44 - Tiefe macht alles leichter
Ich bin noch völlig hin und weg davon, dass es jetzt plötzlich passiert ist. Er hat es gesagt, ich habe es erwidert. Vincent und ich haben die magischen drei Worte getauscht. Wenn das Universum einen beschenkt, gebietet das Dankbarkeit, und dieses Gefühl durchströmt mich stärker und lebendig pulsierender denn je.
Vielleicht ist dieses beiderseitige Geständnis aus dem Überschwang entstanden. Ein Ich-liebe-dich als Produkt unserer Sehnsucht nacheinander. Womöglich war das nur ein Moment, kein Für-immer. Aber das ist egal, denn er hat mir im Sommerregen seine Liebe erklärt. Das ist wirklich geschehen, ich habe das nicht geträumt.
Ich wusste nicht, dass das Universum diese Art von Romantik auch für mich reserviert hat. In Wahrheit habe ich nach meiner letzten Trennung ewig angezweifelt, ob sich überhaupt nochmal jemand langfristig auf mich einlassen wird. Tja, und wer kommt da prompt? Vincent Stein tritt in mein Leben und er hat offensichtlich nicht vor, so bald wieder daraus zu verschwinden. Und ich glaube ernsthaft, diese Tatsache könnte mich glücklicher gar nicht machen.
Flink flitze ich die Treppe rauf, ich warte nun schon so lange. Mein Freund ist mir dicht auf den Fersen. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, stelle ich fest, dass er selig meinen Hintern anlächelt. Mit einem hellen Lachen bleibe ich stehen. Vincent stoppt genauso. Er grinst mich frech an, ehe seine Pupillen erneut nach unten wandern.
„Deine liebste Körperpartie von mir?", frage ich ihn mit gesenkter Stimme und ertaste das Geländer, streiche über das abgewetzte Holz.
„Das ändert sich ständig", antwortet er, lächelt und schließt zu mir auf. Er bleibt genau auf der Stufe unmittelbar unter mir stehen und legt seine Hände auf meinen Bauch. Ich fühle seinen warmen Atem in meinem Nacken. Er riecht nach Regen, aber auch nach seinem Parfüm. Oh, dieser Duft.
Ich inhaliere ihn, und die feinen Härchen auf meinen Armen stellen sich sofort auf. Seine Brustmuskulatur drückt gegen meinen Rücken. Während er mich mit sanftem Nachdruck näher zu sich hinzieht, gleitet seine eine Hand hoch und sein Daumen berührt mein nacktes Dekolleté, das der Pullover mit V-Ausschnitt besonders betonen soll. So lautete jedenfalls mein Plan, und der scheint aufgegangen zu sein. „Manchmal gefällt's mir hier besser", flüstert er und seine Lippen kitzeln an meinem Ohr. Sein Daumen hat sich unter den Stoff gemogelt. Und unter die Schale meines BHs. Er umkreist meinen Nippel einmal, womit er mir einen Seufzer entlockt. Statt jedoch fortzufahren, streicht er meine Haare weg von meinem Hals, rutscht mit beiden Händen an meinen Seiten runter und platziert sie links und rechts auf meiner Hüfte. Dabei kippt er sein Becken leicht nach vorn. Seine Lippen berühren mein Schlüsselbein. „Hier ist auch ganz gut", meint er. Ich erwidere nichts greife hinter mich, kriege seine Haare zu fassen und kraule ihn am Kopf, kneife ihn leicht im Nacken und spüre seine wachsende Erregung. Er presst sich gegen mich, und es knistert an den Stellen, an denen wir uns berühren. Ich will nur wieder eins mit ihm sein.
Ein entferntes Geräusch lässt mich aufhorchen, das die intime Spannung zwischen uns stört. Die Haustür, Stimmen, die sich nähern. Ich blinzle und bemerke erst jetzt, dass mein Freund früher geschaltet hat. Er schiebt mich längst weiter die Treppe hoch. Rasch besinne ich mich und hole meinen Schlüssel raus, mit dem ich die Tür zu meiner Wohnung aufschließe. Vincent wirft einen letzten Blick zurück in den Aufgang. Im selben Zug packe ich ihn am Kragen und „bitte" ihn rein, schlinge beide Arme um seinen Hals und küsse ihn hungrig. Die Tür fällt ins Schloss.
Er zieht sich erst seine eigene Jacke aus, dann mir meine. Ich kicke meine Schuhe achtlos beiseite, er tut es mir gleich. Für ein paar Minuten erhöht sich das Tempo, es folgen schnelle, harte Küsse; er hebt mich hoch, trägt mich zum Schlafzimmer, bleibt allerdings im Türrahmen stehen und löst sich atemlos von mir. Etwas irritiert mustere ich ihn aus neugierig funkelnden Augen.
„Alles in Ordnung?", frage ich ihn.
„Ja", murmelt er und blinzelt. „Alles in Ordnung. Aber lass uns ein bisschen langsamer machen, okay? In meiner Hose ist es gerade verdammt eng und ich will nicht, dass das jetzt auf 'ne kurze Nummer rausläuft." Schuldbewusst beiße ich auf die Innenseite meiner Wange. Er hat das Deckenlicht angemacht und direkt gedimmt, Schatten tanzen über sein Gesicht, wenn er sich auch nur ein winziges Stück bewegt, wie jetzt, als er die Lippen schürzt.
„Tut mir leid." Ich hauche einen Kuss auf seine Nasenspitze. „Meine Libido spielt oft verrückt, wenn ich krank war. Ich werde ungeduldig. Aber natürlich hast du recht, ein Quickie passt mir im Grunde genommen auch nicht in den Kram, nachdem ..." Ich streichle seine Wange. Vincent seufzt und ich erschaudere wohlig; wie jedes Mal, wenn er dieses Geräusch von sich gibt. „Oh Gott ...", sage ich und starre die Tür meines Kleiderschranks an. Eventuell lenkt mich das ab. Leider ist ausgerechnet das die Tür mit dem integrierten Spiegel. Wir sehen unendlich heiß zusammen aus. „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich will", flüstere ich.
„Führ mich nicht in Versuchung, Chacha", fleht er und ich schaue wieder ihn an. Mein Atem geht allein davon schneller, denn seine Wangen sind leicht gerötet und das verleiht ihm etwas Unschuldiges. „Ich bin so knapp davor, den romantischen Sex auf später zu verschieben."
„Ich soll dich nicht in Versuchung führen?", kontere ich. In mein Lachen mischt sich ein Hauch Verzweiflung. Vincent küsst mich zart, er knabbert vorsichtig an meiner Unterlippe und tatsächlich zeigt diese neue Verspieltheit Wirkung.
Meine Herzfrequenz senkt sich etwas und ich konzentriere mich hauptsächlich auf das Gefühl von Druck und Gegendruck, dort, wo wir uns in der Mitte treffen. Nur die Empfindung zählt; nicht die Hitze, die in mir kocht. Nach einer Weile steuert er das Bett an und legt mich auf der Matratze ab. Ich habe alles neu bezogen und schwebe in dem frischen Duft, als mein Freund sich über mich beugt und mich hinterm Ohr küsst.
„Das wird immer meine Lieblingsstelle bleiben", gesteht er überraschend.
„Wieso?", frage ich.
„Weil da einfach alles perfekt ist. Deine Haut ist weich und jeder Nanometer riecht nach dir; deine Haare kitzeln mich an der Nase. Und ich kann das hier machen ..." Er leckt darüber, was einen Stromstoß durch meinen Körper jagt. Er lächelt auf mich runter. „Dann zitterst du immer kurz, und ich liebe das." Das war mir bisher gar nicht bewusst, aber es stimmt. Das erklärt natürlich, warum es ihn dauernd dorthin zieht. Nicht nur, wenn wir miteinander schlafen - auch so. Ich nehme sein Gesicht in beide Hände.
„Ich liebe dich", wiederhole ich, was ich ihm vorhin schon auf der Schaukel gebeichtet habe. Seine Mundwinkel klettern noch ein Stück höher.
„Ich liebe dich auch." Er richtet sich mit dem Oberkörper auf und zupft den Pullover aus dem Bund meiner Jeans, den ich modisch reingesteckt hatte. Seine warmen Hände streicheln meinen Bauch. „Wo waren wir stehengeblieben?", murmelt er. „Ladies first?", schlägt er vor und schiebt den Stoff hoch. Ich grinse und Vincent küsst einen Kranz um meinen Bauchnabel. Ich streiche über die Innenseite seiner Unterarme, auf die er sich stützt und fühle, dass er lächelt. „Das kitzelt", informiert er mich. Demonstrativ nehme ich meine Hände weg und er fährt fort mit seinen Liebkosungen
Es ist ein Leichtes, sich fallenzulassen. Normalerweise zögere ich diesen Schritt über die Schwelle so weit hinaus, wie nur irgendmöglich. Doch diesmal habe ich gar keine Lust, die Kontrolle zu behalten. Diese winzigen drei Worte haben etwas mit mir gemacht.
Tiefe macht alles leichter. Es ist ein langer Weg, bis zwei Menschen an diesem Punkt gelangen, aber wir haben es irgendwie geschafft. Vincent hat es geschafft. Da sind keine Ketten mehr, die mich an meine Vergangenheit fesseln; an Betrug, Slut-Shaming, und diesen beschissenen Leistungsdruck, denn gerade muss ich einfach keine Leistung erbringen. Gerade darf ich Charlotte sein, weil er genau das liebt; weil er mich liebt. Und weil ich ihn nie wieder loslassen will.
+
Wir fliegen beide noch. Es ist spät geworden. Aber wir konnten eine ganze Weile kaum voneinander lassen und so ist es jetzt nun mal. Vincent liegt mit dem Kopf auf meinem Bauch. Er sieht an die Decke, aber er ist leer, auf eine gute Weise - tiefenentspannt. Mir geht es ähnlich, ich fühle bloß noch inneren Frieden.
„Nächste Woche geben wir im Studio eine kleine Party", höre ich ihn sagen. „Für unsere Freunde. Ich würde mich freuen, wenn du kommst."
„Gibt's einen konkreten Anlass?", hake ich nach. Vincent gähnt. Ich lasse den Kopf zur Seite fallen und beobachte eine Motte die um das Licht meiner Nachttischlampe kreist. Eigentlich sind mir die Viecher zuwider, doch heute ist es nur ein Nachtfalter, der mit seinen fragilen Flügeln schlägt. Schmetterlingen steht er in nichts nach, wenn wir es mal aufs Wesentliche runterbrechen.
„Ist für alle, die uns mit unserem neuen Album geholfen haben, und für die Menschen, die uns seit Jahren begleiten", holt seine Stimme mich zurück in die Realität, der ich für einen Moment entrückt bin.
„Gut", willige ich ein. Mein Freund richtet sich auf und wuschelt sich durch die Haare.
„Schön", kommentiert er meine Bereitschaft. Er lächelt mich an, beugt sich über mich und küsst mich hinterm Ohr. „Was ist mit Didi, ihrem Lover und diesem Doppeldate?"
„Bald", erwidere ich vage und küsse seinen Mundwinkel, dann streifen seine Lippen kurz meine. „Ich gebe dir Bescheid, wenn sie mir einen Termin vorgeschlagen hat." Er lässt sich neben mich fallen, küsst mich auf die Wange und ich lächle.
„Ich bin alle, Chacha. Machst du das Licht aus?", bittet er mich.
„Na, wenn du das nicht mehr hinkriegst, weil du dich derart verausgabt hast", necke ich ihn.
„Ach, sei leise", nuschelt er.
„Nichts lieber als das." Ich zerzause sein Haar noch etwas mehr. Vincent summt daraufhin unverständlichen Protest. Besänftigend streichle ich seinen Oberarm. Er zieht mich zu sich ran.
„Weißt du, dass du immer seufzt, wenn du endgültig einschläfst?", fragt er mich.
„Was? Ehrlich?"
„Hm-hm. Ungefähr so ..." Er ahmt den Laut nach, was mich schmunzeln lässt. Seine Imitation klingt nicht mal schlecht. „Ich liebe das", fügt er noch schläfrig an. „Ich liebe dich, Chacha."
„Ich liebe dich auch, Vincenzo. Schlaf gut."
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