50 - Sad boy, sad girl
Das ist nicht alles. Die Neugier verschlingt mich beinah, allerdings bin ich die Letzte, die ihrem Schatz absolute Offenheit predigen sollte. Vincent hat mir lang und ausführlich von seiner Beziehung berichtet, und ich weiß zwar, dass da noch mehr zwischen Maria und ihm passiert ist, als er preisgibt – Aber muss ich so darauf drängen? Ich will es, keine Frage. Doch sein Wohl ist mir momentan wichtiger. Es hat ihn angestrengt, darüber zu sprechen. Für heute war er mutig genug.
Trotzdem habe ich Angst, er könnte jetzt mich ins Visier nehmen, mehr über meine Geschichte erfahren wollen.
Während ich mich weiter an ihn drücke, schweifen meine Gedanken ab. Ich hasse das, und doch lasse ich sie ziehen wie die Wildgänse. Denn so überleben sie jeden meiner unbarmherzigen Seelenwinter. Ich lasse sie ziehen ... Sonst geben sie ja doch keine Ruhe.
Vorsichtig dränge ich mich noch etwas näher an Vincent. Es tut gut, seine Wärme zu spüren, auch wenn die Hitze der Wut in mir wallt. Seine Ex hat ihm eindeutig nur einen ganz bestimmten Wert beigemessen. Damit kennen wir uns beide aus. Reduktion aufs Wesentliche, oder wie hat mein Erster es damals ausgedrückt?
„Danke fürs Zuhören", flüstert Vince und küsst mich aufs Haar. Ein Klumpen bildet sich in meinem Hals. Unsere Oberkörper streben auseinander, aber er hält mich an der Taille fest und ich verschränke meine Hände in seinem Nacken. „Ist alles okay?", will er wissen. Der Wind spielt mit seinen Haaren. Gegen Ende des Tages lässt der Halt, den das Wachs verleihen sollen, immer nach. Dann wird seine Frisur weicher, perfekter, um mit den Fingern hindurch zu fahren.
Ist es Aufmerksamkeit, die er mir schenken will, oder stellt er die Frage nur, weil er ein gutes Gespür dafür hat, was angemessen ist? Ist das nicht egal?
Ich bringe kein Wort raus, schaffe es aber den Kopf zu schütteln; sehe für einen kurzen Moment wieder Marleys dunkelbraune Iris vor mir, und es treibt mir die Tränen in die Augen. Rasch schlucke ich den Kloß runter, blinzle mehrmals. Vincents Augen haben diesen goldenen Touch, sind von leuchtenderer Farbe. Mit ihm ist es anders, echot es in meinem Kopf. Sei nicht so dumm, Charlotte, auch du verdienst ein bisschen Glück. Dafür musst du nur auch was tun.
„Ja ...", antworte ich mechanisch auf seine Frage, als ich meine Stimme wiedergefunden habe. Blöd nur, dass ich Vincent nicht anlügen möchte. Schon aus Prinzip nicht, wie mir in der nächsten Sekunde bewusst wird. „Also, nein. Es macht mich betroffen, wie du dich damals gefühlt haben musst in Marias Nähe", murmle ich und fahre mir mit dem Zeigefinger unter meiner Nase entlang. Vincent zieht die Schultern hoch bis zu seinen Ohren.
„Ich hab mich eigentlich ganz okay gefühlt. Nicht immer, aber überwiegend. Immerhin war ich ziemlich lange mit ihr zusammen." Er mustert mich schweigend. „Sag mal ... Dein letzter Typ hat dich betrogen. Willst du mir vielleicht mal davon erzählen? Von dir und ihm?"
Ich lache freudlos auf und trete einen Schritt zurück. Vincent lässt mich irritiert los und sieht mir fragend in die Augen, als ich mir kurz darauf seine Hand schnappe. Denn ich weiß, ich kann nicht weglaufen. Nicht, nachdem er sich mir so geöffnet hat gerade. Sanft ziehe ich ihn in Richtung Uferpromenade. Jetzt ist es an mir.
„Es ist absurd, wie zielsicher du das Thema anschneidest, über das ich unter keinen Umständen gern rede. Komm, wir sollten ein bisschen flanieren, deshalb sind wir hier", beschließe ich, doch das Lächeln auf meinen Lippen ist nicht echt. Er weiß das, kommentiert es aber nicht. In einvernehmlicher Stille betreten wir den Pfad, der sich einmal um den See schlängelt. Die weiche Erde unter meinen Füßen soll mir als Beweis dienen, dass ich mit beiden Beinen fest im Leben stehe. Meine Ära der psychisch labilen Männer ist beendet. Inzwischen gibt es nur noch Vincent für mich. Und auch die Erinnerung an meinen Ex-Freund aus jüngster Vergangenheit, Marley, wird es nicht schaffen, mir dieses Leben zu versauen. Durchatmen, Charlotte. „Es tut manchmal schon noch weh ...", gebe ich zögerlich zu. „Ich hänge ihm nicht nach. Es ging nur kurz mit uns."
„Wie lange denn?", hakt er prompt nach. Sein Daumen streichelt meinen Handrücken in Viertelmonden.
„Ein halbes Jahr." Ich seufze. „Es war aber trotzdem sehr intensiv. Meine erste Beziehung lag etwas zurück, und ich war ein gebranntes Kind. Ich wollte auf keinen Fall ein zweites Mal betrogen werden. Und bis heute glaube ich, dass ich es damit vielleicht heraufbeschworen habe, dass Marley mit Jasmina geschlafen hat."
Vincent mustert mich ernst.
„Wie habt ihr euch kennengelernt?"
Während ich erzähle, tauche ich erneut in die Szene ein.
„Er stand eines Tages vor dem Grab meines Bruders und hatte eine Kerze dabei. Die hat er für ihn angezündet. Ich fand das komisch, weil ich ihn noch nie dort gesehen hatte. Er sah auch nicht viel älter aus als ich. Wir haben sieben Jahre Altersunterschied, hat sich später rausgestellt." Ein anderes Paar läuft uns entgegen. Sie lacht, er auch. Gerade sehne ich mich schmerzlich danach, einfach dasselbe zu tun. Loslachen, übergehen zu der Unbeschwertheit, die mir fehlt. „Meine Neugier hat damals gesiegt. Ich bin zu ihm hingegangen, hab meinen Blumenstrauß auf Justs Grab abgelegt und ihn gefragt, wer er ist. Als er erzählt hat, er wäre eins der Kinder gewesen, die Justus früher bei seinem FSJ in einem Kindergarten betreut hat, war ich erst misstrauisch. Bevor er starb, hat mein Bruder wirklich in einer Kita gearbeitet. Und dann habe ich mich automatisch gefragt: Warum sollte jemand in so einer Angelegenheit lügen?" Ich verschränke meine Finger fest mit Vincents und sehe im Augenwinkel, wie er nickt.
„Das war die Wahrheit, oder?", wirft er ein.
„War es. Er hat mich gefragt, ob ich eine Verwandte bin. Ich habe ihm gesagt, ich wäre sowas in der Art, bin aber nicht weiter drauf eingegangen. Marley hat also angefangen zu erzählen. Dass er praktisch in der Kita gewohnt hätte, weil man seiner Mutter die Leitung übertragen hatte. Justus war sein liebster Betreuer und mehr wie ein Bruder. Sie haben ständig Zeit miteinander verbracht. Er durfte immer einen Löffel von seinem Nachttisch naschen, wenn er seinen schon aufgegessen hatte. Justus hat ihm beigebracht, wie nass der Sand sein muss, damit man tolle Sandburgen daraus bauen kann", zähle ich langsam sämtliche Details auf. „Er hat seine Mutter ausgefragt, als Justus nicht mehr zu ihnen kam. Wo er denn hin wäre? Und als er sie gefragt hat, ob er gestorben wäre, hat sie bitterlich angefangen zu weinen. Damals wusste Marley noch nicht, was das überhaupt bedeutete zu sterben. Er hatte nur Justus darüber reden hören, wenn sie gemeinsam mit diesen überteuerten Tieren aus Plastik gespielt hatten. An dem Tag, an dem wir uns auf dem Friedhof begegnet sind, hatte er zuvor mit seiner Mutter Kaffee getrunken, und sie hatte ihm im Zuge dessen erzählt, was damals wirklich mit seinem Lieblingsbetreuer passiert ist. Dass Justus sich umgebracht hat. Marley meinte, es hätte ihn nicht überrascht. Er hätte bei Justus schon immer diese tiefe Traurigkeit gespürt. Das Schwarz, so hat er es genannt, das auch sein breites Grinsen nicht übertünchen konnte. Er wäre bloß hergekommen, um die Kerze anzuzünden – um danke zu sagen ... In dem Moment überkam es mich, und ich habe ihm eröffnet, dass ich technisch gesehen Justs kleine Schwester bin." Ich wende mich ihm zu. „Meine Eltern haben immer versucht, mir weiszumachen, dass sie nicht den leisesten Anflug eines Zeichens gesehen haben. Und ich war mir früher sehr sicher: Wenn ich da gewesen wäre, hätte ich etwas bemerkt. Plötzlich war da Marley, der mir bestätigt hat, dass man es spüren konnte damals, weil er vom Sterben gesprochen hat. Öfters. Dass man hätte eingreifen können, dass Justus' Tod nicht unverhinderbar war, verstehst du? Meine erste Begegnung mit Marley hat mich bis ins Mark erschüttert. Das ging von Anfang an so tief mit uns. Weil er meinen Bruder gekannt hat. Diesen Menschen, den ich nie kennenlernen durfte. Und er kannte ihn anders als meine Eltern ihn kannten – er kannte ihn richtig. Zumindest hab ich das gedacht."
Vincent nickt.
„Das war anziehend für dich", stellt er fest.
„Enigmatisch anziehend", gebe ich ihm recht. „Aber Marley als Individuum, ohne diese Sache, war ein schwieriger Charakter. Wir waren in keiner normalen Beziehung. Ich habe ihn therapiert, so weit wie es ging. Alles, was ich wollte, war, dass er heilt, damit wir eine Zukunft haben. Das ist mein Anteil daran, ich war bereit, an dieser Aufgabe zu zerbrechen. Und das bin ich, in dem Augenblick, in dem er zu Jasmina gegangen ist. Meiner besten Freundin, die ihn nie unter Druck gesetzt hat." Ich hole tief Luft. Zwischendurch habe ich vergessen zu atmen. „Vince, du solltest wissen ..." Ich schlucke. „Als ich gesagt habe, dass ich lange in keiner festen Partnerschaft mehr war, habe ich das ernst gemeint. Ich war 19, als ich mit Marley zusammengekommen bin. Jetzt bin ich 27."
Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder.
„Und dazwischen? Gab's da niemanden?"
„Ein paar nette Männer gab es, klar. Aber mit keinem habe ich je eine Beziehung in Betracht gezogen. Deswegen hat es mich auch überrumpelt, als du das auf einmal so dringend wolltest." Er lacht schulterzuckend und ich blicke verunsichert zu ihm auf.
„Ich hab mich einfach in dich verliebt, Charlotte. So läuft das dann bei mir." Mit einem Lächeln presst er seine Lippen kurz auf meine Wange.
„Ich war auch mal wie du, was das anbelangt", wispere ich leise, kaum dass er sich wieder etwas zurückgezogen hat. „Heutzutage will ich lieber ganz genau wissen, worauf ich mich einlasse."
„Warum hast du dann sofort eingewilligt?", fragt er verdutzt. „Ich hätte auch noch ein paar Dates abgewartet."
„Weil ich – anders als bei meinen beiden Ex-Freunden – intuitiv ein gutes Gefühl bei dir hatte."
Mein Freund grinst breit und diesmal schaffe ich es sogar, es ehrlich zu erwidern.
„Danke, dass du mir davon erzählt hast."
„Alles andere wäre feige gewesen."
„Da muss ich dir zustimmen." Er stoppt mich. „Hey." Mit seinem Daumen fährt er meinen Nasenrücken hinunter, bis er bei meinem Mund ankommt. „Du musst das nicht mit dir rumschleppen. Wirf es ab. Ich tu das Gleiche."
„Warum ist das so kompliziert, kannst du mir das verraten?" Mein Blick gleitet zum See hinüber. Die Nacht senkt sich über unsere Köpfe, bald werden die Sterne über uns am Himmel stehen.
„Kein Plan. Vielleicht, weil man es nicht einfach nur in Worte fassen kann. Weil man Leichtigkeit erst leben lernen muss."
„Wünschst du dir auch manchmal aufzuwachen und das alles zu können? Loslassen, optimistisch in die Zukunft blicken, jedem Problem gewachsen sein ..."
Vincent sieht mir in die Augen und ich kann nur perplex zurückstarren, als er behauptet: „So wache ich jeden Morgen neben dir auf, Chacha."
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