Mit schiefgelegtem Kopf linse ich durch die großen Fenster in die gemütliche Trattoria, vor der wir stehen. Vincent hält meine Hand, und ich streichle mit dem Daumen über seinen Handrücken. Völlig selbstverständlich. Besser ich stutze meinen Gedanken die Flügel, bevor sie noch den ganzen Abend wie Aasgeier um die beunruhigende Tatsache kreisen, dass ich meinen neuen Freund vor nur knapp einer Woche auf einer Party kennengelernt habe. Ich habe so schnell Gefühle für diesen Mann entwickelt, in denen ich bis zum Hals versinke, und das nach wenigen Tagen – das ist beängstigend. Und wunderschön.
Ich lasse Vincents Hand los, räuspere mich und sehe zu ihm auf. Er hat eine Augenbraue leicht spöttisch hochgezogen und die Andeutung eines feinen Grinsens umspielt seine Lippen. Momente wie diese, in denen ich ihn einfach nur anschaue, hat es inzwischen schon oft gegeben und jedes Mal bekomme ich eine leichte Gänsehaut davon. Ich bin so verliebt, dass es mich beinah nervös macht, denn mir ist es verdammt ernst mit ihm. Hoffentlich verbrenne ich mir nicht die Finger.
„Was ist?", fragt er mich vorsichtig.
„Willst du nicht doch lieber zum Chinesen?", stelle ich ihm eine harmlose Gegenfrage. Vincent lächelt und ich meine, in seinen Augen zu erkennen, dass er minimal verunsichert ist.
„Ich erwarte nicht von dir, dass wir uns wie Susi und Strolch Spaghetti teilen", antwortet er jedoch in gewohnt schelmischer Manier. „Ohnehin, drei Abende hintereinander Pasta kann doch bloß ungesund sein." Er legt mir locker einen Arm um die Schultern und ich mustere ihn abschätzig.
„Das fällt dir jetzt ein, wo wir vor dem Restaurant stehen?" Ich fege seinen Arm von mir runter und er kann sich das Augenrollen nicht verkneifen, lässt mich aber los und zuckt die Achseln.
„Guck mal ..." Scheinbar hat er meinen Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, jedenfalls wendet er sich mir zu, legt seine Hände von beiden Seiten an meine Taille und zieht mich zu sich. Den eindringlichen Blick, den er mir schenkt, fange ich auf, und sofort beginnt mein Herz wie wild zu klopfen. „Sag mir, was du essen willst und wir gehen dahin. Alles auf meine Rechnung." Ich umfasse seine Unterarme und lächle. Er kann wahnsinnig romantisch sein.
„Lass uns einfach eine Pizza bestellen", schlage ich vor. „Da drin sieht's nett aus und ich fange langsam an zu frieren." Vincent mustert mich von oben bis unten. Ich trage bloß ein schwarzes, enganliegendes Tanktop mit tiefem Rundausschnitt und eine dazu passende, ebenfalls schwarze Hose, die ursprünglich mal zu einem Hosenanzug gehört hat, dessen andere Bestandteile ich dem roten Kreuz gespendet habe. Meine Füße stecken in komfortablen weißen Sneakers, dafür habe ich nebst meinen üblichen zurückhaltend eleganten Ohrsteckern heute zur Feier des Tages sogar meine einzige Kette aus meinem Schmuckkästchen gekramt. Ich wollte hübsch aussehen und ein paar zusätzliche Karat können da nie schaden.
Vincent lehnt seine Stirn gegen meine. Ich lächle, als er tief einatmet und der Griff seiner Hände um meine Taille sich verstärkt. Kurz schließe ich die Augen und lasse meine anderen Sinne dominieren. Der Hauch Parfüm, den er aufgelegt hat und der sich damit vermischt, verleiht allem eine herbsüße Note. Ich fühle seinen warmen Atem auf meinen Lippen und spüre seinen Körper, gegen den ich mich wie von allein drücke. Als er mich küsst, merke ich wieder, dass ich süchtiger danach gar nicht sein könnte. Er hetzt mich nicht und er küsst weder verklemmt noch primitiv; er küsst einfach gut. Wirklich gut ... Mir entwischt ein leises Seufzen, als er von mir ablässt und ich umschlinge seinen Nacken mit beiden Händen, will mich noch nicht aus dieser Umarmung lösen. Ich glaube, Vincent weiß, welche Wirkung er auf mich hat. Vielleicht ist das schlecht. Aber solang er das nicht zu seinem Vorteil ausnutzt, ist es kaum mehr als ein neutraler Fakt.
Drinnen ist das Ambiente ein ganz anderes als die schlichte Fassade von außen erahnen lassen würde. An die großen, bordeauxrot gestrichenen Wände des rechteckigen Gastraums mit den hohen Decken hat man prunkvolle Kandelaber im Florentiner Stil angebracht. Der noch eindeutigere Blickfang aber sind die selbstgebauten Trennwände zwischen den Tischen. Sie sind aus Hohlstein gemauert und in jeder Aussparung liegt eine Weinflasche, fast wie in einer Bienenwabe. Wein war offensichtlich die Hauptinspiration der Innenarchitekten, denn er rankt sich an den Rebstöcken neben einer Bacchus-Statue aus Kalkstein aufwärts. Ich bin heilfroh, dass das Licht gedimmt ist. Wenigstens in meiner Fantasie dürfen diese Kletterpflanzen echt sein.
Die Pizza Caprese in dem schmucken Restaurant ist lecker, das muss ich Vincent lassen. Das Essen hat keinen bitteren Beigeschmack für mich. Obwohl er höchstwahrscheinlich jede willige Frau hierhergeschleppt hat – gemessen daran, dass seine ehemalige Wohnung sich gleich um die Ecke befindet, wie er mir auf dem Weg hierher erzählt hat. Die Kruste knackt, als ich in die Pizza hineinbeiße und der Büffelmozzarella zieht Fäden, aber das stört mich nicht. Der Geschmack von Tomaten und Oregano hüllt meinen Gaumen ein und ich muss unwillkürlich lächeln, weil es schön ist, mal wieder auswärts zu essen. Ich habe mir schon lange nicht mehr beim Italiener den Bauch vollgeschlagen, und dann auch noch in schicken Klamotten und männlicher Begleitung. Mir war gar nicht bewusst, dass ich das so genießen kann.
Vincents Gesellschaft trägt aber auch einiges zu meinem allgemeinen Wohlbefinden bei. Wir sind beim Thema Freundschaften hängengeblieben. Er hat mich gerade gefragt, wieso ich Marlene nahestehe.
„Ich bin nicht sonderlich wählerisch bei Menschen und komme mit den meisten gut ins Gespräch", beginne ich. „Aber bei Marlene war direkt eine andere Art von Sympathie da. Um mich auf das Interview mit ihr vorzubereiten, hatte ich alles von ihr gelesen. Als wir uns dann in dem kleinen Café in Hamburg getroffen haben, in das wir noch heute manchmal gehen, wenn ich sie besuche, habe ich erfahren, dass sie, seitdem sie ihre Bestätigungsmail für unseren Termin an mich verfasst hatte, auch nicht untätig war. Sie hat sich für meine Artikel interessiert und mein gesamtes journalistisches Resümee durchforstet, noch bevor wir uns das erste Mal persönlich die Hand schütteln konnten. Ihre schnelle Auffassungsgabe hat mich massiv beeindruckt. Wir haben den ganzen Tag miteinander verbracht, obwohl ich für das Interview nur zwei Stunden veranschlagt hatte. Es war Freundschaft auf den ersten Blick." Grinsend trinke ich einen Schluck Wasser und stelle das Glas wieder auf dem Tisch ab. Vincent nickt zu meinen Worten.
„Sie filtert echt fix aus dem, was man zu ihr sagt, das Wesentliche heraus", bestätigt er. „Außerdem bleibt sie an dir interessiert. Zwei Menschen leben sich oft auseinander, aber ich glaube, bei Lenny ist noch keine Freundschaft auf die Art in die Brüche gegangen. Sie wohnt in Hamburg, Dag und ich wohnen hier, und trotzdem meldet sie sich regelmäßig bei uns. Wenn ich extrem gestresst bin, rufe ich sie manchmal an, um mit ihr darüber zu reden und sie nimmt sich trotz Olli und Tonya Zeit."
„Absolut, Marlene ist eine treue Seele ... Hast du oft Stress?" Vincent schüttelt den Kopf.
„Wir haben kaum Druck, sind ja unsere eigene Plattenfirma. Ich überarbeite mich nur manchmal, weil ich mir mehr aufhalse als nötig wäre. Und ich bin Perfektionist. Hin und wieder muss ich mich zur Kritikfähigkeit zwingen, ich reagiere allergisch darauf, wenn mir einer reinredet. Aber am Ende geht's eben darum, das beste Ergebnis zu erzielen, und ohne Dag wäre ich da ziemlich aufgeschmissen. Sag's ihm nicht, davon bläht sich sein Ego bloß noch weiter auf, aber ab und an hat er echt gute Ideen."
„Ihr mögt euch wirklich, hm?", frage ich ihn. Vincent zuckt die Schultern.
„Er ist mein bester Freund. Ohne ihn wäre ich nicht, wo ich heute bin, und umgekehrt verhält es sich genauso. Dag hat mir durch alles im Leben geholfen, was scheiße war – jede Auseinandersetzung mit meinen Eltern, meine erste Trennung, die letzte Trennung, Ärger mit Freunden ...", zählt er auf. „Durch einfach alles. Ich würde ihm blind vertrauen."
„Das ist schön." Ich lächle versonnen und Vincent legt den Kopf schief.
„Fehlt dir so jemand in deinem Leben?" Ich tupfe mir mit der Serviette über den Mund, tippe gegen das Rotweinglas auf dem Tisch. Er versteht den Wink, nimmt sein eigenes in die Hand und wir stoßen an.
„Es fehlt mir an nichts, ich bin mir selbst genug", gebe ich mich selbstherrlich.
„Ach was", kommentiert er trocken.
„Keine Sorge, ich habe mir im Laufe der Jahre ein stabiles soziales Auffangnetz gesponnen." Mein Gegenüber lacht amüsiert auf. „Was?", frage ich ihn ebenfalls lachend.
„Nichts, du klingst bloß wie jemand, der gar kein Mensch ist, sondern bloß einen spielt. Als müsstest du erst noch rauskriegen, wozu Menschen überhaupt Beziehungen aufbauen." Ich schaue ihn aus großen Augen unschuldig an.
„Bin ich überzeugend?" Vincent grinst und lehnt sich über den Tisch vor.
„Wer ist dein bester Freund oder deine beste Freundin?"
„Marlene", antworte ich wie aus der Pistole geschossen. „Gefolgt von Didi."
„Deiner Kollegin?", hakt er nach.
„Die, mit der ich morgen wegfahre, ja. Du müsstest sie auf der Party gesehen haben, auf der wir uns kennengelernt haben. Schwarze Haare bis zum Po, schlank wie ein Streichholz –"
„Ich hatte nur Augen für dich", unterbricht er mich. Geschmeichelt fahre ich mir mit den Fingern durch die blonden Haare. Er beobachtet mich dabei und seine Augen funkeln im Kerzenlicht.
„Du warst besoffen", stelle ich klar.
„Deswegen war ich ja auch so froh, als du am nächsten Tag noch genauso hübsch warst wie in meiner verschwommenen Erinnerung."
„Du bist ein Schleimbolzen", sage ich, kann mir das glückliche Grinsen aber nicht verkneifen.
„Zurück zum Thema: Du kommst also gut allein zurecht und bist auf niemanden angewiesen", wiederholt er meine Halbwahrheit von vor einer Minute. Ich muss zugeben, mich stört der Tisch zwischen uns in diesem Moment, ich wäre ihm gern näher, will ihn berühren. Diesen Spruch von wegen Vorfreude sei die schönste Freude, habe ich noch nie verstanden. Vincent sieht mich aus seinen braunen Augen an und ich ziehe die Unterlippe zwischen die Zähne. Man redet auf Dates mit dem neuen Freund nicht über seine Ex-Freunde, aber ich fürchte fast, ich muss das sofort hinter mich bringen ... Doch heute lasse ich zu meiner Schande meine Feigheit gewinnen.
„Na ja ...", beginne ich vorsichtig. „Ja, ich bin mit mir selbst im Reinen. Das heißt trotzdem nicht, dass ich mich dauernd über meine Eigenständigkeit profiliere. Besonders dann nicht, wenn ich in einer Beziehung bin." Vincent schenkt mir ein Lächeln und ich fühle mich dadurch automatisch besser.
„Nachvollziehbar", geht er auf mich ein. „Eine Beziehung ist immerhin eine Sache zwischen zwei Leuten. Ganz oder gar nicht." Ich nicke und mir wird warm ums Herz. Natürlich bilde ich mir was auf meine Unabhängigkeit ein, aber ich bin keine Einzelkämpferin. Meinen Alltag meistere ich problemlos. Krisen hingegen bewältige ich ohne Unterstützung eher schlecht. Er hat es verstanden und er urteilt nicht darüber.
„Ich finde, ab einem bestimmten Punkt geht alles was dich umtreibt auch deinen Partner etwas an", sage ich und reduziere meinen Standpunkt somit auf seinen Kern.
„Ich finde, das ist von Anfang an so", erwidert er ernst.
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