63 - Die schlechtesten Klischee-Romantik-Gegner

„Der Videocontent, den wir täglich auf Social-Media-Plattformen konsumieren, versorgt uns also nicht mit mehr Informationen. Der Inhalt dieser Videos, die in Massen hintereinanderweg von Usern angeschaut werden können, besteht vollkommen aus seiner Inhaltslosigkeit. Die Sekunden scheinen schneller zu ver-" Ich unterbreche mich, als es endlich klingelt, und klappe meinen Laptop zu. Meinen neuen Artikel über Shortform-Content kann ich auch noch morgen unmittelbar vor der Abgabe ein letztes Mal Korrektur lesen. Ich freue mich ungemein auf den nächsten, denn dieser war ein richtiger Arbeitsartikel für mich. So nenne ich sie, wenn das Thema mich nur vage interessiert. Was ich im Pitch bekundet habe. Trotzdem hat Chefchen ihn mir übergeholfen, weil er meine Influencerstory aus dem letzten Jahr so gelungen fand.

Wieder mal hat mein lieber Kollege Tillmann den großen Coup am Dienstag gelandet und der Nahrungsergänzungsmittelschwindel ist auf seinem Schreibtisch gelandet - nicht in meiner Ablage. Nächste Woche darf ich immerhin der regierenden Koalition auf die Finger hauen und für den Politikteil des Magazins nie eingelöste Wählerversprechen ausgraben. Besonders auf das Interview mit den Spitzenleuten der einzelnen Parteien freue ich mich immens. Politiker provozieren macht Spaß.

Während die Arbeit mir weiter im Kopf rumschwirrt, betätige ich den Summer und lasse Vincent ins Haus. Ein Blick in den Flurgarderobenspiegel zeigt mir, dass ich meinen Lippenstift vorhin entweder schlampig aufgetragen habe ... oder, dass die Kokospraline, die ich mir in einer fünfminütigen Schreibpause genehmigen musste, für den Schönheitsfehler verantwortlich ist. Ich beseitige alle Indizien für meinen spontanen Nachanfall mit meinen frisch manikürten Fingernägeln und schlüpfe in die silbernen Kitten Heels. Dann öffne ich die Tür.

Vor mir steht ein gutaussehender, hochgewachsener Agenten-Verschnitt, der sich bei näherem Hinsehen doch tatsächlich als mein Freund entpuppt. Er lächelt und hält mir den schönsten Blumenstrauß vor die Nase, den ich in meinem ganzen Leben je gesehen habe. Es müssen mindestens zwanzig Rosen sein, befreit von ihren Dornen, saftig grün und mit Blüten so rot wie mein Lippenstift.

„Bereit für unser Date, Chacha?", fragt er mich. Ihm steht der ganze Stolz ins Gesicht geschrieben über den Abend, den er für uns die Beine gestellt hat.

„Oh, Mr Bond, bitte", verstelle ich meine Stimme und imitiere einen französischen Akzent, „mein Freund darf hiervon nichts erfahren." Er lacht, legt zwei Finger unter mein Kinn und küsst mich. Als er sich wieder löst, strahle ich ihn an. „Ich stelle sie eben in die Vase. Du kannst ruhig im Wagen warten." Bevor ich jedoch in die Küche abbiege, bleibe ich stehen, da er nach wie vor im Türrahmen lehnt. Mein Liebster macht keine Anstalten zu gehen. Er beginnt eine Melodie zu pfeifen, die plötzlich versummt, weil er mich angrinst.

„Gefällt dir, was du siehst?", fragt er, stellt sich gerade hin, fasst sich dabei ans Revers seines Sakkos. Ich schmunzle nur vielsagend und verschwinde wortlos in der Küche. Er sieht sehr gut aus. Aber auch ein bisschen verkleidet. Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, spüre ich, wie er hinter mir auftaucht und seine Vorderseite sanft an meine Rückseite drückt. Seine Lippen finden die Stelle hinter meinem Ohr. Er atmet den Duft meines eben erst aufgetragenen Parfüms genießerisch ein, ehe er mich dort küsst. „Du bist wunderschön", flüstert er. „Das Kleid ist der Hammer."

„Ach, dieser olle Fummel vom Designer-Outlet", gebe ich neckisch zurück und recke mich ihm für einen weiteren Kuss entgegen. „Freut mich, dass es dir gefällt", sage ich zwischen zwei Zärtlichkeiten. Er wird fordernder, doch ich schiebe ihn lachend weg. „Hör auf, ich hole jetzt Wasser für die Blumen und dann fahren wir los." Vincent entfernt sich einige Schritte von mir, sodass ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen kann.

Ich halte mich an unsere Spielregeln. Es war mein Vorschlag, eine Woche auf Sex zu verzichten, und er hat sich darauf eingelassen. An vier der sieben Tage hatte ich ohnehin meine Periode. Trotzdem war es süße Sehnsucht. Süß war sie nur, weil sie vergänglich ist. In meinem Kalender habe ich mir das Datum heute sogar markiert, und das nicht wegen des schicken Dinners, sondern allem, was sich daran anschließen wird. Umso verwunderter war ich, dass er sich nicht längst gedacht hat, weshalb ich ihn in meinen Nachrichten heute nach einer Farbe gefragt habe.

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Aus dem Radio dudelt Kylie Minogue und ich singe leise mit, was ich mir bei Vincent im Wagen total angewöhnt habe. Ich richte meine Handykamera auf ihn und schieße ein Foto von meinem Freund.
„Warte doch, bis wir an der Ampel stehen, dann werfe ich mich in Pose für dich", meint er und wackelt mit den Augenbrauen. Ich lache und will ihn auffordern loszulegen, als mein Handy in meiner Hand zu vibrieren beginnt.

„Das sind meine Eltern", sage ich.

„Uh, mach auf laut."

Ich komme seiner Bitte umgehend nach.
„Hallo Mama, hallo Papa", begrüße ich sie.

„Ich bin auch da", vermeldet Vincent. „Hallo Doro, hallo Falk."

„Hallo Engel, und hallo Vincent! Wie schön, dass du auch da bist", ruft Mama fröhlich aus.

„Ich führe eure Tochter eigentlich gerade zum Abendessen aus", erklärt Vincent.

„Gut so, Junge", mischt mein Vater sich ein. „Aber dann sollten wir euch vielleicht gar nicht so lange stören, oder?"

Mama protestiert.
„Wir können jetzt nicht gleich auflegen, zuerst lade ich euch zum Kaffeetrinken ein, habt ihr gehört? Ihr habt euch hier ewig nicht mehr blicken lassen. An meinem Geburtstag hätte ich euch gern wenigstens mal auf ein Stündchen gesehen."

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Das hatte ich nicht bedacht.
„Wir sind an deinem Geburtstag noch in Hamburg, Mama, tut mir leid. Aber wir holen das nach", verspreche ich sofort.

„Das will ich hoffen. Schade, ich hatte mich darauf gefreut."

„Also echt, Charlotte", fällt mein Freund mir prompt in den Rücken und grinst höhnisch.

„Du, zügle dein freches Mundwerk", erwidere ich drohend.

„Doro, wann genau hast du denn Geburtstag?", fragt Vincent. „Ich kann mir das digital in den Kalender eintragen und eine Erinnerung hinterlegen. Charlotte liebt ja ihren Terminkalender, für den mehrere Bäume ihr Leben lassen mussten. Aber mein Gedächtnis ist so jung, das braucht noch immer Stützräder. Verrat es mir und bewahre ich deine Tochter nächstes Jahr vor so 'ner schreienden Peinlichkeit."

Mama nennt ihm lachend das Datum. Ich werde noch ein bisschen von allen Seiten geneckt, bis wir uns herzlich voneinander verabschieden. Im nächsten Moment hält Vincent auch schon vor dem Ritz Carlton und überreicht seine Autoschlüssel dem Park Boy. Er hält mir die Tür auf und ich steige so elegant ich kann aus dem Wagen. Vor uns ragt der Eingang auf. Ein einziges Mal war ich hier drin und habe an der Bar ein Interview mit einem renommierten Schriftsteller geführt, der auf Lesereise durch Europa unterwegs war. Da hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich eines nicht allzu fernen Tages privat durch die heiligen Hallen wandeln würde. Ich schaue meinen Freund an, der lächelt, und so zufrieden wirkt, dass ich mich automatisch frage, ob er schon eine andere Frau hierhin mitgenommen hat. Vielleicht Maria? Was sie wohl für ein Kleid anhatte damals ...?

„Lass uns reingehen. Sonst merken sie noch, dass wir für gewöhnlich in ganz anderen Kreisen verkehren." Er hat sich mir zugewandt und ich wache auf, verscheuche die Eifersucht im Bruchteil einer Sekunde.

„Das war doch bloß eine verrückte Idee, die ich hatte", murmle ich.

„Aber eine Gute", er zwinkert mir zu und reicht mir seinen Arm. Ich hake mich bei ihm unter. „Ideen haben ist nur der halbe Spaß, Chacha - Ideen umsetzen: Das ist der wahre Deal im Leben." So sprach der Künstler. Wir betreten das Hotel und laufen auf den Eingang des Restaurants zu. Der Oberkellner führt uns an den Tisch, den er reserviert hat und ich nehme auf einem der gemütlichsten Stühle Platz, auf dem ich je gesessen habe. Wir folgen der Empfehlung des Sommeliers und bestellen eine Flasche Chablis, die hervorragend zu allen fünf Gängen passen soll.

„Das ist auch neu für dich, oder?", platze ich unvermittelt mit der Frage raus, die mich vor der Tür beschäftigt hat. Didi hat recht, wenn sie sagt, dass ich Vincent einfach fragen soll, wenn ich etwas über ihn wissen will. „Also, so ein schickes Dinner."

Mein Freund zuckt gleichgültig die Schultern.
„Na ja, Maria stand total auf so Luxus-Kram. Ich hab ein, zwei Dinge mit ihr unternommen, die mich eine Menge Geld gekostet haben. Aber so ein Dinner in einem Nobelhotel ist mir neu, und außerdem ist das auch gar nicht vergleichbar. Maria hat gefallen, dass ich viel Geld für sie ausgebe. Das hier ist anders. Ich hab Lust, das mit dir zu machen. Weil es eine verrückte Idee von dir war, und weil du am hübschesten bist, wenn du darüber staunst, was du gerade erlebst."

Meine Augen müssen glitzern vor Rührung. Ich trinke einen Schluck Wein und lehne mich ein Stück zurück.
„Du machst mich ganz verlegen", sage ich und schaue in seine braunen Augen. „Ich entdecke sehr gern Neues, deshalb bin ich Journalistin geworden. Das ist mein Naturell, würde ich behaupten. Und ich habe schnell herausgefunden, dass du genau weißt, wo es etwas zu erleben gilt. Das liebe ich so an dir. Ich hab oft so ein Gefühl, als könnte mich nichts mehr überraschen. Aber ich mag es, wie meine Hirngespinste zur Realität werden. Mit dir an meiner Seite."

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Mein müder Blick fällt auf den Rosenstrauß, der auf meiner Kommode am Rand vor dem Spiegel in einer eigens für ihn angeschafften Blumenvase steht. Auf der anderen Seite flackert die Duftkerze, die angeblich sinnliche Pheromone beim Runterbrennen freisetzen soll. Als hätte es die gebraucht ... Wir wären sowieso übereinander hergefallen, spätestens als Vincent diese brandneuen Dessous endlich live und in Farbe erleben durfte, war Zurückhaltung kein Thema mehr. Ich ruhe auf schon fast spirituelle Art und Weise in mir, als Vincent meine Hand auf der Matratze ertastet und seine Finger meine umgreifen. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen und ich schließe die Augen, genieße das Gefühl von Verbundenheit, atme ein und aus. Der sanfte Druck seiner Hand ist alles, was ich in diesem Moment brauche.

„Ich desertiere ins Lager der Kitsch-Liebhaber, wenn das jedes Mal so perfekt abläuft wie heute", höre ich ihn nach einer ganzen Weile sagen und lache leise.

„Ja, das war wunderschön", bestätige ich und empfinde keine Scham dabei, es zuzugeben.

„Komm her", fordert er mich auf und ich richte mich ein Stück auf, nur um im nächsten Augenblick halb auf ihn zu sinken. Verspielt lasse ich meine Finger durch seine Haare gleiten, kraule ihn am Kopf - Erstens weil ich es gern tue, zweitens weil ich weiß, dass Vincent das mag. Er sieht mir in die Augen, hält meinen Blick fest und ich beuge mich kurz vor, um ihn zu küssen, auf die Nasenspitze, den Mundwinkel. Er initiiert schlussendlich aber doch, dass unsere Lippen sich treffen und ich verliere mich in dem Gefühl von Hunger, Sehnsucht und Leidenschaft. Gerade als ich kaum noch genug davon kriegen kann, löst er sich von mir, weshalb ich kurzerhand dazu übergehe, ihn unschuldig auf die Wange zu küssen, dann hinterm Ohr und am Hals.

„Charlotte", murmelt er, aber ich setze unbeirrt fort, was ich angefangen habe, zumindest so lange, bis seine warmen Hände nicht mehr nur auf meinen Seiten ruhen. Stattdessen kitzelt er mich, was mich zum Aufhören zwingt. Mit einem spitzen Schrei zucke ich weg und rolle von ihm runter. Vincent folgt mir und drückt mich tief in den Schaumstoff, während er mich so verspielt foltert.

„Stopp", japse ich lachend, doch er macht noch eine Weile weiter. Dann lässt er von mir ab und lehnt seine Stirn gegen meine.

„Weißt du, was komisch ist?", fragt er mich. Schweigend sehe ich ihm in die Augen, streiche über seinen Rücken. „Wir haben versagt. Wir hatten das volle Schmalz-Programm und mir hat's gefallen; dir auch."

„Wir sind sehr schlechte Klischee-Romantik-Gegner", bestätige ich, erwidere das Grinsen, dass sich auf seinem Gesicht breitgemacht hat. Vincent küsst mich und ich muss lachen, als er mich wieder kitzelt, mich dabei trotzdem küsst, und die Luftknappheit stört mich seltsamerweise nur geringfügig. Bald lässt er es bleiben, sodass die Nähe zwischen uns einen lustvollen Beigeschmack bekommt.

Die Welt steht still, aber in seinen Augen steht ein ganzer Roman geschrieben - und jedes Wort ist mir gewidmet. Das Kribbeln reicht bis in meine Zehenspitzen, ich bin ihm so verfallen, schwimme im Strom episch-süßer Unendlichkeit. Liebe haucht mir Leben ein, noch nie habe ich das so deutlich gespürt wie in diesem Moment.

Ich male mit dem Fingernagel kleine Kreise in Vincents Nacken, breche unseren Augenkontakt keine einzige Sekunde. Mehr Intimität ist gar nicht möglich, ich bin mir sicher. Dieses Gefühl ist wundervoll, pur und unverdorben. „Ich liebe dich", flüstere ich und beobachte, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verziehen.

„Ich liebe dich auch", erwidert er es ebenso leise.

„Wir sind das Klischee", grinse ich und verdrehe dabei die Augen. Vincent stimmt in mein Lachen mit ein. „Sehr bedauerlich", füge ich noch hinzu.

„Schrecklich bedauerlich", bestätigt er und küsst mich. Ich schmecke, dass er das Gegenteil davon meint, ebenso wie ich.

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