3 - Boston Creme Berlin

Seit dem Gespräch mit Dag über mein Liebesleben ist eine Woche vergangen. Noch immer spukt mir das Wort „mau" im Kopf herum, das er in den Mund genommen hat, um sich über mich lustig zu machen. Natürlich ist es nur einer seiner blöden Witze gewesen, aber irgendwie legt sich jedes Mal ein saurer Geschmack auf meine Zunge, wenn ich daran denke. Ich scrolle geistesabwesend durch WhatsApp, klicke wahllos auf Profilbilder, bis mir auffällt, dass ich eigentlich bloß meine tausend platonischen Freundinnen nach ihrem Aussehen bewerte. In Schulnoten. Angewidert von mir selbst, sperre ich mein Handy. Der Bildschirm wird schwarz, ich stecke es in die hintere Hosentasche, lehne mich gegen meinen Wagen und pfeife leise.

Es ist windig. Nicht kalt, das auf gar keinen Fall, aber wenn Marlene noch lange braucht, sollte ich trotzdem meine Jacke vom Rücksitz holen und überziehen. Keine Lust, krank zu werden. Steht auch viel zu viel Arbeit ins Haus, als dass ich mir das leisten könnte. Wo bleibt die denn? Aus zusammengekniffenen Augen beobachte ich die Leute, die aus dem Bahnhof rausspazieren. Ein Knäuel aus Menschen schiebt sich durch den Eingang. Die Gruppe löst sich langsam auf, und ich recke den Kopf ein kleines Stück vor. Ist sie das? – Nee, gelbe Jacke; Gelb ist ihre Hassfarbe.

„Vincent!" Erschrocken fahre ich zusammen und drehe mich nach rechts, wo Marlene mich breit angrinst. Sie hat einen Pullover über ihren Arm gelegt und schräg hinter ihr erblicke ich einen kleinen schwarzen Hartschalen-Rollkoffer. „In welche Dimension hast du dich denn bis vor zwei Sekunden noch geflüchtet?" Sie zwinkert mir zu und rüttelt kurz an der Autotür. Ich drücke auf die Fernsteuerung, damit mein BMW sich entriegelt.
„Von wo bist du bitte gekommen?", frage ich sie perplex.
„Aus diesem Donut-Laden da." Sie deutet auf die Filiale einer Kette auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Ich war so unterzuckert, da brauchte ich erstmal einen Snack. Tut mir leid, ich hab dich wohl warten lassen." Schuldbewusst zieht sie die Brauen zusammen. Marlene ist eine 2+, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Genau, die Zwei steht für sie und ihren Ehemann, das Plus für ihre kleine Tochter, meldet sich eine zweite.
„Macht ja nix. Hättest mir aber wenigstens was mitbringen können", foppe ich sie und verscheuche jeden unzüchtigen Gedanken aus meinem notgeilen Hirn.
Marlene lächelt und raschelt mit einer grellorangen Papiertüte, die ich erst gar nicht gesehen habe. Meine Augen werden groß.
„Boston Creme, lass ihn dir schmecken."

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„Du willst auch, dass ich fett werde, oder?", maule ich, bevor ich beherzt in die Kalorienbombe mit Schokoglasur reinbeiße. Vorbildlich reihe ich mich in den dichten Verkehr ein und achte penibel darauf, dass der zuckrige Überguss nicht mit dem Lederbezug des Lenkrads in Berührung kommt. Oder mit einem anderen Teil der luxuriösen Innenausstattung.
„Entschuldige, aber ...", schickt sie voraus. „Was fett?!", pöbelt sie mich dann an. „Was ist denn nur los mit dir? Du siehst doch super aus." Marlene zwickt mich in den Oberarm.
„Au!"
„Machst du überhaupt noch was anderes außer arbeiten und Sport treiben?"
„Nicht wirklich", meine ich unbeeindruckt.
„Ach, Vincent, das ist doch kein Leben", entgegnet Lenny schmatzend. Ihr Donut ist so blau wie das Krümelmonster aus der Sesamstraße. „Ich würde mir ein Bein abhacken, wenn ich dafür nur halb so viele Freiheiten hätte wie du", meint sie grunzend.
„Zwing Olli, sich mehr um Tonya zu kümmern, Problem gelöst", erteile ich ihr einen Ratschlag.
„Das nächste Mal bringe ich sie mit, dann passt du zusammen mit Dag auf meinen Satansbraten auf, und ich mache mit meinen Mädels einen drauf", flötet sie unbeeindruckt.
„Da bist du bei mir an der falschen Adresse", erwidere ich. „Dag ist der, der auf die Kinder anderer Leute aufpasst. So blöd bin ich nicht."
„Wie soll das werden, wenn du mal eigene Kinder hast?", fragt sie seufzend.
„Das ist 'ne ganz andere Geschichte."
„Oho." Marlene grinst. „Hört, hört. Na dann, finde erstmal die Frau, die dich auf Dauer aushält und freiwillig ihren Körper hergeben würde, um dir deine nervigen Kinder zu gebären."
„Na, danke auch. Bei dir klingt das, als wäre ich ein wandelnder Albtraum", erwidere ich lachend und hoffe, dass ich nicht so verletzt dabei klinge, wie ich es innerlich bin.
„Du weißt doch, dass ich dich nur verarsche." Sie mustert mich schief. Okay, also hat sie's bemerkt. „Mann, das Thema Liebe beschäftigt dich wohl aktuell wieder, was?", bestätigt sie mir meinen Verdacht gleich im nächsten Augenblick.

Ich zucke die Schultern.
„Vielleicht nicht gleich Liebe, aber irgendwas Intimeres wär' schon ganz geil", gebe ich zu. Marlene schnaubt neben mir.
„Hast du vor, dich wieder wahllos durch die Gegend zu vögeln, wie nach der Trennung von Maria?" Empört schnappe ich nach Luft.
„Wahllos war das nie", stelle ich klar. „Ich bin nicht komplett anspruchslos mit jeder Frau ins Bett gehüpft."
„Nicht mit jeder, aber wahrscheinlich mit jeder zweiten", provoziert sie mich.
„Das stimmt nicht", murmle ich ernst. „Hör schon auf damit."
„Entschuldige ...", nuschelt sie schuldbewusst. „Spukt dir Maria immer noch im Kopf rum?"
„Maria ist für mich gestorben", gebe ich finster zurück.
„Nicht jede ist so eine, Vince. Du kannst Frauen nicht für den Rest deines Lebens misstrauen."
„Will ich ja auch gar nicht", gebe ich verärgert zurück.
„Na, dann lass es doch. Wenn du unglücklich bist, wieso nimmst du dir nicht die Zeit und ziehst dir endlich diesen faulen Zahn? Lern eine kennen, aber nicht oberflächlich. Such dir eine Nette aus und mach's richtig. Und nicht wieder so husch-husch, wie in den letzten Jahren."

„Eine Nette?", frage ich sie und werfe ihr einen schelmischen Seitenblick zu. Sie verdreht die Augen.
„Schön. Wenn du dein Problem nicht ernstnimmst, dann muss ich das auch nicht."
„Mein Problem?", hake ich interessiert nach.
„Liebe wächst nicht auf Bäumen. Die richtige Frau für dich wird nicht sanft runter in deine Arme segeln, sobald die Zeit reif ist. Wenn du etwas willst, musst du dich anstrengen, um es zu bekommen."
„Jede Frau, die ich treffe, kennt mich längst, oder sie glaubt zumindest, mich zu kennen. Du hast keine Ahnung, wie das ist. Dieser ganze Blödsinn ist nichts weiter als eine absolut unnötige Verschwendung meiner knapp bemessenen Zeit. Nein, danke. Die Nerven, die mich das kostet, hebe ich mir für die Leute auf, die mir im Studio auf der Nase rumtanzen wollen", gebe ich gereizt zurück.
„Dann scheiß meinetwegen auf Beziehungen, aber steh wenigstens dazu und werd' ohne auch glücklich", trotzt Marlene mir.
„Ja, ja, ist eh nur 'ne Phase", tue ich es ab. „Momentan fällt's mir schwerer als sonst, ohne klarzukommen."
„Du könntest dagegen steuern, wieso bist du so stur? Mit deiner Ex lief es ziemlich beschissen, ich verstehe also vollkommen, dass du vorsichtig geworden bist. Alles, was ich dir sagen will ist, dass Beziehungen auch ganz anders sein können. Erinnere dich an die guten Dinge und konzentrier dich auf die Hoffnung. Du kannst natürlich auch weiter den Miesepeter spielen, wenn dir das lieber ist."
„Ich bin echt scheiße pessimistisch geworden, was diesen Dating-Kram angeht, oder?" Nachdenklich zerkaue ich meinen letzten Bissen Donut und reibe mit der Serviette die klebrigen Reste von den Fingern.
„‚Eine absolut unnötige Verschwendung meiner knapp bemessenen Zeit'", äfft Marlene mich nach. „Hardcore-pessimistisch", nickt sie dann ernst. Mit einer Hand fahre ich mir durchs Gesicht und setze den Blinker, als wir an einer Kreuzung halten.

„Du hast ja recht, danke. Ich reiß mich am Riemen", verspreche ich.
„Freut mich, wenn ich helfen konnte. Willst du noch einen Donut? Du arbeitest so viel, es würde mich nicht wundern, wenn das heute deine erste Mahlzeit gewesen wäre." Ich halte zwei Finger hoch.
„Es war die zweite heute. Iss du den mal ruhig auf. Ich fall garantiert nicht vom Fleisch, keine Sorge, ich hab schon wieder anderthalb Kilo zugenommen", erwidere ich.
„Wo denn?", fragt sie. „An den Oberarmen?" Ich lächle. Es ist irgendwie lieb von ihr, dass sie das sagt.
„Findest du nicht, meine Oberschenkel sehen fett aus?"
„Du bist schlimmer als diese Diät-Fanatiker. Im Ernst, du siehst doch klasse aus. Abgesehen davon gibt es echt Wichtigeres im Leben." Ich schüttle bloß lachend den Kopf.
„Wenn du denkst, ich seh gut aus, dann warte ab, bis du Dag siehst. Der ist in der Form seines Lebens, sach ich dir."

+

Passend zum Gesprächsthema sacken wir Dag in der Nähe vom Potsdamer Platz ein. Er war trainieren und ist dementsprechend komplett durchgeschwitzt. Am liebsten würde ich ihn zwingen, sich die Fleecedecke aus dem Kofferraum zu schnappen und sie auf die Rückbank zu legen, bevor er einsteigt. Aber dann bemerke ich, wie merkwürdig dieser Gedanke ist. Wahrscheinlich hat Dag mit seinen Sticheleien recht und ich ticke nicht ganz richtig. Der Sauberkeitsfimmel wurde mir vererbt: Danke, Mutti.

„Lenny!", grölt Dag, während er es sich hinten im Wagen bequem macht.
„Dagi!", johlt Marlene. Ich halte mir die Ohren zu und brülle am lautesten von allen: „Seid ihr dann fertig mit eurer Begrüßung?!" Der Schock, der sich auf Lennys Gesicht abzeichnet, bringt mich automatisch zum Lachen.
„Dicka, du bist so ein Kind." Dag lacht und umfasst mit beiden Händen die Kopfstützen der Sitze links und rechts. Na, immerhin hat er Deo benutzt. Marlene sieht sich nach ihm um.
„Du musst den mehr einsingen lassen im Studio. Das hält ihn hoffentlich das nächste Mal davon ab, seinen Freunden das Trommelfell rauszupusten."
„Oh, das tut mir leid, Lenny", spiele ich den Besorgten. „Alles in Ordnung? Sollen wir uns auf dem Weg zum Hotel lieber anschweigen, damit dein Trommelfell nicht noch schlimmer strapaziert wird?" Marlene zeigt mir den Mittelfinger und ich lache, drücke aufs Gas und fädle mich erneut in den regen Berliner Verkehr ein.
„An hohe Mädchenstimmen wie deine bin ich gewöhnt, Vince, Tonyas Freundinnen sind oft bei uns zu Hause." Dag kichert hinter vorgehaltener Hand über Marlenes Spitze. Ich trage eine geschockte Grimasse zur Schau und wechsle die Spur.
„Jetzt hast du meine Gefühle verletzt."

„Okay." Dags Hand landet auf meiner Schulter. „Ich schlage vor, du schmollst, und du", wendet er sich an Lenny, „erklärst mir, was gleich passiert. Wir gehen schon zusammen was essen, oder?"
„Klar, ich würde dich doch nie verhungern lassen." Sie krault Dag am Kinn. „Du riechst nach Bergamotte." Er duckt sich weg.
„Ey, das kitzelt", beschwert er sich. „Und klar rieche ich gut, dank der Chemiekeule, die sie Deo getauft haben." Marlene lacht.
„Wir schlagen uns zu dritt den Bauch voll, sobald ich eingecheckt habe", geht sie auf seine Frage ein, „aber später bin ich noch verabredet."
„Wen triffst du?", hakt Dag nach.
„Eine gute Freundin von mir. Ihre Kollegin und ich wollen sie überraschen. Sie schuftet wie ein Pferd, und manchmal vergisst sie, dass soziale Interaktion im Leben mindestens genauso wichtig ist." Im Rückspiegel sehe ich, wie Dag zu ihren Worten nickt.
„Ist ja echt süß von euch", kommentiert er. Marlene wirft die Haare zurück.
„Super süß. Sagt mal", überlegt sie, „hättet ihr was dagegen, wenn ich die beiden morgen zur Party mitbringe?" Sie sieht mich an, also antworte ich: „Bastians Tür steht immer offen für hübsche Frauen. Sollte kein Problem sein."
„Perfekt."

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