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𝑫𝒆𝒓 𝑮𝒓𝒖𝒏𝒅, 𝒘𝒂𝒓𝒖𝒎 𝑲𝒏𝒊𝒆𝒔𝒄𝒉𝒆𝒊𝒃𝒆𝒏 𝒏𝒊𝒄𝒉𝒕 𝒆𝒙𝒊𝒔𝒕𝒆𝒏𝒕 𝒔𝒊𝒏𝒅 ...

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»Das hast du nicht getan!« Einige kleine Brocken des Tomaten-Mozzarella-Baguettes spritzen aus Klaras Mund, als er aufklappt, während sich ihre Augen auf Maximalgröße weiten.

»Warum denn nicht? Du kennst mich doch.« Ich zucke mit den Achseln und nippe vorsichtig an meinem Kräutertee.

Diesmal schluckt meine Kollegin, ehe sie spricht. »Aber er ist dein Vorgesetzter! Was ist, wenn es schiefläuft?«

Ich schüttele zuversichtlich mit dem Kopf. »No risk, no fun. Ich schmachte ihn jetzt schon so lange an. Bevor ich mal im Büro über ihn herfalle, dachte ich mir, ich riskier's einfach. Was sollte schon passieren, außer vielleicht ein klitzekleiner peinlicher Moment, falls ein Korb gekommen wäre. Tja, und was soll ich sagen? Es hat sich gelohnt.«

»Und ihr habt euch ernsthaft schon für heute verabredet? Ich kann es echt immer noch nicht glauben! Du und Steini!« Klara quietscht völlig aus dem Häuschen, wobei sie auf ihrem Stuhl herumrutscht, als würde eine Armee Ameisen darunter sitzen.

Grinsend nicke ich und genehmige mir einen weiteren Schluck, behalte die wohltuende Flüssigkeit noch einen Augenblick im Mund, bevor ich sie hinunterschlucke. Was bleibt, ist der leckere, süßlich-bittere Geschmack von Zimt und Orangenschale.

»Du musst mich unbedingt anrufen, wenn du wieder daheim bist! Sonst mache ich heute Abend kein Auge zu«, sagt sie und fuchtelt warnend mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum, als wolle sie mir in der nächsten Sekunde das Auge damit ausstechen.

Ein Lacher entweicht mir, während ich mich auf der Sitzbank nach hinten lehne. »Und was ist, wenn ...« Ich wackele vielsagend mit den Augenbrauen.

»Echt jetzt? Du würdest gleich ...?« Und erneut wird das Essen aus Klaras Mund katapultiert. Dabei landet es schön in meinem Tee und auch ein wenig auf meiner hellblauen Bluse.

Na lecker ... Ich habe aber auch ein Glück!

Ich schenke ihr einen tadelnden Blick, zupfe sachte die feuchten Überreste von dem empfindlichen Stoff und seufze. »Du wirst dich wohl oder übel bis morgen Mittag gedulden müssen. Heute werde ich dir definitiv keine Auskunft mehr geben.«

»Ach, Jutta! Das kannst du mir doch nicht antun! Bis dahin sterbe ich vor Neugierde«, jammert Klara, wobei sie ihr Gesicht in den Händen vergräbt.

Ich tätschele ihren blonden Hinterkopf und grinse wissend in mich hinein. Denn eine Sache ist mir jetzt schon klar: Meine liebe Freundin würde es nie und nimmer bis morgen Mittag durchhalten, um mich wie eine Zitrone auszuquetschen.

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Galant schreite ich aus dem Bus, spanne zeitgleich den Schirm auf und lasse den Blick Richtung Stadttheater wandern. Es regnet wie aus Kübeln; die Lichter der Autos spiegeln sich auf dem nassen Asphalt. Die dicken Wassertropfen prasseln derart laut auf jegliche Oberflächen, sodass es schwerfällt, noch andere Geräusche wahrzunehmen. Als die Türen des Busses piepen, wusele ich schnell über die Straße, da sich verkehrstechnisch gerade die perfekte Gelegenheit bietet.

Auch den Viktualienmarkt überquere ich schnellen Schrittes und nicke den frustriert dreinblickenden Budenbesitzern aufmunternd zu. Heute würden sie wohl nicht das Geschäft ihres Lebens machen, aber vielleicht regnet es nach dem Theater nicht mehr, sodass Paul und ich hier noch einen oder zwei Wein unter den mit Lichterketten verhangenen Bäumen genießen können.

Ein Kribbeln erfasst meinen Körper, das bis in den letzten Zeh reicht und ein angenehm warmes Gefühl im Bauch hinterlässt, wenn ich an ihn denke. Dabei habe ich stets sein umwerfendes Lächeln vor Augen, in das ich mich in der ersten Sekunde verguckt habe. Es erreicht immer seine braunen Augen, die von Weitem nahezu schwarz wirken.

Kaum sehe ich auf, blicke ich in eben diese und abrupt halte ich in meinem marschähnlichen Gang inne. Das zuvor noch harmlose Kribbeln verwandelt sich im Nu zu einem Schwarm Kolibris, die aufgeregt durch meinen Bauch flattern.

Auweia, gleich kippe ich um ...

Paul überbrückt den kleinen Abstand zwischen uns, lässt kurz seinen Schirm sinken und schließt mich in seine Arme. Meine Knie wackeln, als hätten sich die Scheiben darin verflüssigt. Ich schicke ein kleines Stoßgebet in den Himmel, dass sich nicht noch andere Funktionen meines Körpers verabschieden.

»Wow, Jutta! Du siehst ... umwerfend aus!«, flüstert er mir ins Ohr. Sein Atem streift dabei mein Ohrläppchen und sofort stellen sich die kleinen Härchen in dessen Umgebung auf.

»Und du erst!«, erwidere ich knapp, denn ich bin gerade viel zu sehr damit beschäftigt, seinen unwiderstehlich frischen Duft zu inhalieren. Irgendwie erinnert er mich immer an einen Wald, der einige Stunden Regen hinter sich hat. Die Natur ist gestärkt; die Gerüche werden durch das kalte Nass intensiviert.

Wir verharren noch einen Augenblick, ehe Paul sich langsam wieder von mir löst. Ich muss den Kopf leicht anheben, um ihm in sein Gesicht schauen zu können. Da ist es ... Das Lächeln, das mich bereits vor vierzehn Jahren verzaubert hat. Das Licht fällt in einem Winkel ein, sodass sein Grübchen auf der rechten Seite besonders zur Geltung kommt.

»Wollen wir?«, fragt er schließlich und geht einen Schritt zur Seite.

Geradeaus vor dem verglasten Eingang tummeln sich einige Theaterbesucher, die nur darauf warten, hineingehen zu können.

Ich nicke ihm zu. »Sehr gerne. Obwohl ich Regen ja gar nicht schlimm finde. Eigentlich mag ich ihn sogar sehr. Vor allem diesen Sommerregen.«

Langsam schlendern wir nebeneinander Richtung Theater.

Als ich von der Seite aus sehe, wie er beim Gehen seine Füße begutachtet, wirkt er etwas nachdenklich auf mich. Irgendwie fast traurig.

»Eine Frau, die Regen mag ...«, sagt er dann und schenkt mir ein Lächeln, wenngleich es schwächer als sonst erscheint.

»Na ja, einen fiesen Nachteil hat das Wetter schon: Diese monströsen Schirme verhindern gerade, dass ich mich an dich schmiegen kann«, platzt es aus mir heraus.

Super! Fall doch gleich mit der Tür ins Haus!

Paul lacht herzlich auf. »Na, dann sollten wir dieses Problem schnellstens beseitigen!«

Abrupt bleibt er stehen, nur um seinen Schirm zusammenzuklappen und mich in der nächsten Sekunde an sich zu ziehen.

Meine Kniescheiben sind ein weiteres Mal nicht existent, was sich beim Gehen noch schwieriger gestaltet. Das kann ja ein Abend werden ... ohne Knie.

Im Theatersaal ist nicht ein freier Platz zu sehen, als ich mich einige Minuten vor Beginn der Vorstellung darin umsehe. Während ich nach bekannten Gesichtern suche, kneife ich die Augen leicht zusammen und ein kurzer Schmerz fährt durch meinen Kopf.

Bitte nicht jetzt! Wenigstens mal ein Abend ohne diese ekligen Kopfschmerzen!

Intuitiv fasse ich mir an die Schläfen und massiere sie leicht. Aber es ist zwecklos. Was solls ... Davon lasse ich mir diesen tollen Abend mit Paul nicht vermiesen. Also lasse ich die Hände wieder in meinen Schoß sinken.

»Alles gut?«, erkundigt sich Paul und schon spüre ich seine raue Hand nach der meinen greifen.

Ich lächele wie von selbst und nicke nahezu benommen. Zu mehr bin ich nicht fähig, denn mein Körper wird erneut von Millionen Kolibris in Beschlag genommen, als sich unsere Finger ineinanderschlingen.

»Du bist sehr oft hier, oder?«, fragt er, wobei seine Augen mich interessiert mustern.

Irgendwie schafft es Paul immer wieder, mir Fragen zu stellen oder Dinge zu sagen, die mich sicher fühlen lassen. Dabei bin ich gerade tierisch in seiner Nähe aufgeregt. Genauso wie damals, als wir noch Teenager gewesen sind.

»Ja, mindestens einmal im Monat. Das hat sich irgendwie so ergeben, als ich vor zwei Jahren mit Klara zusammen hier gewesen bin. Seitdem ist das jetzt so eine Art Ritual bei uns gewor-«

Mit mir verstummt die Menge im Saal, als die Lichter gedimmt werden, bis sie schließlich gänzlich ausgehen. Dann erhebt sich auch schon der rote Vorhang und ein futuristisch gestaltetes Bühnenbild kommt zum Vorschein.

Die Gebäudefassaden erstrahlen in der Dunkelheit allesamt in einem grellen Blau. Langsam füllt sich die Bühne mit Schauspielern, die in bunten Neonfarben gekleidet sind. Ihre Gesichtszüge sind durch die eindrucksvolle Schwarzlicht-Schminke erkennbar. Dabei ertönt in gleichmäßigen Abständen ein Gongschlag nach dem anderen, bis alle eine Endposition eingenommen haben und für einen Moment darin verharren. Ich habe schon im Voraus die Rezensionen des Stücks gelesen, wobei jedes Mal die kunstvolle Aufmachung des Bühnen- und Maskenbilds positiv herausgehoben wurde.

Erneut durchfährt ein stechender Schmerz meinen Kopf und ich schließe die Augen. So sehr der sich mir bietende Anblick ein Genuss für mein künstlerisches Interesse ist, so sehr muss ich mich gerade anstrengen, den farbenfrohen Bildern zu folgen.

Auf einmal fährt Paul sanft mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Erst jetzt bemerke ich, dass ich seine Finger fast zerquetsche.

»Entschuldige«, wispere ich und spüre dabei die Röte in mein Gesicht schießen, während ich den Griff um seine Hand lockere.

Jetzt denkt er sicherlich, ich sei nicht mehr ganz bei Trost!

Erneut streichelt er meine Hand und beugt sich zu mir. »Schon gut, ich lass dich so oder so nicht mehr los.«

Ein leichter Schwindel ergreift mich, als ich den Druck seiner Finger auf meiner Haut spüre. Irgendwie bin ich gerade vollkommen überfordert. Ich schließe die Augen, atme ein paar Mal ein und aus, ehe ich mich wieder dem Theaterstück widme.

Doch plötzlich flimmert es regelrecht vor meinem Blickfeld. Die Farben verschwimmen. Werden eins. Ich blinzele. Nichts passiert. Der Schmerz hört nicht auf. Nimmt zu. Ich atme. Schließe die Augen. Und atme. Öffne sie wieder. Farbstrudel. Schmerz. Farbregen. Schmerz. Schmerz. Schmerz. Dunkelheit.

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