gegangen, um meinen Papa zu besuchen. So oft, dass ich es gar nicht zählen konnte. Aber in den letzten Jahren bin ich kaum mehr dort gewesen. Zu viel ist wichtiger geworden. Der stressige Alltag. Doch das ist keine Entschuldigung.
Mein Herz wird schwer. Ich denke wieder an das bombastische Gefühl, das mich gestern am Grab meines Vaters schlagartig überkommen hat. Es hat mich zurecht verlassen. Ich habe es nicht verdient. Es tut mir furchtbar leid, dass ich Papa vernachlässigt habe.
»Was tut dir leid?«, fragt mich Jutta und mustert mich mit besorgtem Blick. Super, jetzt murmele ich schon ungewollt irgendwelche Phrasen vor mich hin. Na ja, als wäre das untypisch für mich.
»Das mit deinem Vater tut mir leid. Meiner ist auch gestorben«, antworte ich möglichst schnell, um nicht noch seltsamer als ohnehin zu wirken.
»Das tut mir auch leid für dich. Ist nicht einfach. Aber das Leben geht weiter. Menschen werden geboren und andere Menschen sterben. So gleicht sich alles aus. So furchtbar sich das auch anhören mag.« Ich sehe wirklich in jedem Mist was Gutes — unfassbar.
»Da hast du wohl wieder recht. Magst ...« Ich schlucke und verstumme kurz, als ich den ersten Tropfen auf mir spüre, der sanft meine Wange hinab läuft. »Magst du mir vielleicht das Grab deines Vaters zeigen und dann gehen wir heim? Also nur, wenn du das willst. Du musst natürlich nicht.« So unsicher kenne ich mich gar nicht. Schon den ganzen Tag geht es mir ähnlich. Vielleicht hängt das auch mit Dora zusammen?
»Echt? Du magst es sehen?« Zuerst sieht sie mich überrascht an, doch dann bildet sich wieder ein Lächeln auf ihren Lippen. »Gerne. Lass uns das gerne machen.«
Obwohl es immer noch ein unglaublich seltsames Gefühl ist, mit mir selbst auf dem Friedhof umherzuwandeln, freue ich mich dennoch darüber, eine Möglichkeit gefunden zu haben, noch einmal meinen Vater besuchen zu können, bevor ich nach Hause gehe. Teenie-Jutta und ich sagen dabei nichts. Wir stehen nebeneinander, lauschen der Umgebung und ganz automatisch greife ich nach ihrer Hand. Der Regen fällt dabei immer stärker auf uns nieder. Prasselt auf die kleinen Kieselsteine, plätschert auf die Blätter, die durch den Wind unkoordiniert nach unten segeln. Das alles schenkt mir an diesem unglaublich chaotischen Tag eine ungeheure Ruhe.
Wir lassen den Moment noch auf uns wirken, ehe wir ohne ein weiteres Wort den Friedhof verlassen. Zum Abschied nehmen wir uns in die Arme. Ich umarme tatsächlich mich selbst. Seltsamer gehts nicht. Aber irgendwie tut es auch wieder gut. Denn wer könnte mich besser verstehen als ich selbst?
Als ich nach Hause komme, schleiche ich triefend nass an der Tür vorbei, die zum Wohnbereich führt, und biege in den Gang, der geradewegs zum Tropenparadies führt. Auf dem Weg dorthin mache ich einen Abstecher ins Badezimmer, schnappe mir ein Handtuch, um meine tropfenden Haare zu trocknen.
In Doras Zimmer angekommen halte ich erst einmal inne. Durch das kleine Fenster dringt ein letzter Rest Helligkeit und ich höre die dicken Tropfen, wie sie gegen die Scheibe prallen. Wie paralysiert bleibe ich mitten im Raum stehen und stiere in jede Ecke. Begutachte jedes Möbelstück. Ich weiß nicht, was es ist, aber das Bett zieht meinen Blick immer wieder magisch an. Es drängt mich dazu, dorthin zu gehen, mich davor hinzuknien und darunter zu schauen. Ich erkenne bei den dunklen Lichtverhältnissen nicht viel, aber hinten links muss eine Kiste oder so etwas Ähnliches sein. Vorsichtig greife ich danach, schleife es langsam am Boden entlang, bis es schließlich zum Vorschein kommt. Um mehr sehen zu können, knipse ich das Nachttischlämpchen an.
Ein kleiner, niedriger grauer Karton liegt vor mir. Er hat äußerlich nichts Besonderes an sich und trotzdem fühlt es sich so an, als befinde sich etwas Außergewöhnliches darin. Ich zögere einen Moment, weil ich weiß, dass ich durch das Öffnen maßgeblich in Doras Privatsphäre eindringen würde. Aber ich muss es tun. Ich verspüre einen derart großen Drang, dass ich es früher oder später sowieso tun werde. Also kann ich es auch jetzt gleich hinter mich bringen.
Mit wild klopfendem Herzen hebe ich den Deckel. Neben verschiedenem Krimskrams wie Fotos, Anhängern und kleinen Döschen springt mir noch eine größere Sache ins Auge: ein Büchlein im cognacfarbenen Ledereinband mit einem roten Herz darauf. Vorsichtig nehme ich es heraus, betrachte es von oben bis unten, ehe ich es wage und den kleinen Druckknopfverschluss an der Seite öffne. Es ist fast so, als würde ich nicht willentlich handeln, sondern als wäre da eine unsichtbare Kraft, die mich anleitet.
Nachdem ich die ersten Seiten durchgeblättert habe, wird mir sofort klar, was ich in den Händen halte. Es ist Doras Tagebuch. Schuldbewusst klappe ich das Büchlein wieder zu und schließe die Augen. Doch da empfinde ich wieder dieses Verlangen. Ich muss es weiter anschauen. Ist das, weil ich bisher so wenig von ihr weiß? Ist es, weil ich ihr irgendwie helfen möchte? Ist es, weil ... Ach, was suche ich hier nach Gründen?
Erneut gebe ich dem drängenden Gefühl nach und schlage das Tagebuch auf. Genau an der Stelle, bei der sich das dünne rote Lesezeichen-Bändchen befindet. Es ist der vorerst letzte Eintrag. Unweigerlich fliege ich über die Zeilen. Lese Worte, deren Bedeutung mein Herz fast zum Stillstand bringen.
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