53 - Die Freddys
Dag und ich stoßen gerade mit Softdrinks an, als es an der Studiotür bimmelt. Mein Bester nimmt einige kräftige Züge, ich beschränke mich auf ein einzelnes Schlückchen. Das Glas stelle ich auf einen Untersetzer, bevor ich die Stufen runtereile, um Charlotte aufzumachen. Wie immer gucke ich zuerst durch den Spion, entdecke aber wie erwartet lediglich meine Freundin da draußen. Rund um ihre Mundwinkel zeichnet sich Anspannung ab, doch ein Lächeln zupft an ihren Lippen, als ich ihr die Tür öffne, sodass ich dem keine Bedeutung beimesse.
Ihre Haare hat der Wind zerzaust, aber sie sieht süß aus. Mascara-Schatten schwelen unter ihren glitzernden Augen und ihre Wangen sind leicht gerötet. Sie löst wortlos die Verschränkung ihrer Arme auf und legt eine Hand an meinen Hals, lässt sie daran hochwandern zu meinem Gesicht. Ihre Fingerknöchel und die langen Acryl-Nägel, die zurzeit bunt schimmern wie erlesene Opale, gleiten über meine Haut. Ich schlinge einen Arm um sie, hole sie nah zu mir ran, und Charlotte zögert nicht – sie presst ihre Lippen auf meine. Nicht verlangend, aber doch mit einer spürbaren Sehnsucht dahinter, liebkost ihr Mund sanft meinen. Ich falle in den warmen Geschmack von Honig und den Duft von Aprikose und Birne hinein, während ihre Finger in meinen Nacken wandern und ihre Zunge von mir kostet. Nur kurz, und sie zieht sich im nächsten Moment sofort ganz zurück.
Automatisch folge ich ihr mit dem Kopf. Ihr Atem kitzelt mich an der Nasenspitze. Sie kichert, denn sie weiß genau, dass mich diese Begrüßung aus dem Konzept gebracht hat. Wieder streichelt sie meine Wange, bevor sie mich fest umarmt.
„Hey", flüstert sie mir ins Ohr. Der sanfte Hauch beschert mir eine angenehme Gänsehaut. Ich drücke mich gegen sie, muss mich beherrschen, meine Hände nicht auf ihren Po sinken zu lassen. Es wäre so einfach, es wäre so schön ... Aber Dag ist nach wie vor anwesend. Drum räuspere ich mich schweren Herzens.
„Hi", erwidere ich leise und schiebe sie an der Hüfte von mir, bringe ein wenig Abstand zwischen uns. Charlotte schmunzelt. „Dag und ich sind erst vor ein paar Minuten fertiggeworden mit aufnehmen und haben eben angestoßen auf die anstehende Festivalsaison", informiere ich sie. „Über die Gigs hab ich mit dir auch noch gar nicht gesprochen, verzeih mir", murmle ich reumütig.
„Ist doch nicht schlimm", tut sie es ab und ich nicke zögerlich.
Ja, warum hat es sich kurz so angefühlt, als müsste ich mich bei ihr entschuldigen?
Sie tippt mir auf die Brust. „Hauptsache, du betrinkst dich nicht schon wieder." Ich schüttle schnell den Kopf. „Lässt du mich rein?"
„Äh, ja. Klar." Ich fahre mir durchs Haar, dirigiere sie umständlich an mir vorbei. Dabei betört mich erneut ihr Parfüm. Mein Hirn beendet seinen Spontan-Urlaub an der Côte d'Azur mit einem geräuschlosen Seufzer, als der Riegel der Tür einrastet und der Duft verfliegt.
„Hey Charles", hallt Dags Stimme von der Galerie zu uns hinunter und ich blicke hoch, genauso wie Charlotte. „Darf ich dich so nennen?", fragt mein Kumpel sie. „Didi nennt dich so."
„Sie war bisher die Einzige, der ich das gestattet habe", erklärt meine Freundin und wir erklimmen die Treppe gemeinsam. „Aber für dich kann ich eine Ausnahme machen." Dag grinst.
„So gütig von dir. Charlotte ist ein viel zu langer Name."
„Meine Eltern wussten einfach, dass ich es auf Dauer schaffen würde, mehr als drei Buchstaben zu Papier zu bringen, wenn ich meinen Vornamen in die dafür vorgesehene eine Spalte setzen soll." Sie zwinkert ihm frech zu.
„Dafür kann ich Gitarre spielen", kontert er grimmig. Charlotte lacht versöhnlich und setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl.
Sie überschlägt die Beine, und es erinnert mich an die Verhör-Szene aus Basic Instinct. Es ist das weiße Kleid, und der Blick, mit dem sie mich bedenkt.
Ich trinke einen Schluck von meiner eiskalten Cola. Ihre Lust klebt noch an mir in winzigen Partikeln, von denen jeder einzelne mit magnetischer Übermacht zurück zu ihr strebt. Gedanklich mache ich mir eine Notiz, dass ich die Wirkung dieser Frau auf mich nie – wirklich nie – unterschätzen sollte.
„Wie war dein Tag?", fragt Dag sie, doch Charlotte winkt sofort ab.
„Frag lieber nicht."
„War's echt so schlimm?", schalte ich mich ein und nippe wieder an meinem Getränk. Mein bester Freund wirft mir einen Seitenblick zu, den ich am liebsten mit einem Augenrollen quittieren würde. Mach ich aber nicht. Nicht vor Charlotte. Sie räuspert sich.
„Na ja, ich hab Freddy ehrlich nur selten so aufgebracht erlebt, und das war ... einfach eine etwas andere Erfahrung heute", umschreibt sie es blumig. „Du bist über alles im Bilde, richtig?", vergewissert sie sich bei Dag. Er nickt.
„Es ist besser so, als wenn der arme Tor sich weiter Hoffnungen macht", merkt er gleichgültig an und ich nicke.
Meine Freundin hebt langsam die Schultern, scheinbar ohne es zu bemerken. Ich stelle mich hinter sie und streichle ihren Nacken, ehe ich ihr eine Massage zugestehe. Es sollte mir wohl leidtun, dass ich sie aufgefordert habe, zu handeln. Sie lächelt dankbar zu mir hoch, doch ich tue so, als würde ich davon gar nichts mitkriegen.
„Wie war denn dein Tag?", fragt sie Dag. Der schaut kurz zu mir. Er ahnt schon, dass ich absichtlich zu diesem Scheiß-Freddy-Thema schweige.
„Durchwachsen", erwidert er wortkarg auf Charlottes Frage hin. Und nochmal huschen seine blauen Augen zu mir, auf die ich eine Zeit lang neidisch war, nachdem Maria ihm ein Kompliment in meiner Anwesenheit dazu gemacht hat. Nur um mich abzufucken.
„Ich war doof", höre ich mich sagen. Einsicht auf Autopilot. Denn meine Gedanken kreisen ja jetzt – Dag sei Dank! – um meine blöde Ex. Grandios.
„Was soll das denn bedeuten?", wendet meine Freundin sich mit spöttisch gespitzten Lippen an mich. Mein Bester gibt ein amüsiertes Schnauben von sich.
„Vincent hat ein paar dumme Dinge gesagt. Der ist beileibe nich' so klug, wie du denkst", haut er mich prompt in die Pfanne. Böse kann ich ihm aber irgendwie nicht sein deswegen. Immerhin hat er recht. Leider auch, was Maria angeht. Ich habe eine neue Freundin, die ich diesmal wirklich liebe. Wenn ich das mit ihr verkacke werde ich meinen Lebtag nicht mehr froh. Und Geheimnisse sind Gift für jede Beziehung.
„Emotionale Intelligenz ist nicht meine Stärke", gebe ich zerknirscht zu, was sie mittlerweile eigentlich wissen müsste. Charlotte lächelt sanft.
„Du arbeitest doch daran. Sei nicht so hart zu dir." Mit dem Kinn deute ich in Richtung Dag.
„Bin ich nicht, ist er aber." Er verdreht die Augen, diese meerblauen Augen ... Buhu, heul doch Vincent. Ist ja nicht so, als hättest du nicht schon nicht genug Tränen wegen ihr vergossen.
„Willkommen in unserem Alltag", scherzt er locker. „Alle Schuldzuweisungen hageln auf mein bescheidenes Haupt."
„Bescheiden, dass ich nicht lache", entgegne ich. „Und was bekomm ich ständig von dir, Alter? Gejaule und Gemaule." Dag zwinkert mir zu.
„Gejaule willst du doch immer von mir, wenn wir die Balladen aufnehmen."
„Sei mal netter zu mir, wir haben hier Besuch", murre ich beleidigt. Aber Dag schüttelt den Kopf.
„Nee, du hast Besuch." Er steht auf und greift sich seine Fluppen vom Couchtisch. „Ich mach die Biege, und ich regle das mit Sina." Er schickt mir eine stumme Erinnerung daran, dass ich mich Charlotte gegenüber nicht fair verhalte, wenn ich ihr den Grund, weshalb ich ihren Kollegen am liebsten irgendwo in der Wüste Nevadas wüsste, weiter schuldig bleibe. Aber das ist meine Sache. Überhaupt: Erstmal abwarten, ob er sich an seinen Teil des Deals hält. Seine Kiste mit Alexa ist nämlich dreimal so kompliziert.
„Auf welchen Festivals spielt ihr?", reißt Charlottes Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich blinzle. Dag ist abgezischt. Scheiße, hat sie bemerkt, wie ich ...?
„Wo sie uns haben wollten", antworte ich ihr. „Southside, Rock am Ring und Rock im Park, Hurricane ... Das sind so die größten Gigs für uns in diesem Sommer." Charlotte lächelt, dabei verschränkt sie die Arme vor ihrem Körper.
„Mich täuschst du nicht, Vincent. Du bist berühmt. Ganz egal, was du behauptest. Oder was Dag behauptet." Ich zucke die Schultern, trage sie Brautstyle zur Couch und übergehe ihr Statement.
„Für die meisten Auftritte sind wir das gesamte Wochenende eingespannt." Ich lege sie vorsichtig ab und klettere auf sie.
„Darf ich ..." Sie unterbricht sich ... und schweigt ... und schweigt. Lass es nicht meine Fassade sein, die bröckelt, bete ich.
„Was?", hake ich nach, obwohl mich das den Kopf kosten könnte, falls sie gleich fragt, was mit mir los ist.
„Ich würde gern sehen, wie's bei euch hinter der Bühne so zugeht." Überrascht runzle ich die Stirn.
„Du willst mitkommen?"
„Natürlich nicht auf alle Festivals." Mit dem Daumen streichelt sie meine Wange. „Aber auf eins."
„Hey, klar." Mir entwischt ein erleichterter Lacher. „Ich rede mit Herrn Lösch darüber." Ich zücke sofort mein Handy und halte mich daran fest, als wäre es ein signalrotleuchtender Rettungsring. Außerdem kann ich dahinter das hübsche Gesicht meiner Freundin verbergen. Ihre Haselaugen, die die Wahrheit jeden Moment aus mir raussaugen könnten.
„Wer ist Herr Lösch?"
„Ef", erläutere ich. „Ich muss ihn doch darum bitten, dass er die Groupies rechtzeitig aus dem Backstage scheucht." Ich zwinkere ihr zu, während Charlotte ihrer Empörung Luft macht: „Weißt du was? Ich hab fast gar keine Lust mehr auf diesen Frust-Fick."
„Fast", wiederhole ich. „Sehr überzeugend, Chacha." Ihre Augen funkeln und sie küsst mich.
„Warum werde ich schwach bei deiner Arroganz?", nuschelt sie zwischen zwei hungrigen Lippenbekenntnissen.
„Anders wär's mit mir doch gar nicht auszuhalten", flüstere ich.
Wir wechseln die Position. Ich versinke in den Lederpolstern der Couch, solange sie ihr Kleid auszieht. Sie ist so verboten heiß, und trotzdem plagt mich hartnäckig nur dieser eine verschissene Gedanke: Was, wenn alles mit ihr nur eine trügerisch-schöne Illusion ist? Genau wie damals mit Maria. Was, wenn ich meine feste Freundin eines Tages wieder an einen verdammten Freddy verliere?
Sekunde um Sekunde ringt einer meiner Atemzüge um einen ihrer. Charlottes bloße Anwesenheit treibt meinen Puls hoch. Sie wird es verstehen; sie ist nicht die Richtige sonst. In einem Wimpernschlag hat sie mir mein Oberteil ausgezogen und ihre Hände streicheln mit Hingabe meine Brust. Sie küsst mich am Hals, doch dann lässt sie von mir ab. Forschend mustert sie mein Gesicht. Das war's dann also mit dem Versteckspiel.
„Du wirkst in dich gekehrt", spricht sie ihr vernichtendes Urteil. „Musst du mir was sagen?"
„Nein", wehre ich mechanisch ab. Charlotte legt den Kopf schief. Sie angelt nach meinem Pullover und zieht ihn über.
„Ich habe dich nicht gefragt, ob du möchtest, sondern ob du musst." Abwartend sieht sie mir in die Augen. Weder ermutigend noch anklagend. Einfach neutral. „Du kannst es mir erzählen. Ich verspreche dir, dass ich nicht schreiend wegrennen werde; egal, was es ist." Ihre blonden Haarspitzen kitzeln meine Brust, als sie mir ins Ohr wispert: „Das könnte ich dir nie antun, dafür liebe ich dich viel zu sehr." Mühsam schlucke ich meinen Unmut runter. Es bringt ja doch nichts.
„Wenn ich davon anfange, ist die spaßige Phase unserer Beziehung aber vorbei."
Charlotte kichert plötzlich.
„Was ist daran witzig?", frage ich sie irritiert.
„Das würde mir gefallen." Sie drückt sich hoch und sieht mit einer wohlwollenden Wärme auf mich runter, und das Rumoren in meiner Magengegend wird schleichend ersetzt durch ein elektrisches Kribbeln. „Ich bin nicht aus Spaß mit dir zusammengekommen. Spuck's aus – welche schockierende Offenbarung sollte mich jetzt noch in die Flucht schlagen?"
„Vielleicht Ich traue dir nicht, weil ich die Fehler, die meine Ex-Freundin gemacht hat, auf dich projiziere, und in der ständigen Angst lebe, du könntest mich mit deinem netten Kollegen betrügen, genau wie sie ...? Ich kann mir vorstellen, dass du das schon als Hindernis wertest."
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