❊ 3 ❊
𝑫𝒆𝒓 𝑮𝒓𝒖𝒏𝒅, 𝒘𝒂𝒓𝒖𝒎 𝒕𝒓𝒐𝒑𝒊𝒔𝒄𝒉𝒆𝒔 𝑲𝒍𝒊𝒎𝒂 𝒉𝒆𝒓𝒓𝒔𝒄𝒉𝒕 ...
━━ ❊ ━━
Leere, das ist alles, was ich spüre. Als hätte man mein Inneres verbrannt. Leer und doch nicht leer. Alles, was bleibt, ist etwas, das schwerlich greifbar ist. Wie Asche. Kleinste Partikel, die in der Luft hängen und langsam fallen. Sich auflösen, sobald man sie berührt. Die Überbleibsel passen nicht. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist seltsam.
Warum bin ich blöde Kuh auch eingeschlafen?
Wenn ich wach geblieben wäre, dann hätte mich dieses bombastische, wohlige, kraftspendende Gefühl doch bestimmt nicht verlassen. Stattdessen liege ich jetzt hier und mich ereilt nicht die geringste Spur einer bekannten Emotion. Ich bin einfach nur müde. Ausgelaugt. Ausgebrannt. So habe ich mich noch nie gefühlt. Selbst nach meiner Diagnose vorgestern nicht.
Was ist nur mit mir los? Seit wann empfinde ich so negativ? Was stimmt nicht mit mir?
Ich starre auf die weiße Decke über mir. Erkunde die Erhebungen und Senkungen der rau wirkenden Oberfläche.
Moment ...
Warum ist die Decke nicht ebenmäßig?
Ich schrecke auf und stelle fest, dass ich mich weder in meinem Bett noch in meinem Zimmer, noch in irgendeinem der Räume unseres Hauses befinde. Wo bin ich hier gelandet?
Ein Schauer nach dem anderen rauscht meinen Rücken hinab, während ich mich in der Räumlichkeit umsehe. Links neben mir ist eine Wand mit unterschiedlich großen Bildern von Pflanzen und Blumen. Einige davon sind Postkarten, andere Poster. Wieder andere wirken so, als wären sie von Zeitschriften ausgeschnitten oder gezeichnet worden. Die Collage erstreckt sich über die gesamte Wand, bis mein Blick auf einen kleinen Schrank fällt, auf dem mindestens sechs Grünpflanzen unterschiedlicher Sorte und Größe stehen.
Geradeaus rechter Hand schaue ich auf einen großen antiken Schrank aus Nussbaum — irgendwie schick mit den verspielten Ausschmückungen. Aber selbst in ihnen scheint sich das Thema dieses Zimmers durchzuziehen. Unglaublich ...
Um die Ecke gegenüber von mir befindet sich eine Tür. Wohin die wohl führen mag? Wo bin ich? Mir kommt hier nichts bekannt vor ...
Irritiert wandern meine Augen weiter nach rechts zu einem Schreibtisch, auf dem eine mit Blüten übersäte Orchidee thront. Wahnsinn, die erste blühende Pflanze in diesem Urwald. Darüber ist ein Regal angebracht, auf dem sich nochmals allerlei grünes Gewächs tummelt. Einiges davon rankt sich bis zu einem Meter nach unten, wohingegen andere nach oben hin explodieren und fast die Decke berühren.
Auweia, gleich kommt Tropenfeeling auf, wenn das mit dem Grünzeug nicht aufhört.
Die Krönung stellt ein überdimensional großer Gummibaum dar, der unendlich viele Arme hat, die sich in alle erdenklichen Richtungen erstrecken. Einer davon stößt an die Scheibe eines kleinen Fensters, auf dessen Sims — wer hätte es gedacht — ein paar Kakteen un...
Nein! Das sind jetzt nicht ernsthaft diese fleischfressenden Dinger?
Das ist zu viel des Guten. Wenn ich mich zuvor unwohl in meiner Haut gefühlt habe, dann übertrifft mein derzeitiger Zustand nun alles. So viele Fragen kreisen in meinem Kopf. Nicht eine davon greifbar, weil ich ohnehin keine Antwort darauf finden könnte.
»Mama?« Was war das denn? Der geplante Ruf ist auf ein leises Krächzen hinausgelaufen.
Erschrocken fasse ich mir an den Hals, schlucke einmal kräftig, um meine trockene Kehle zu befeuchten. Dann versuche ich es erneut: »Mama?«
Was zum ... Was ist hier los?
Panisch senke ich den Blick und betrachte meine Hände, die inzwischen derart feucht sind, dass ich damit die Erde der Pflanzen in diesem Zimmer wässern könnte. Die Fingernägel sind bis zum Nagelbettanschlag abgeknabbert. Noch nie in meinem Leben habe ich das getan. Und wo sind die langen, zierlichen Finger hin, die mich so locker eine Oktave beim Klavierspielen greifen lassen? Ich sehe lediglich zehn Miniwürstchen, die etwas ramponiert wirken.
Mein Magen knurrt. Na toll,... jetzt bekomme ich auch noch Hunger. Auf Würstchen.
Aber immerhin mal ein Gefühl! Ein mir bekanntes Gefühl. In all dem Wirrwarr, das in meinem Kopf und Körper haust.
Mein Kopf ... Das muss es sein!
Ich halluziniere! Oder so etwas in der Art. Vielleicht träume ich auch einfach noch? Ja genau, das muss es sein. Mein Hirn muss wirklich schon angefressen sein, dass es solche Ausgeburten an Absurdität zusammenfantasiert.
Raupe Nimmersatt im Pflanzenparadies. Hier gibt es genug Blätter, um sich durchzufüttern, bis die Verpuppung stattfindet. Hilfe, was denke ich hier eigentlich?
Jutta, reiß dich zusammen! Atme mal kurz durch. Und wache am besten jetzt auf!
Ich verpasse mir mit Schmackes eine Ohrfeige. Mein Kopf dröhnt kurzzeitig, aber hey,... da ist kein Schmerz! Es zwirbelt zwar leicht in der Backe, aber es zieht nicht unangenehm nach oben und verursacht dieses miese Pochen, das mich seit Wochen morgens und abends begleitet. Und das, obwohl das eben eine richtige Erschütterung war. Wenigstens etwas Positives in diesem Dschungelalbtraum. Aber ich muss nach wie vor weggetreten sein. Nichts hat sich durch die Ohrfeige verändert.
Wäre auch zu schön gewe...
»Hast du mich gerufen? Ich habe kaum mehr Zeit und muss gleich zur Arbeit! Umso besser, dass du schon wach bist, dann kann ich dir jetzt gleich alles sagen und muss es dir nicht aufschreiben.« Da steht plötzlich diese Frau im Zimmer, die Türklinke in der Hand. Plappert selbstverständlich drauflos, während ich schau wie a Schwaiberl, wenn's blitzt.
Kurz unterbricht sie ihren Redeschwall, hebt dabei fragend die Augenbrauen und blickt mich aus ihren dunklen Augen an. Sie kommen mir äußerst bekannt vor. Ich kenne diese Frau. Nur fällt mir gerade nicht ein, wer sie ist. Ich weiß lediglich, dass ich sie für lange Zeit nicht mehr gesehen habe. Wer ist das noch gleich? Ihr Name liegt mir förmlich auf der Zunge. Scheinbar sind Gedächtnislücken jetzt auch noch im Komplettpaket enthalten.
Dann lächelt sie mich auf einmal liebevoll an. »Oje, da ist ja jemand ordentlich müde. Ich habe am Nachmittag einen wichtigen Termin und schaffe es wieder erst sehr spät nach Hause. Also, ich hoffe, ich kriege jetzt alles zusammen ... Der Wäschekorb quillt über. Ich wäre dir so dankbar, wenn du waschen würdest. Heute soll die Sonne scheinen, dann könntest du die Wäsche auch gleich draußen aufhängen. Und kaufst du nachher ein und kochst etwas?« Ihre Brust hebt und senkt sich schnell, ihre Atmung scheint unregelmäßig zu gehen. Sie hechelt nahezu beim Sprechen.
»Ähm, was-«
»Ist egal, was! Was dir eben schmeckt! Du bist ein Schatz! Bis später!«
»Das wollte ich nicht fragen«, flüstere ich, doch da ist sie wieder verschwunden und ich schüttele fassungslos den Kopf.
Was ist das hier für ein komischer Traum?
Schon wird die Tür erneut schwungvoll aufgedrückt. »Ach, das Wichtigste hätte ich fast vergessen! Bitte hol Tim vom Kindergarten ab! Um zwei rum. Danke!« Und wieder ist sie weg.
Klasse ... Tropenparadies. Raupe Nimmersatt. Jetzt bin ich auch noch Aschenputtel und darf den Haushalt schmeißen. Daheim habe ich eine Putzfrau, weil ich selbst so unglaublich gerne den Besen schwinge.
Ich reibe meine Augen in der Hoffnung, dass ich irgendwie in die Realität zurückkehre. Aber natürlich ist alles unverändert.
Das Gefühl von Leere drängt sich zurück in meinen Körper. Möchte die Nervosität in mir vertreiben. Wie in Trance decke ich mich ab, schwinge die Beine aus dem Bett und rappele mich auf. Wie von selbst gehe ich auf den großen Schrank gegenüber zu, halte kurz davor inne. Wie ein Roboter greife ich nach dem Knauf, drehe ihn, öffne damit die Tür. Sofort dringt ein Geruch von Holz und frisch gewaschener Wäsche in meine Nase.
Auf der Innenseite entdecke ich eine Kalenderübersicht. An jedem Tag sind Symbole eingetragen. Lauter Pfeile. Nach oben, nach rechts, nach unten zeigend. Besonders aber fallen die roten Kreuze ins Auge. Sie wiederholen sich in regelmäßigen Abständen. Jeder Donnerstag ist damit versehen. Was das zu bedeuten hat? Ich suche eine Legende als Erklärung, kann aber keine finden.
Ein Traum mit Rätseln — genau danach habe ich mich gesehnt ...
Dann streiche ich noch einmal über die Eintragungen, bei denen das Papier leicht eingedrückt ist. Bis ich an die Stelle der letzten Notiz komme. Am Montag, den 07. September, ist ein seitlich deutender Pfeil vermerkt.
Erneut schüttele ich den Kopf, ehe ich mich dem Symbolchaos abwende und stattdessen meinen Blick über den kunterbunten Haufen Kleidung, der sich mir im Schrankinneren bietet, gleiten lasse. Automatisiert öffne ich die zweite Tür, sodass ich den kompletten Inhalt begutachten kann. Geblümte Blusen, bestickte Hosen, Sommerkleider mit Rüschen. Genau meine Garderobe. So etwas habe ich zuletzt als Teenie getragen, aber nun findet man bei mir allein schon des Berufs wegen fast ausschließlich Businesskleidung. Neben den gemütlichen Jogginganzügen, in denen ich mich zu gerne auf der Couch breitmache.
Schließlich ziehe ich ein relativ neutral aussehendes Top heraus. Das ist halbwegs annehmbar. Lediglich am unteren Saum sind ein paar Blätter aufgedruckt. Definitiv muss der gesamte Rauminhalt einer Pflanzenfanatikerin gehören. Dann durchsuche ich die Jeanshosen und finde tatsächlich eine ohne irgendwelchen kitschigen Verzierungen.
Anschließend streife ich meine Kleidung ab und ich sehe an mir herab. Ich stecke im Körper einer kleinen, schlanken Frau. Vielleicht sogar ein wenig zu dünn für meinen Geschmack, denn unter der spärlichen Oberweite treten sogar die Rippen etwas hervor. Und irgendwie wirkt alles noch so ... jung. Nicht, dass mein eigener Körper alt wäre. Aber die Cellulite sagt doch schon seit ein paar Jahren Hallo. Vermutlich Schicksal, wenn man kurz vor der Dreißig steht.
Eventuell wäre jetzt eine Dusche nicht schlecht. Dann tue ich wenigstens etwas, das mir Spaß macht, in all dem Dunst an Abnormalität eines Traums. Es ist regelrecht beängstigend, wie real sich im Moment alles anfühlt.
Dieser Körper. Diese Leere. Was will mir mein Verstand damit sagen? Dass ich langsam, aber sicher durch meine Krankheit verrückt werde? Gut möglich ...
Ich drehe mich nach links, um nach der Tür zu greifen und erstarre.
Wer ... Wie ... Das kann nicht sein!
Frau Runge. Plötzlich ist der Name der Frau von vorhin ganz präsent. Denn niemand Geringeres als ihre Tochter blickt mir im Spiegel, der sich auf der Innenseite der anderen Schranktür befindet, entgegen. Dora Runge. Ein Mädchen, das seit über zehn Jahren tot ist.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top