34 - La vie est belle
„Ich habe schon verstanden, dass ihr ganz versessen darauf seid, ihn kennenzulernen, aber bitte geduldet euch", flehe ich meine Eltern über die Freisprechanlage an. „Wir sind noch keinen Monat zusammen."
„Was spielt das für eine Rolle, Lottchen?", fragt meine Mutter gespielt theatralisch. Mit ihren regelmäßigen Spötteleien sorgt sie dafür, dass ich mich selbst nicht allzu ernstnehme. Und dafür liebe ich sie, auch wenn ich ihr hin und wieder die Meinung geigen muss, weil sie zu weit geht. „Du redest so liebevoll über ihn. Wie kannst du es uns da verübeln, dass wir ihn so schnell wie möglich in unserer Familie willkommen heißen wollen?"
„Ich verüble es euch doch gar ni- Mann! Arschloch!", fluche ich über den Idioten, der mir gerade die Vorfahrt genommen hat und in seinem schneeweißen Skoda davonprescht. „Entschuldigt." Ich höre meinen Vater im Hintergrund lachen und ein Schmunzeln legt sich auf meine Lippen. Da zeigt sich wieder – ich bin ganz seine Tochter. Das lautstarke Pöbeln im Straßenverkehr ist nur eine unserer zahlreichen Gemeinsamkeiten. „Also, ich arbeite dran. Ihr werdet Vincent bald kennenlernen. So, außerdem bin ich jetzt da. Genießt weiter euer Frühstück", fahre ich fort.
Ich lenke meinen Wagen in die Tiefgarage und parke neben Freddys Familienvan, den er sich gekauft hat, obwohl ihm die Familie dafür fehlt. Als Ansporn, hat er mir mal erklärt. Didi hat ein paar Schreibtische entfernt wie ein verrücktes Huhn darüber gekichert und ich musste mir jede Häme verkneifen, immerhin wollte ich Freddy nicht beleidigen. Mein Kollege scheint nur nicht zu begreifen, dass dieser Spritschlucker eventuell eher ein Hindernis zwecks Verwirklichung seiner Träume darstellt. Ich für meinen Teil würde nie einen Kerl daten, an dessen fahrbarem Untersatz ich problemlos ableiten kann, dass er unsere Zukunft längst durchgeplant hat. Und ich bin ja offensichtlich Freddys Typ. Wenn ich Vincents Vorschlag in die Tat umsetze und tatsächlich ein klärendes Gespräch mit ihm darüber führe, dass zwischen uns nie etwas laufen wird, könnte ich die Van-Thematik gleich noch in einem Nebensatz erwähnen.
„Viel Spaß auf der Arbeit", wünscht meine Mutter mir zum Abschied. Für einen kurzen Moment habe ich meine Eltern am anderen Ende der Leitung vergessen.
„Den werde ich haben. Kuss. Tschüss, Papa", beeile ich mich zu sagen.
„Tschüssikowski, Lottchen. Wir haben dich lieb." Ich spüre, wie sich ein Lächeln auf meine müden Züge schleicht.
„Ich euch auch. Bye."
Nachdem ich aufgelegt habe, raffe ich meine Tasche vom Beifahrersitz auf und steige nichtsahnend aus. Da rast auf einmal ein Sportwagen in die Parklücke neben meiner. Tillmann. Super. Ich zeige ihm meinen liebsten Finger, lasse mich aber zu keinem Kommentar herab. Er lacht beim Aussteigen. Sein sonorer Tenor hallt von den Wänden des Parkhauses wider.
„Guten Morgen, Charlotte."
„Guten Morgen, Tillmann", erwidere ich und verstelle dabei meine Stimme, damit sie besonders lieblich klingt. Manchmal lässt er mich dann in Ruhe. Leider hat mein Erzrivale seinen Wagen am heutigen Montag bereits per Fernsteuerung verriegelt, joggt an mir vorbei auf den Fahrstuhl zu, und drückt auf den Knopf. Wie immer trägt er Anzug. Ich presse meine rotgeschminkten Lippen aufeinander, als ich neben ihn trete. Kurz muss ich husten, weil der schwere Geruch seines Aftershaves meinen Rachen austrocknet.
„Wie läuft's mit deinen Recherchen zu dieser Influencer-Marke?"
Ganz klar, er will mich aushorchen. Doch ich werde mich hüten, Tillmann auch nur ein unbedeutendes Detail über meine Storys zu verraten. Ich habe in der Vergangenheit mehrfach erlebt, wie er sich den Artikel daraufhin selbst unter den Nagel gerissen hat. Der Mann ist ein Roboter und kennt keinen Berufsethos. Ich weiß nicht, wie er in so kurzer Zeit so viele harte Fakten recherchieren kann – aber er schafft es dennoch. Und ich werde auf keinen Fall riskieren, dass ich wieder eine meiner Reportagen an ihn abgeben muss, weil er Klausen eine detaillierte Gliederung und seriöse Quellen vorlegt, ehe ich mich auch nur oberflächlich in die Materie einlesen konnte.
„Wunderbar", antworte ich knapp und trete hinein in den Silberquader. Tillmann folgt mir. Er zurrt den Knoten seiner Krawatte fest und räuspert sich.
„Schön." Die Türen öffnen sich und wir bewegen uns schweigend nebeneinander auf den Eingang der Redaktion zu. Didi quatscht mit unserer Empfangsdame Claudia. Ich bin froh, dass meine Freundin hier ist und sehe, dass auch ihr Gesicht sich sofort aufhellt, als sie mich erblickt.
„Charles!", ruft sie freudig aus, würdigt Tillmann keines Blickes und hakt sich bei mir unter. Schnell setze ich meinen Weg mit ihr gemeinsam in Richtung unserer Tische fort. Zum Glück arbeitet Tillmann in einer komplett anderen Ecke des offenen Büros. „Freddy hat getratscht –"
Erschrocken unterbreche ich Didi, da mir nur eine Sache in den Sinn kommt, die Tratsch wert sein könnte – die Nummer, die ich an meinem Arbeitsplatz mit Vincent schieben wollte.
„Wem? Nur dir?"
„Natürlich nur mir. Es ist Freddy. Er würde dich nie bloßstellen." Didi sagt es, als hätte mir das von Anfang an klar sein müssen. Dann streicht sie sich eine ihrer seidigen schwarzen Haarsträhnen hinters Ohr. Sie sieht mir intensiv in die Augen und senkt die Stimme. „Ihr hattet Sex? Hier?"
„Didi", jammere ich. „Hatten wir nicht."
„Ach, komm. Napoleon hat noch keine Abhörgeräte installiert, rück schon raus mit der Wahrheit."
„Nein, das ist mein Ernst. Wir hatten hier keinen Sex, weil Freddy wie aus dem Nichts aufgetaucht ist", flüstere ich ihr zu und kundschafte argwöhnisch den Raum aus, während ich meinen Laptop auspacke. Ich will auf keinen Fall, dass neben Freddy und Didi noch mehr Leute davon erfahren. Insbesondere nicht Tillmann, der natürlich auch so seine Freunde in der Redaktion hat. Einer davon, Emilio, hat seinen Schreibtisch keine fünf Meter von uns entfernt. Er ordnet seinen Papierkram. Das sollte ich auch tun.
Mein Blick wandert zu dem dicksten Stapel in der dreistöckigen Ablage. Obenauf liegt mein Notizblock. Ich falle auf meinen Bürostuhl und schnappe mir einen Kugelschreiber aus meinem Stiftebecher. Mal überlegen, was steht heute an?
„Ich frage das, weil ... Ist das eine deiner Fantasien?" Stumm schaue ich meine Kollegin einen Moment lang nur an. Bis sie es kapiert. „Okay, geht mich nichts an", kapituliert sie und lässt sich auf ihrem Stuhl nieder. Genau wie ich.
„Sag mal, hat Jay eigentlich ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern?", frage ich sie, nachdem ich meine To-do-Liste abgefasst habe.
„Wie kommst du denn jetzt darauf?"
„Vincent hat seine Eltern heute Morgen als absoluten Albtraum bezeichnet", berichte ich bedrückt.
„Oh", macht meine Freundin mitleidig. „Weißt du, wieso?"
„Nein, noch nicht." Sie zuckt die Schultern.
„Jays Verhältnis zu seinen Eltern ist okay. Familie ist in seiner Kultur besonders wichtig." Stimmt ja. Jay oder Jalil, wie er eigentlich heißt, ist Libanese.
„Hast du ihn gefragt, ob er deine Eltern kennenlernen möchte?", will Didi wissen. Sie lehnt sich vor lauter Aufregung über den Tisch und der Stoff ihres auberginefarbenen enganliegenden Oberteils, spannt für einen Moment so stark über ihren Brüsten, dass man ihren schwarzen BH darunter durchschimmern sieht. Reflexartig drücke ich sie ein Stück zurück und sie richtet sich wieder auf. „Ups, danke. War was dran an Marlenes Einschätzung?", hakt sie unbeeindruckt weiter nach.
„Er hat jedenfalls nicht direkt zugesagt." Didi zieht überrascht die Augenbrauen hoch.
„Ich möchte hier loslegen", speise ich sie ab und schalte meinen Laptop und meinen stationären Computer ein. Mit zwei Bildschirmen arbeitet es sich einfach besser. „Lass uns später in einer Kaffeepause drüber reden", schlage ich meiner Kollegin noch versöhnlich vor und Didi seufzt. Sie befühlt ihr mit Zirkon besetztes Helix-Piercing und im nächsten Augenblick klappert ihre Tastatur. Auch sie ist ein Fleißbienchen.
Ich habe über mehrere Stunden meine Ruhe, vertiefe mich in die Recherche über Schwindel und Abzocke und werde zwischendurch nur einmal von unserem Chef unterbrochen, der mich um ein kurzes Update über den derzeitigen Zwischenstand bittet. Als Klausen abgedampft ist, taucht Freddy auf.
„Mädels, ich habe gesehen, dass keine von euch sich bisher einen Kaffee gegönnt hat", meint er und stellt zwei Tassen Cappuccino vor uns ab.
„Danke", erwidert Didi höflich. Ich schenke Freddy ein müdes Lächeln. Er wird rot, und mir ist es auf einmal unangenehm. Sofort sehe ich wieder Vincents Gesichtsausdruck im Auto vor mir. Es ist schade drum, denn ich denke, Freddy und ich hätten unter Umständen sogar Freunde werden können. Er ist eine gute Seele. Genüsslich trinke ich einen Schluck von meinem Kaffee.
„Du hast es Didi gezwitschert", sage ich spitz zu Freddy, weil ich das Gefühl habe, ihn damit konfrontieren zu müssen. „Wem noch?"
„Niemandem", gibt er empört zurück. „Außerdem hat sie mich praktisch gezwungen." Er sieht düster zu meiner Kollegin rüber, deren glockenhelles Lachen erklingt.
„Ich habe gemerkt, dass du etwas verbirgst. Aber dass du eingeknickt bist, hast du allein dir selbst zuzuschreiben", unkt sie.
„Tut mir leid, Charlotte", murmelt er.
„Schon okay. Aber wir haben immer noch eine Abmachung", erinnere ich ihn.
+
Erst in unserer Mittagspause setze ich Didi vollständig ins Bild. Wir nehmen unser Business Lunch einmal die Woche im très bon ein, einem französisch angehauchten Café, dreihundert Meter entfernt von der Redaktion. Das Interieur ist ein edler Mix aus Glas und hellem Holz. Der Gastraum erstrahlt im Licht der Sommersonne. Hier drin gibt es jede Menge hängende Pflanzen und an den Wänden wunderschöne Kohlezeichnungen in Sepia, alles Aktmalereien der Inhaberin. Normalerweise sitzen wir gern im Innenhof, an einem der wenigen, begehrten Tische im Herzen des gepflegten, eingezäunten Wildgartens, der zum très bon gehört. Aber heute ist es draußen voll.
Mit wenig Appetit wirble ich meinen Löffel durch die Zwiebelsuppe. Ich habe mich für das Tagesangebot entschieden, wie so oft. Aber wenn ich mir den Kopf über etwas zerbreche, kann ich meist nichts essen.
„Ich mache mir Sorgen, dass ich ihn überfordere, indem ich so darauf beharre, dass er meine Familie kennenlernt", gestehe ich.
„Er wird es dir sagen, wenn ihn etwas stört", behauptet Didi und trinkt ihren hausgemachten Himbeer-Eistee. Die Überzeugung in ihrer Stimme lässt keinen Platz für meine Zweifel. Beleidigt greife ich nach meinem Glas Wasser. So irrational sind meine Überlegungen auch wieder nicht.
„Bisher war ich die Einzige, die Beschwerden vorzubringen hatte", murmle ich.
„Denkst du, er hält etwas zurück?", fragt meine Kollegin nun doch genauer nach. Ich schüttle langsam den Kopf.
„Er ist sehr offen." Didi schnaubt belustigt.
„Warum denkst du eure Beziehung dann tot?"
„Tu ich doch gar nicht", gebe ich empört zurück.
„Tust du wohl. Frag ihn nochmal, warum er zögert. Man muss ja nicht gleich die Flinte ins Korn werfen."
„Vielleicht sollte ich Marlene über seine Beweggründe ausquetschen", präsentiere ich ihr meinen Blitz-Einfall.
„Nein", widerspricht Didi mir scharf. „Das ist 'ne blöde Idee. Die Beziehung führt ihr zwei, und zwar ohne Marlene. Wenn du hinter seinem Rücken Infos über ihn einholst, sendet das ein falsches Signal. Es betont deine Verlustängste. Über die wirst du noch früh genug mit ihm sprechen müssen, aber so sollte er besser nicht davon erfahren. So hinterrücks, meine ich." Sie legt ihre Hand auf meine und streicht mit dem Daumen über meine Fingerknöchel. „Charles, du weißt selbst, dass du zwischenmenschlich nicht sonderlich begabt bist, ich bitte dich also inständig: Hör auf meinen Rat."
Ich seufze tief.
„Dein letzter Rat war verdammt gut", rede ich mir die Option selber schmackhaft. Didi grinst fröhlich.
„Verhält er sich inzwischen weniger egoistisch?"
„Wir haben zusammen Regeln aufgestellt, er hält sich dran." Ich kann mir ein glückliches Lächeln nicht verkneifen. Meine Freundin klatscht in die Hände.
„Ha, Erfolg auf ganzer Linie. Da hast du's", flötet sie. Sie zwinkert mir zu und ich muss lachen.
„Selbstherrlichkeit steht dir nicht", ziehe ich sie auf.
„Oh doch, und wie", kontert sie. Dabei wirft sie ihre Haare über die Schulter zurück und ihr Parfüm weht für den Bruchteil einer Sekunde zu mir rüber. La Vie Est Belle.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top