47 - Der Schokoladenkuchen

„Alex, mein Freund", schmatze ich ins Telefon und beiße ein weiteres Mal von der Pizza ab, die Dag und ich uns vor Stunden ins Studio bestellt haben.

„Vincent, es ist halb eins in der Nacht, was ist falsch mit dir?", stöhnt mein Kumpel und ich lache.
„Aufnahmesession!", brüllt Dag hinter mir mit vollem Mund. Auch er mampft die Reste seines Mitternachtssnacks.
„Geht schlafen, seid ihr eigentlich kernbehindert?"
„Dicka, Alex", fange ich wieder an und ignoriere seine Finte. „Ich brauche deine Hilfe. Also ich brauch 'ne Schablone – Du weißt schon, eine wie Sprayer die benutzen, hier, für Graffiti. Und zwar für 'nen Kuchen."
„Vincent, Telefonstreiche sind so tot, bitte such dir ein neues Hobby", knurrt Alex.

„Mann, ey", quengle ich, bevor er auflegen kann. „Lass mich nicht hängen, du musst mir das mal am Computer erstellen, in Photoshop, und drucken."
„Boah, Vincent", unterbricht Alex mich und seine Stimme hat sich verändert. „Wie mega gut du erklären kannst, wie man eine Schablone herstellt."
„Ja, erklär ich gut?", frage ich grinsend und höre Dag hinter mir lachen. „Sch, sei mal leise", ermahne ich ihn.
„Ja", betont Alex langgezogen. „Ja, richtig gut, eins zu eins erklärst du das. Du bist so talentiert, Vincent."

„Dag, hör doch ma' auf zu lachen", werfe ich eine zweite Mahnung über die Schulter, aber Dag kugelt sich längst auf der Couch.
„Vincent", fährt Alex fort. „Du weißt ganz genau Bescheid, wie das geht, weil du klug bist. Du bist klug, Vincent."
„K-l-u-k?", buchstabiere ich im Scherz und Alex lacht kurz.
„Ja, ganz genau. Du kennst dich perfekt in diesem Metier aus", betont er erneut. Dag kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen und steckt mich damit an.
„Alex", sage ich.
„Vincent, du bist so weise, wirklich", huldigt er mir unbeirrt weiter und ich fange langsam an zu begreifen, dass diese Schmeicheleien eine Masche sein könnten. „So ein Großmeister", beteuert Alex, „dass du dir deine Scheiß-Kuchenschablone selbst basteln kannst!", lässt er die Bombe platzen und Dags Lachflash erreicht ungeahnte Ausmaße als er von der Couch auf den Boden kracht.
„Dag, wenn ich den Notarzt rufen soll, dann sei einfach einmal kurz still", fordere ich ihn auf, aber er lacht weiter, weshalb ich mich entspannt wieder meinem anderen Gesprächspartner zuwende: Unserem Freund und Grafiker – Alex.

„Das soll halt am Ende geil aussehen", versuche ich ihn irgendwie doch ins Boot zu kriegen, doch er bleibt stur.
„Dann gib dir Mühe. Marlene soll dir ein Video von Tonya abdrehen, die ist doch inzwischen fünf, oder? – Ein Schritt-für-Schritt-Tutorial. Schritt eins, nimm die Schere in die Hand, Schritt zwei, schnapp dir ein Blatt Papier -"
„Nicht so schnell, in dem Tempo kann ich gar nicht mitschreiben", lasse ich mich auf den Scherz ein und drehe mich auf meinem Bürostuhl um. Ich sollte Dag im Blick behalten, er hat offensichtlich ein bisschen zu viel Gras geraucht vorhin.
„Für so eine Kinder-Kacke klingelst du mich um eins aus dem Bett", knurrt Alex. Ihm ist die Müdigkeit anzuhören und mein schlechtes Gewissen meldet sich.
„Sorry", grummle ich. „Also ich brauche diese Schablone, um -"
„Gute Nacht, Vincent."
„Alex!", schreie ich ihn an.

„Wenn du noch einmal die Stimme erhebst, bin ich endgültig wach. Dann schnappe ich mir die Feueraxt in meinem Hausflur und fahre auf direktem Weg zu eurem Studio", droht er mir.
„Ey, wenn du mir nicht zuhören willst ...", murre ich.
„Ich will dir nicht zuhören, ich will schlafen", stellt Alex klar.
„Bitte", flehe ich, denn mir rennt die Zeit davon. „Ich brauche die Schablone, es ist extrem dringend, Alex; ich weiß, du verstehst das gerade alles nicht, aber es ist ultra wichtig für mich. Guck mal, wir machen das so, du kümmerst dich um die Schablone für mich und bezahl deinen nächsten Geburtstag. Alles auf mich", biete ich an.
„Du bezahlst eine Reise in die Karibik für mich und meine Freundin?", fragt er irritiert.
„Du fliegst an deinem Geburtstag in die Karibik?", frage ich ebenso irritiert zurück. „Auch egal", besinne ich mich. „Ich finanzier dir das dann mit, besprechen wir, sobald ich die Schablone habe", gebe ich nach.
„Yo", macht Alex leise und ich höre ihn seufzen. „Was soll denn draufstehen auf deiner Super-Schablone?"

+

„Und du denkst, die Frau ist das wert?" Er mustert mich skeptisch, als ich am Nachmittag in Alex' Homeoffice stehe und die Schablone beäuge, die er für mich angefertigt hat.
„Ich verstehe, warum sie diese Krise geschoben hat. Ist schon richtig, dass ich mich dafür entschuldige", erwidere ich.
„Das war überhaupt nicht meine Frage", feixt er und zieht spöttisch eine Augenbraue hoch. „Ist die so 'ne Granate im Bett?"
„Du glaubst auch, das ist das Einzige, was mir wichtig wäre in einer Beziehung", schnaube ich abfällig.
„Ach Mann, Vincent." Alex verdreht die Augen. „Du weißt genau, dass du unser Sorgenkind bist, was die Liebe angeht. Nach deiner Ex –"
„Wem?", unterbreche ich ihn trocken und er hebt entschuldigend beide Hände in die Luft. Ich klopfe ihm auf die Schulter. „Spar dir deine Sorgen. Früher oder später lernst du sie kennen, dann siehst du, was ich meine. Danke dir." Ich halte ihm die Faust zum Abschied hin und Alex wünscht mir viel Spaß beim Kuchenbacken.

Ich würde jetzt nicht sagen, dass zwei Eier in eine Fertigbackmischung zu klatschen mir besonders viel Spaß macht, aber letzten Endes stellt auch nicht der Schokoladenkuchen das Problem dar, sondern die pinke Lebensmittelfarbe. Bei der Größe der Schablone brauche ich mehrere Tuben davon.

+

Pink gibt's nur im Set mit Schwarz, Orange und Lila. Die Kassiererin im Rewe guckt nicht schlecht, während sie eintippt, dass ich gern zwölf Packungen von dem Zeug kaufen möchte. Sicher ist sicher. In letzter Sekunde lege ich noch Kaugummi zu der Backmischung aufs Fließband. Mein Vorrat im Auto ist aufgebraucht.

„Geburtstagsparty?", fragt mich die Frau hinter der Kasse überraschend, während ich alles in den Jutebeutel schmeiße, den ich immer im Kofferraum lagere. Sie muss wohl im Alter meiner Mutter sein, trägt ihre blonde Dauerwelle toupiert und ein Eau de Cologne, das der Kunde hinter mir vermutlich auch längst erschnüffelt hat, weil sie ziemlich großzügig damit war.
Ich tippe auf den Rosa-Farbton, der auf der Pappverpackung abgebildet ist, denn das erklärt immerhin, dass ich bloß eine der vier Tuben aus jedem Set brauche.
„Was tut man nicht alles für die Damenwelt", antworte ich der gestandenen Kassiererin und zwinkere ihr schelmisch zu. Sie schenkt mir ein Lächeln.
„Schönen Tag noch", wünscht sie mir.
„Ebenfalls", pfeife ich und laufe federnden Schrittes zu meinem Auto.

+

Das Glück ist auf meiner Seite, es läuft alles nach Plan, abseits von der Müdigkeit, die mich beim Schopfe packt, als ich den Kuchen in den Kühlschrank räume, wo der Schriftzug in der Kälte aushärten darf. Ich nehme mein Handy zur Hand und wähle Charlottes Nummer. Sie nimmt ab, allerdings erst nach dem sechsten Klingeln, sodass ich ihr als erstes gelangweilt ins Ohr gähne.

„Vincent?", fragt sie mich. „Du hast mich angerufen, war das ein Versehen?"
„Nein, kein Versehen", überspringe ich die Begrüßung. „Wann kommst du zu mir?", frage ich sie und räume den Geschirrspüler nebenbei aus.
„Ich arbeite noch, wieso fragst du?"
„Stör ich dich bei irgendwas?"
„Tust du. Was ist?"
„Nichts, ich vermisse dich einfach", gebe ich zurück und stelle fest, dass mich die Kraft nach drei Tellern nun komplett verlassen hat. Gähnend schleppe ich mich ins Schlafzimmer und falle auf mein Bett.

„Du bist wirklich wach, ja?", hakt sie vorsichtig nach. „Das ist kein Bullshit-Anruf im Halbschlaf von dir, mit dem du mich nur vom Schreiben abhalten willst?"
„Ach ja, der Artikel über ...", murmle ich und krame in meinem Kopf nach dem Thema. Sie hat es mir gesagt.
„Mussolini und Hitler – Die Freundschaft der Diktatoren."
„Faschismus, wollte ich gerade sagen", flunkere ich.
„Hier halten sie gleich eine Mitarbeiter-Konferenz ab, war jetzt irgendwas Wichtiges?", fragt Charlotte mich abgehetzt.
„Entspann dich doch mal", rate ich ihr.
„Ich entspanne mich, sobald ich Feierabend habe", entgegnet sie.
„Und wann hast du Feierabend?" Ich ziehe nebenbei die Decke über mich und schließe die Augen, lausche bloß ihrer Stimme.

„Musst du das punktgenau wissen?", fragt sie.
„Nö." Sie lacht.
„Hä? Wieso stellst du Fragen, auf die du keine Antworten brauchst?"
„Weil ich zu Hause bin und mich nach dir sehne, und weil ich eine Überraschung für dich vorbereitet habe."
„Oh, Vince", sagt sie wehleidig. „Ich hasse Überraschungen."
„Eigentlich ist es keine Überraschung", rudere ich zurück.
„Scheiße", zischt sie. „Mein Chef biegt gerade um die Ecke, ich muss auflegen", wimmelt sie mich ab. „Bis nachher."
„Ciao", bringe ich zur Verabschiedung noch raus, ehe ich in einen tiefen, erholsamen Schlaf falle, aus dem mich erst das penetrante Klingeln an meiner Wohnungstür weckt.

Ein Blick auf das Display meines Handys verrät mir, dass es inzwischen Abend geworden ist. Ich wühle mich aus den Decken und Kissen raus und lasse Charlotte rein, die ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen hat. Unter ihrem Trenchcoat trägt sie einen Bleistiftrock, der ihrer Figur schmeichelt und eine dazu passende Bluse sowie graue Kniestrümpfe.
„Tut mir leid, dass ich am Telefon vorhin so unhöflich zu dir war", entschuldigt sie sich bei mir.
„Du warst unhöflich?" Ich kratze mich am Hinterkopf. Davon habe ich kaum etwas mitbekommen.
Sie drückt mir einen kurzen Kuss auf die Lippen und will zur Garderobe laufen, um ihren Mantel dort aufzuhängen. „Erst die Schuhe", erinnere ich sie automatisch, helfe ihr aber aus der Jacke, sodass Charlotte sich eine höhnische Bemerkung verkneift.

„Wo ist die Überraschung?" Neugierig reckt sie den Kopf und linst links und rechts an mir vorbei, nachdem sie ihre Schuhe im Regal verstaut hat.
„Im Kühlschrank", antworte ich wahrheitsgetreu. Charlottes Augen leuchten auf.
„Oh, ist es was zu essen?", fragt sie freudig. „Ich bin so hungrig. In der Redaktion war es dermaßen schrecklich, dass ich überlegt habe, den seit drei Wochen abgelaufenen Joghurt aus dem Kühlschrank in der Kaffeeküche zu essen, den jemand dort vergessen hat."
Angewidert verziehe ich das Gesicht.
„Bäh", kommentiere ich, führe sie währenddessen in die Küche. „Es ist etwas zu essen", informiere ich sie und hole den Kuchen aus seinem Fach. „Wir sollten trotzdem bestellen, es sei denn, der hier und Karotten pur genügen dir zum Abendessen."

Charlotte schlägt die Hände vor dem Mund zusammen und blickt auf den Schriftzug auf dem Kuchen.
„Du bist doch bescheuert", fiept sie und ich lächle zufrieden. „Dankeschön", meint sie leise und küsst mich, diesmal anständig und nicht bloß flüchtig wie beim Eingang. „Das ist aber nicht deine schönste Handschrift", neckt sie mich.
„Ich habe mir erlaubt, deinen Vorschlag von gestern zu verbessern", erkläre ich. „Künstlerische Freiheit und so." Charlotte lächelt sanft.
„Danke, oh du grandioser Künstler." Ich erwidere ihr Lächeln und ziehe sie zu mir ran.
„Tut mir leid, wie blöd ich gestern auf Antonias Witze eingegangen bin. War unfair dir gegenüber", sehe ich meinen Fehler ein. Meine Freundin verdreht die Augen.
„Witze", setzt sie das Wort in imaginäre Anführungszeichen, dann aber bahnt sich das Grinsen erneut seinen Weg auf ihre vollen Lippen. „Du kannst ganz schön romantisch sein", urteilt sie.
„Ich kann", bestätige ich, kann mir darauffolgende Stichelei aber nicht rechtzeitig klemmen. „Ich bin besonders dann romantisch, wenn schöne Frauen sauer auf mich sind."

„Du haust so lange in die Kerbe, bis ich meine Eifersucht ablege", analysiert sie mich. „Das ist dein Plan, stimmt's oder hab ich recht?"
„Das sind die Psycho-Tricks." Ich nicke. „Es ist absolut unabdingbar, dass du weißt, was du an mir hast. Charlotte lässt ihre Hände über die Seiten meiner Oberschenkel gleiten.
„Dein Marktwert ist nicht so hoch, wie du ihn einschätzt", proklamiert sie eine steile These und ich stoße einen empörten Laut aus.
„Ich backe dir einen Kuchen und du sagst mir durch die Blume, dass ich hässlich bin? Ich bin sprachlos", sage ich, während ich ihrem Gesicht immer näherkomme.
„Unter meiner Fittiche bist du sicher aufgehoben", säuselt sie. „Du musst keine Angst vor den anderen schönen Frauen haben, die dich für deine Eitelkeit nur erniedrigen würden."
„Beschützt du mich vor denen?", flüstere ich.
„Wenn eine es je drauf anlegen sollte, werde ich alles zerstören, was ihr heilig ist", verspricht sie und lächelt, bevor sie meine Lippen mit einem weichen Kuss verschließt, der mich schwach werden lässt. Ich brauche keine anderen Frauen, ich brauche nur sie.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top