Im Studio erwartet mich nicht nur ein Haufen Arbeit sowie mein Bandkollege – auch wenn ich den oft zu dem Haufen Arbeit mit dazuzähle. Sina sitzt halb auf Dag und halb auf der Couch, als ich die Bildfläche betrete. Schnell halte ich mir die Augen zu.
„Alle angezogen?", frage ich. „Ich muss nur kurz vorbei und an meinen Schreibtisch."
„Morgen, Dicka, Augen auf. Wir wollen ja nicht, dass du blind stolperst und dich auf die Schnauze packst", erwidert mein Kumpel.
Ich schlage die Lider auf. Mein bester Freund grinst mich an. Sina hat sich übertrieben brav hingesetzt, die Beine über Kreuz, den Rücken durchgedrückt, ein unschuldiges Lächeln auf den Lippen. Ich lache, weil all das nichts daran ändert, dass ihr Lippenstift völlig verschmiert ist und der v-förmige Ausschnitt ihres T-Shirts tiefe Blicke genehmigt. „Gib dir keine Mühe, Cou-Sina."
„Einfach Sina", kommentiert sie ihren Spitznamen verärgert. Dag schmunzelt und legt einen Arm um sie.
„Gib dir keine Mühe, Sina. Er wird nie damit aufhören", lässt er sie wissen und betont ihren Namen dabei besonders. Im nächsten Moment küsst er sie. Anstatt den beiden weiter beim Rummachen zuzugucken, falle ich auf meinen Stuhl und schalte sämtliche Technik ein.

„Diggi, jetzt, wo dich die Muse küsst: Wie weit bist du mit deinem Part?" rufe ich nach Dag.
„Mann, Vincent. Nerv doch nich' so. Ich bin ja dran."
„Ich seh's", erwidere ich, drehe mich mit dem Stuhl um und starre vorwurfsvoll auf seine Hand, die er auf Sinas Arsch platziert hat. Dag schnalzt mit der Zunge, schiebt sie von sich runter, lästert vermutlich leise über mich, denn sie schmunzelt, und erhebt sich letztlich. Als er sich zu mir gesellt, bedeute ich ihm, dass er die Lauscher aufsperren soll. Dann spiele ich den Beat ab, an dem ich seit einiger Zeit im Geheimen gefeilt habe.
„Knorke, mein Lieber", lobt er mich und schiebt noch hinterher: „Schon was getextet?" Ich schüttle den Kopf. Gerade will ich ihm erklären, dass ich aber eine konkrete Idee habe, da unterbricht er mich. „Dicka, ich dachte, du wirst neuerdings auch von der Muse geküsst", spottet mein bester Freund. Ich verdrehe die Augen über seinen Scherz.

„Die Muse will, dass ich ihre Eltern kennenlerne", murmle ich. Dags Augen werden groß.
„Ey, ihr habt doch schon alle Rekorde gebrochen. Müsst ihr das Tempo noch mehr anziehen?"
„Wenn's nur nach mir ginge, würde ich mit der Kennenlern-Scheiße abwarten, das kannst du mir glauben. Aber ich schätze, das ist ihr echt wichtig. Sonst war ich ja immer die treibende Kraft bei allem. Der Vorschlag, was Festes draus zu machen, kam von mir." Ich sauge die Unterlippe zwischen die Zähne.
„Und jetzt wiegt sie sich in Sicherheit", wirft Dag treffend ein.
„Is' ja nich' so, dass sie das nicht dürfte, Alter. Ich weiß nur nicht, ob ich schon bereit bin für dieses Treffen mit meinen zukünftigen Schwiegereltern."

„Ach, komm, Vincent." Mein Kumpel fegt meine Zweifel mit einer Handbewegung beiseite. „Du wolltest direkt die Beziehung mit ihr, da kanntet ihr euch drei Tage. Und du weißt doch, was da alles mit dazugehört. Die Kennenlern-Scheiße halt auch."
„Ja, denkst du, an ihre Familie hab ich gedacht, nachdem ich sie dreimal durchgenommen habe, in der Nacht, in der ich beschlossen habe, dass ich sie zu meiner Freundin machen will?", gebe ich verärgert zurück. Er lacht frech.
„Du bist in emotionaler Hinsicht so 'ne Hohlbirne, unglaublich. Mann, wenn ihre Familie ihr wichtig ist, dann spring über deinen Schatten für sie. Sie wird's dir ja wohl wert sein, so wie du auf sie fliegst."
„Toll. Ich bin ganz versessen drauf", brumme ich.
„Klemm dir deinen Sarkasmus, Junge." Er stützt sich auf der Schreibtischplatte ab und ich werde beim Anblick seiner Arme unwillkürlich daran erinnert, dass am Freitag Kraft- und Kondi-Training auf dem Plan steht. „Vielleicht sind ihre Eltern cool. Charlotte stammt immerhin von den beiden ab", fährt Dag fort.
„Ich stamme auch von meiner Mutter ab, das Argument zieht also schon mal nicht", entgegne ich hartnäckig und öffne meinen Kalender.
„Fahr dein Ego runter. Du nörgelst bloß."

Ich schweige und wende mich dem Monitor zu. Morgen muss ich meine Eltern anrufen und Freitag nach dem Training hab ich theoretisch Zeit. Da könnte ich ihnen Charlotte vorstellen. Eigentlich keine schlechte Idee von ihr, das direkt zu erledigen, nachdem Mama ja letztens noch am Telefon bekundet hat, dass sie die Frau an meiner Seite kennenlernen möchte, bevor ein halbes Jahr vergangen ist. Gar kein Bock auf Stress mit ihr. Wenn ich sie nach nur zwei Wochen mit meiner Freundin bekanntmache, hat sie hoffentlich nichts zu meckern. Ach, Vincent, wem willst du was vormachen? Deine Mutter hat immer Grund zu meckern. Ich stöhne innerlich.

„Gut, meinetwegen", gebe ich klein bei. Dag klopft mir auf die Schulter.
„Sag deiner Freundin, sie kann sich bei mir bedanken." Ich wende mich ihm erneut zu.
„Apropos Freundin ..." Mit dem Kopf nicke ich in Richtung Sina. Dag versteht mich, ich muss die Frage nicht erst stellen. Er lächelt.
„Sie ist witzig, verdammt sexy und wir ergänzen uns ganz gut, denk ich. Ich sollte es auf 'nen Versuch ankommen lassen, meinst du nicht?"
„Klar! Digga, du warst so ein Tropf in letzter Zeit. Das wird deine Laune heben. Außerdem fährt die voll auf dich ab", bestärke ich ihn sofort darin. Er grinst versonnen und sieht zu ihr rüber. Sie schmökert in einem Taschenbuch. Ich erkenne aus der Ferne, dass es Dag gehört, es ist sein Lieblingsroman. Er muss ihr seine Ausgabe geliehen haben. Auf jeden Fall hat er was für sie übrig. „Habt ihr schon ...?", hake ich nach. Er nickt, ohne seinen Blick von ihr zu nehmen.
„War solide."
„Solide?", wiederhole ich belustigt.
„Wir müssen noch unseren Groove finden. Sie steht auf Dirty Talk." Ich lache leise. Dag zuckt die Schultern.
„Mann gewöhnt sich an alles." Er hält mir die Hand hin, ich schlage mit ihm ein und schicke ihn zurück an seinen angestammten Platz auf dem Sofa.

„Streng dein Erbsenhirn an, Bruder!", rufe ich ihm noch hinterher. „Fokus. Sonst müssen wir den Release wieder um hundert Jahre nach hinten verschieben."
„War ja noch nie deine Schuld, wenn das in der Vergangenheit passiert ist. Wer von uns beiden kommt denn immer in letzter Sekunde damit an, dass er noch die und die Kleinigkeit am Beat ändern muss, als ginge es da jedes Mal um Leben und Tod?", kontert er.
„Es geht um gute Mucke oder Kack-Mucke - das ist Leben und Tod. Wenn ich meine Miete nich' mehr zahlen kann, lande ich unter der Brücke und so krass wie du war ich nie Punker. Als Obdachloser würde ich safe abkratzen."
„Und das ist mein Problem, weil ...?"
„Willst du mich verarschen?", erwidere ich lachend. „Du glaubst auch, du findest wieder jemanden, der dein ganzes Leben so für dich durchorganisiert wie ich." Sina blickt auf.
„Ich bin raus", informiert sie Dag unverblümt.
„Da hast du's", sage ich und verschränke triumphierend die Arme vor der Brust.
„Er macht nur Spaß", winkt er ab und küsst sie.
„Lass dich nicht von ihm täuschen, Cou-Sina, er ist alles andere als pflegeleicht", stichle ich weiter und stehe auf. „Könnt ihr euer Rumgelecke kurz pausieren und mir sagen, ob ihr auch Kaffee wollt?" Dag hält lediglich zwei Finger hoch, ohne sich von ihr zu lösen. Ich seufze.
„Alles klar."

Eine Mischung aus Langeweile und Pflichtgefühl treibt mich dazu, einen Blick auf mein Handy zu werfen. Wie immer wollen mehrere Leute, dass ich mich mal wieder bei ihnen melde, teilweise solche, zu denen ich jahrelang keinen Kontakt hatte. Die Kehrseite der Berühmtheit. Doch ein Name sticht mir ins Auge. Antonia. Seit ich sie nach dem Basketballspiel nach Hause gefahren habe, hat sie sich nicht mehr bei mir gemeldet. Also bin ich wahrscheinlich dran. Ein kurzes Scrollen genügt. Jap, unser letztes Chatgespräch liegt länger zurück. Sie wollte wissen, ob wir uns beim Alba-Spiel sehen. Ich frage sie kurz, wie es ihr geht nach der Abfuhr, die sie kassiert hat, und widme mich weiter der Kaffeezubereitung. Allzu weit komme ich allerdings nicht, denn Antonia antwortet schnell.

Mir geht's ganz okay, aber um wieder auf die Beine zu kommen, will ich heute mit meinen Mädels feiern gehen. Bist eingeladen.

Sie ist ein Stehaufmännchen, nicht anders kenne ich sie.

Sorry, ist nicht drin im Moment. Bin mit meiner Freundin verabredet, Filmabend. Sie hat 'ne Bildungslücke in Sachen Star Wars.

Hast du nicht neulich erst noch damit angegeben, wie intelligent die Frau wäre? :P

Sie weiß dafür über andere Dinge besser Bescheid als du.

🖕😂

Lacht da jemand seinen Schmerz weg?

Wenn du Wert auf diese Freundschaft legst, hältst du jetzt besser dein Maul, Vincent.

Ich muss schmunzeln.

Überschmink in Ruhe deine rotgeweinten Augen. Heute bin ich nicht dabei, aber wir sollten auch mal wieder feiern. Da lernst du dann Charlotte kennen. Sie wird dir gefallen.

Wieso werde ich sie mögen?

Ich mag sie. Wir mögen dieselben Leute, schon vergessen?

Deine Ex mochte ich nie.

Die zählt nicht -.-

Was sagt deine Freundin eigentlich dazu, dass du ständig über sie herziehst?

Verärgert sinke ich auf den Stuhl an unserem kleinen Esstisch für zwei Leute.

Über Maria? Denkst du, das mach ich vor ihr? Oder sonst wem?

Nicht?

Nein. Nur wenn ich drauf angesprochen werde. Was in letzter Zeit ziemlich oft passiert ist. Sag mal, was wollt ihr eigentlich alle von mir? Angefangen hat's mit Lenny, dann Dag, und jetzt legst du hier dieselbe Platte auf 🙄 Es nervt.

Okay, deine Rumgezicke zieh ich mir nicht rein. Verträgt sich nicht mit 'nem gebrochenem Herz.

Ich fühle unmittelbar ein Stechen in meiner Brust. Natürlich war es nicht meine Absicht, sie zu verletzen.

Tut mir leid :( Das hab ich nicht bedacht.

Wie kommst du bitte darauf, dass ich dich mit Sprüchen über Maria provozieren will? Ich respektiere deine sensible Seite. Hab ich immer.

Hat nix mit dir zu tun, ist das Thema.

Ist keine Entschuldigung für dein Verhalten. Denk mal drüber nach, warum du dich ständig angegriffen fühlst, wenn's um sie geht.

Kam nicht so gut gerade, ich weiß. Ich mach mir ja Gedanken. Hey, bitte. Kein Krieg. Mach dich fertig und verdreh nachher einem netten Kerl den Kopf. Setz die Hüften ein beim Tanzen :>

Vergeben und vergessen. Ich werde mich hüten, meine Hüfte wird aus Holz sein. Schließlich will ich auf gar keinen Fall einen wie dich :'D

Na, jetzt belügst du dich aber selbst ;)

Riechst du das? Stinkt nach Arroganz.

Mehr nach böser Verleumdung D:

Ich muss E-Mails beantworten, Vince. Manche Menschen gehen ihrem Job nach, weißt du?

Lass dich nicht aufhalten. Wenn du was brauchst, melde dich.

Danke, aber ich komme allein klar :)

Der Kaffee ist durchgelaufen. Ich befülle drei Tassen und kehre zurück zu Dag und Sina, die sich leise unterhalten. Sie hat ihre Hand in seinen Locken vergraben, und er wirkt glücklich, wenn er sie so verträumt anlächelt. Zumindest aktuell. Wer weiß, wie lange das halten wird. Trotzdem bin ich froh, dass er mit Bastians Cousine angebandelt hat und nicht mit dieser Influencer-Schrulle, die ihm seit einer Ewigkeit nachstellt. Luna Irgendwas bescheuertes Torrero, oder wie die heißt. Ich hatte schon Angst, dass sie doch noch mit ihren falschen Wimpern eine ganze Klaviersonate für ihn klimpert, bis er anbeißt.

Man kann sich drüber streiten, ob Sina perfekt für ihn ist. Wobei, eigentlich ist die Antwort ziemlich klar. Nein, ist sie nicht. Dag braucht ein zartes Pflänzchen, um das er sich kümmern kann, und das ist sie garantiert nicht. Na ja, wenigstens für eine Weile wird sie ihn aus seinem Loch rausbefördern. Es gibt nur eine Person, die die Denkmuster meines besten Freundes nachhaltig beeinflusst hat und die noch immer in seinem Kopf rumspukt – Alexa. Beim Gedanken an sie gerät mein Blut in Wallung. Was sie ihm angetan hat, macht mich nach wie vor wütend. Dag ist wahrscheinlich der wichtigste Mensch in meinem Leben, aber das Drama rund um seine allererste Freundin, lässt ihn nicht los. Und ich sehe, dass sich diese schrecklichen Erinnerungen an sie bis heute auf seine Psyche auswirken. Seine zweite Beziehung ist indirekt wegen Alexa zu Bruch gegangen. Als sie dann unter ihm eingezogen ist, dachte ich kurz, aus den beiden wird nochmal was. Und dann war sie einfach schwanger. Von 'nem andern. Maria-Style.