5 - Bei Anruf Komplexe

Wie hobbylos ich tatsächlich bin, beweise ich mir am Samstag-Vormittag. Ich bin vier Stunden nur mit Hausarbeit beschäftigt gewesen und habe sogar all meine Fenster geputzt. Vier. Stunden. Und dann ruft mich zu allem Überfluss auch noch die Frau an, der ich meine Zwänge verdanke – meine Mutter. Ich habe mir eine Pizza liefern lassen und will gerade genüsslich ins erste Stück reinbeißen, als mein Handy klingelt und ich ihren Namen im Display lese.

„Warum?", jammere ich leise und starre mein Telefon an. Die Versuchung, sie einfach wegzudrücken, ist riesig, aber das würde gar nichts bringen. Leider hat meine Mutter diese fiese Angewohnheit, pausenlos auf Wahlwiederholung zu drücken, bis sie mich endlich an die Strippe kriegt. Wir haben schon Krieg deswegen geführt. Im Sekundentakt ist es hin und her gegangen. Sie hat angerufen, ich habe aufgelegt. Es hätte mich fast den Kopf gekostet, als ich mein Handy damals in einem letzten verzweifelten Akt ausgestellt habe. Mama hat einen ganzen Monat lang gar nicht mehr mit mir gesprochen, und mein Vater ist der letzte Mensch, den ich als redselig bezeichnen würde. Das Treffen in meinem Elternhaus, das schon ewig geplant war, verlief dementsprechend unheimlich still.

Dag hat diese ausgeklügelte Form mütterlicher Rache später als Psychoterror und Christine Stein im selben Zug als völlig bekloppt bezeichnet. Obwohl ich ihm innerlich sofort zugestimmt habe, fällt es mir schwer, meine Meinung über das unnötig verletzende Benehmen meiner Mutter laut auszusprechen. Vermutlich liegt das daran, dass ich selber minimal gestört bin, sonst würde ich den Mund doch irgendwie aufbekommen.

„Hallo Mama." Möglichst geräuschlos beiße ich von meiner Pizza ab.
„Hallo Vincent, schön, dass du rangehst."
„Hm-mh", mache ich und schlucke den Bissen schnell runter. „Wie geht's dir?", frage ich.
„Ach, gut. Gut, danke der Nachfrage", gurrt sie. „Deinem Vater geht's auch gut. Was macht die Arbeit?"
„Gibt viel zu tun, wie immer", bete ich meine Standard-Antwort runter und verschlinge einen weiteren Bissen Pizza.
„Bastelt ihr an einem neuen Album? Mit Dag?" Mit wem soll ich denn sonst meine Alben rausbringen? Wobei, ich überleg ja eigentlich schon seit Jahren, wie ich Dag aus der Band rauskicken könnte ... Zumindest dann, wenn er mich wieder des Todes nervt, und das bloß, weil es ihm Spaß macht.

„Klar, sowieso", gebe ich zurück. „Hast du mal was von Heidi und Karl gehört?"
„Ich bin nicht dein persönlicher Bote, Vincent", erinnert sie mich schroff.
„So habe ich das auch gar nicht gemeint", grummle ich. „Ich wollte mich bloß nach unseren Verwandten erkundigen."
„Erkundige dich bei ihnen nach ihrem Befinden, nicht bei mir."
„Okay, ich werd's mir merken", brumme ich, aber sämtliche Muskeln meines Körpers sind angespannt, bei dem Ton, den sie im nächsten Satz anschlägt.

„Nur aus Interesse, Vincent, mir ging die Frage letztens durch den Sinn: Wie oft arbeitest du eigentlich mit Frauen zusammen?" Ich verdrehe die Augen. Was bin ich froh, dass Mama mich gerade nicht sehen kann. Da holt sie mich schon wieder ein, die fehlende Liebe in meinem Leben. Das Universum will mir eindeutig was mitteilen.
„Oft", erwidere ich. „In der Musikbranche arbeiten 'ne Menge toughe Frauen."
„Und ist die ein oder andere auch hübsch?"
„Wenn ich arbeite, mache ich mir darüber keine Gedanken, Mama. Das wäre unprofessionell, und ich kann's schließlich auch nicht leiden, wenn die mich anbaggern. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu", warte ich mit einem abgenutzten Sprichwort auf.
„Aber ist denn keine dabei, die dir gefällt?", beharrt sie.

„Hör mal, meinst du, wir könnten eventuell das Thema wechseln?", frage ich erschöpft. „Sollte sich was Ernstes für mich ergeben, erfahrt ihr davon, keine Sorge."
„Deine Beziehung mit Maria ist vor exakt einem Jahr in die Brüche gegangen. Langsam glaube ich dir nicht mehr, dass du dich nicht wenigstens zwischendurch mal nach einer Partnerin umguckst; ich weiß genau, du sehnst dich danach. Starke Bindungen sind wichtig im Leben."
„Was du nicht sagst. Sehr erhellend, Mama, wirklich."

„Was ist eigentlich dieses Knuspern bei dir im Hintergrund?" Abrupt höre ich auf zu kauen.
„Nichts", beeile ich mich, sie zu beschwichtigen.
„Isst du etwa, während wir miteinander sprechen?", fragt sie mich dennoch empört und ich nehme einen tiefen Atemzug.
„Ja", beichte ich. „Ich habe den ganzen Vormittag meine Wohnung auf Vordermann gebracht und bin tierisch hungrig. Du hast mich in einem schlechten Moment erwischt."
„Wieso sagst du denn nichts?", zetert sie. „Ich hätte dich später nochmal anrufen können, wenn es dir im Moment nicht passt." Ihr ist anzuhören, dass sie beleidigt ist. „Zu essen, während wir telefonieren – Ehrlich, Vincent, das finde ich mehr als respektlos von dir."

„Ja, ich weiß", seufze ich. „Ich muss mich aber gleich nach dem Essen ausgehfertig machen, später telefonieren geht also nicht."
„Triffst du dich mit einer Frau?"
„Du hast es erraten, und zwar mit einer verheirateten." Den Scherz kann ich mir leider nicht verkneifen. Meine Mutter japst erschüttert.
„Vincent Stein! Wie kannst du –"
„Beruhig dich, Mama. Marlene ist in der Stadt."
„Marlene ist – Oh", unterbricht sie sich verlegen. Anscheinend begreift sie langsam. Sie räuspert sich. „Hast du ihr schon zum Geburtstag gratuliert?"
„Punkt Mitternacht", bestätige ich knapp.
„Mit einer unpersönlichen Nachricht über einen Messenger-Dienst, wie es heute üblich ist, nehme ich an", stellt sie mürrisch fest.
„Ganz genau, und sie hat sich gefreut."
„Lass das nicht zur Gewohnheit werden. Der technische Fortschritt ist faszinierend, das gebe ich offen zu, aber an meinem Geburtstag möchte ich deine Stimme hören, das ist ja wohl das Mindeste."
„Alles gar kein Problem, ich schicke dir eine Sprachnachricht." Meine Mutter schnaubt und ich lache. Zum Glück stecke ich sie damit an.

„Um nochmal auf unser ursprüngliches Thema zurückzukommen ...", lenkt sie dann ein. „Rita hat mir erzählt, dass ihre Tochter ihr ihre letzte Beziehung komplett verschwiegen hat, über ein halbes Jahr, bis die beiden sich vor kurzem getrennt haben."
„Ein halbes Jahr sind nur sechs Monate. Ich finde nicht, dass das viel ist", gebe ich zu bedenken. Mama ist egal, was ich finde.
„Du gibst uns bitte früher Bescheid."
„Das entscheide immer noch ich", entgegne ich.
„Ich bitte dich lediglich darum. Ob du dieser Bitte nachkommst oder nicht, kann ich nicht beeinflussen."
„Aha. Okay", antworte ich wortkarg.
„Ich höre, dass du mich verurteilst. Jetzt sei nicht so stur und versetz dich in unsere Lage als Eltern hinein", fordert sie mich auf. „Wir wollen nicht, dass du uns aktiv aus deinem Leben ausschließt. Zumal der Mann, mit dem Ritas Tochter angebändelt hat, ein ganz widerlicher Mensch ist. Sie sagt, wenn sie eher davon erfahren hätte, hätte sie ihre Tochter sicher gewarnt und das hätte sie vielleicht vor ihrer unfreiwilligen Verstrickung in die Machenschaften dieses durchtriebenen Kerls bewahrt."
„Hätte, hätte, Fahrradkette", spotte ich. „Von welchen finsteren Machenschaften sprichst du da überhaupt genau?" Mama verleiht ihrer nächsten Aussage mithilfe eines epischeren Tonfalls mehr Gewicht.
„Das ist eine grausame Geschichte, über die man nicht tratschen sollte", geniert sie sich.
„Über Grausamkeiten tratscht der Mensch besonders gern, das weißt du genauso gut wie ich. Was ist ihr denn jetzt passiert, also Ritas Tochter? Spuck's schon aus."

Meine Mutter hat nur auf ihr Stichwort gewartet. Umgehend posaunt sie heraus: „Also, aufgepasst: Er war zweimal im Gefängnis und verkehrt nach wie vor im Milieu."
Vor lauter Überraschung klappt mein Mund auf und ich fange ein Stück Peperoni auf, bevor mein T-Shirt mit Fett und Tomatensoße besudelt wird. Ich kenne Ritas Tochter, wir sind gleichalt. Sie ist zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber dass sie einem Luden in die Falle geht, hätte ich ihr nicht zugetraut.

„Ach du Scheiße", rutscht es mir raus.
„Ohne deine schmutzige Wortwahl zu befürworten, muss ich dir zustimmen."
„Geht's ihr gut?", bohre ich besorgt nach.
„Körperlich ist sie unversehrt, aber psychisch natürlich völlig am Ende."
„Verständlich. Und sie ist in Sicherheit?"
„Er tritt seine dritte Haftstrafe an, sie haben ihn wegen Anstiftung zur Prostitution festgenommen."
„Du erzählst mir aber nicht gerade, was sie gestern Abend im Tatort gezeigt haben. Das ist tatsächlich passiert, ja?", vergewissere ich mich skeptisch.
„Im Tatort hat ein untreuer Mann seine stille, zurückhaltende Ehefrau mit Gift ermordet. Verbrechen aus Leidenschaft, aber andersherum."
„Danke, das hat mich absolut brennend interessiert", gebe ich zurück.
„Ach, halt den Mund", schnarrt sie unzufrieden. „Na ja, wir wollen jedenfalls hoffen, dass sie ihre Lektion gelernt hat." Mit dieser trockenen Schlussbemerkung ist die Sache für sie offenbar abgefrühstückt. „Bitte richte Marlene liebe Grüße aus, sie soll sich feiern lassen. Was wirst du ihr schenken?"

„Dag und ich haben sie gestern zum Essen eingeladen, das war unser verfrühtes Geschenk, wie abgesprochen."
„Das ist doch aber nichts Handfestes. Schenk ihr vielleicht ein Buch, oder etwas anderes, das ihren Interessen entspricht."
„Marlene und Olli sind Minimalisten, das hab ich dir schon hundertmal erklärt. Warum sollte ich ihr unnützen Kram schenken? Sie mag das nicht."
„Ich verbitte es mir, dass du Literatur so pejorativ als unnütz abstempelst; und ich finde trotzdem, du solltest ihr ein richtiges Geschenk besorgen. Das wäre eine nette Geste."
„Schön, dass du das findest, Mama. Meine Pizza wird übrigens kalt."

„Pizza, das ist ja wunderbar", jauchzt sie unerwartet. „Hast du meinen Quarkteig ausprobiert? Ist er dir diesmal gelungen? Ich habe dir doch gesagt, du musst bloß das Rezept Schritt für Schritt befolgen."
„Äh ...", gebe ich einen ratlosen Laut von mir.
„Aha, Pizza vom Lieferdienst also." Ich sehe sie in meinem Kopf deutlich vor mir, wie sie die Nase voller Verachtung rümpft.
„Ich hatte keine Zeit zu kochen."
„Das ist eine faule Ausrede. Du nimmst sie dir nicht."
„So kann man's natürlich auch ausdrücken", murmle ich.
„Vincent, du solltest häufiger für dich selbst kochen, das ist auf Dauer gesünder. Und umweltschonender!"
„Der Pizzakarton ist aus recyceltem Papier, steht sogar drauf. Soll ich dir ein Beweisfoto schicken?"
„Raufschreiben können sie alles", kontert sie unbekümmert.
„Die Verbraucherschutzbehörde schreitet bei Falschbehauptungen ein", halte ich dagegen.
„Die Verbraucherschutzbehörde deckt auch nicht jeden Betrug auf." Völlig entmutigt fahre ich mir durch die Haare und starre auf meine Pizza. Käse, Peperoni und vegetarische Salami – ein Hochgenuss, der mir nicht länger verwehrt bleiben sollte.

„Lass uns nicht drüber diskutieren, ich bin zu hungrig dafür", bitte ich meine Mutter müde.
„In Ordnung", säuselt sie, doch ein leiser Vorwurf schwingt darin mit. „Ich halte dich nicht länger vom Essen ab."
„Ich melde mich."
„Kriege ich das noch schriftlich von dir?"
„Haha, lustig." Mama seufzt.
„Na gut, mein Sohn, vergiss deine alten Eltern nicht. Viel Spaß mit Dag und Marlene heute Abend. Schau dich auf der Party gut um, und denk dabei an das, was ich dir über starke Bindungen gesagt habe."
„Ja ja. Bis bald, Mama."
„Bis bald, Vincent."

Bis zum Abriss bei Bastian bleiben mir noch zwei gute Stunden. Genügend Zeit also, um die Pizzareste in den Kühlschrank zu räumen, ausgiebig zu duschen und mich anzuziehen. Voller Tatendrang mache ich mich ans Werk. Wie immer läuft dabei Musik. Ohne geht einfach gar nichts bei mir.

In der Küche setze ich mich kurz an den Tisch und zücke mein Handy, um meine Einkaufsliste zu erweitern. Meine Mutter hat mir wieder mal erfolgreich ein schlechtes Gewissen eingeredet. Ich sollte tatsächlich mehr kochen, auf jeden Fall hat sie recht, dass das zu einem gesunden Lebensstil zwangsweise mit dazu gehört. Theoretisch koche ich auch gar nicht ungern. Das Problem ist wohl eher die Aufmerksamkeit, die die Zubereitung eines Gerichts nach Rezeptanleitung erfordert. Hast du die Zutaten nicht richtig abgemessen, ist deine Arbeit bestenfalls fad, aber schlimmstenfalls reif für die Tonne.

Während ich die endlosen Optionen im Internet nach einer brauchbaren Mahlzeit durchforste, ploppt eine Nachricht am oberen Bildschirmrand auf. Olli hat mir geschrieben.

Vincent, ich brauche mal deinen Rat ...

Ich muss grinsen und tripple vorfreudig mit dem Fuß auf dem Boden.

Worum geht's denn?

Tonya will unbedingt so ein Scheiß-Rosa-Plüscheinhorn. Es hat eine Batterie, wiehert und bewegt sich, das volle Programm. Sie ist besessen von dem Teil und redet seit Wochen von nichts anderem mehr. Marlene sagt, wir sollen es für sie kaufen, dabei geht das eigentlich gegen unsere Regeln. Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits kostet dieser pinke Müllhaufen ein kleines Vermögen, andererseits ist Tonyas Gejammer zurzeit auf demselben Level anstrengend wie damals, als sie als Baby gezahnt hat. Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Horror noch aushalte. Nur, verstehst du meinen Zwiespalt, denn: Was für Eltern wären wir, wenn wir ihr das Ding jetzt kaufen? Wir müssen doch Grenzen ziehen, oder was sagst du?

Im ersten Moment will ich ihm empfehlen, auf seine Frau zu hören und Tonya das verdammte E-Einhorn zu schenken. Der Stress, den sie deswegen haben, ist es nicht wert. Doch dann meldet sich das Teufelchen in mir und sein Geschrei übertönt die Stimme der Vernunft.

Steh zu euren Prinzipien, Olli. Deine Tochter dankt es dir in ein paar Jahren und Marlene sowieso.

Meinst du echt?

Er schickt noch eine Sprachnachricht hinterher. Es ist ein Mitschnitt von Tonyas Wehklagen über das Spielzeug, das sie so unbedingt möchte, und ich bin froh, dass ich sie am Smartphone per Knopfdruck leiser heulen lassen kann. In echt geht das natürlich leider nicht. Aber Olli wird es überleben, und ich freue mich schon auf den Gesichtsausdruck von Marlene, wenn ihr Mann wieder mal versucht, seinen Kopf durchzusetzen. Er ist stur und seine Borniertheit wird sie ihm nie austreiben. Sie hat ihm vor dem Standesbeamten das Ja-Wort gegeben, der Konsequenzen sollte sie sich bewusst sein. Ihre Ehe wird diese winzige von mir gesponnene Intrige sicher überleben.

Definitiv. Lass dich nicht in irgendwas reinquatschen. Es ist nur eine Phase, Tonya hört bald auf damit.

Ich gähne, schmatze und erhebe mich. Zeit sich rauszuputzen. Heute Nacht bin ich festentschlossen meine Hand zu schonen.

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