20 - Vincent kann nicht zählen

„Ew, was ist denn mit dir los?", fragt Didi mich schockiert. Wir stehen beide am Kaffeevollautomaten in der Redaktion, den unser Chef großzügig mitfinanziert hat. Ganz uneigennützig versteht sich.
„Was soll mit mir sein?", entgegne ich fragend und streiche mir eine blonde Haarsträhne hinters Ohr.
„Du strahlst und es ist Dienstagmorgen. Sonst hasst du Dienstage doch auch, so wie jeder normale Mensch. Außerdem steht gleich unser Meeting an, wo Napoleon seinen Schlachtplan für die Woche vorstellt und labert und labert, bis wir alle einschlafen und er uns dafür rechtmäßig zur Schnecke machen darf. Hat jemand deine Mundwinkel da oben festgetackert?" Didi lehnt sich vor und will mein Gesicht inspizieren. Geschickt weiche ich ihr aus.
„Hey, du weißt, ich mag es nicht, wenn man mir so nah kommt", erinnere ich sie.
„Ich weiß auch, dass du die Dienstage hasst wie die Pest, aber vielleicht ist heute ja Gegenteiltag." Sie zuckt die Achseln und drückt auf das blinkende Knöpfchen für den doppelten Espresso.
„Ist es jetzt verboten, gute Laune zu haben, oder was?", spotte ich, nehme mein Latte-Macchiato-Glas aus der Maschine und greife nach der Sirupflasche in der Geschmacksrichtung Cookie. Manchmal bin ich eine Naschkatze, nicht oft, aber heute ist einer dieser Tage. Die Energie, die mir gestern im Laufe der Nacht abhandengekommen ist, muss ich mir heute schließlich irgendwie zurückholen. Beim bloßen Gedanken an den Abend mit Vincent muss ich schon wieder grinsen.
„Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Charles", quengelt Didi ungeduldig.
„Okay", gebe ich nach. „Kommst du mit zu meinem Schreibtisch? Dann erzähle ich dir alles." Meine Kollegin nickt eifrig und schnappt sich ihre Tasse. „Schnell", hetzt sie mich, drückt mir ihre Hand fest in den Rücken und schiebt mich vorwärts.

Wenige Minuten später, sitzen wir in meinem Papierchaos und ich sage mit gesenkter Stimme: „Das ist noch nicht spruchreif, also erzähl es bloß nicht rum." Didi schnalzt ungeduldig mit der Zunge. „Also", beginne ich. „Vincent war gestern bei mir und wir haben ... den Abend miteinander verbracht."
„Ihr habt miteinander geschlafen?!"
„Psst! Mann, Didi ..." Ich sehe mich im Büro um, aber niemand schenkt uns Beachtung.
„Was zur Hölle?", fragt meine Freundin flüsternd. „War das nicht erst euer zweites Date oder so?"
„Na und?", erwidere ich. „Wozu soll ich denn jemanden daten, mit dem es im Schlafzimmer nicht passt?"
„Na ja, aber man lernt sich doch erstmal kennen, baut ein Vertrauensverhältnis auf und landet nicht gleich in der Kiste", widerspricht Didi mir leise.
„Ich wusste schon, als ich ihn das erste Mal getroffen habe, dass ich ihm ausreichend vertraue, um es mal mit ihm zu versuchen", erkläre ich. Didis Kinnlade klappt mechanisch nach unten.
„Er ist doch kein Versuchskaninchen!"
„Männer sind alle wie Kaninchen, wenn's ums Ficken geht", scherze ich.
„Charles!", ruft Didi anklagend.
„Das war bloß ein Scherz", sage ich lachend. Der Latte Macchiato schmeckt himmlisch, draußen scheint die Sonne und ich bin so zufrieden wie seit langem nicht mehr.
„Wie oft habt ihr denn ...?", fragt Didi vorsichtig.
„Ach, ein paarmal", meine ich schmunzelnd.
„Und wie ist er so?" Trotz ihrer Beteuerungen, dass Sex etwas Besonderes und Heiliges in einer Partnerschaft ist, ist sie neugierig. Ich kenne sie.
„Na, was denkst du denn, wo meine gute Laune herrührt?", stichle ich. Didi schluckt aufgeregt. „Ich würde nicht sagen, dass es der beste Sex war, den ich je hatte", fahre ich fort. „Aber er spielt auf jeden Fall weit oben in der ersten Liga mit."

„Die Damen", unterbricht uns Napoleon plötzlich. Er deutet auf die gläserne Doppeltür, die in den Konferenzraum führt. „Sie können ihr Kaffeekränzchen nachher fortsetzen. Um welchen Fußballspieler ging's denn?", fragt er schnippisch.
„Oh, es ging um einen ganz anderen Sport", erwidere ich und lächle zuckersüß. Didi verschluckt sich an ihrem Espresso und hustet.
„Frau von Föhrden, wird's wohl gehen, oder sollen wir Ihnen einen Notarzt herbestellen?", fragt unser Chef trocken. Didi unterdrückt den Reiz und schüttelt den Kopf, wobei sie rot anläuft. Sobald Klausen weg ist, pruste ich los. Meine Freundin bearbeitet meinen Arm mit vier oder fünf festen Hieben, bis ich aufhöre.
„Das war gerade alles deine Schuld!", zischt sie.
„Ich konnte ja nicht ahnen, dass du dich so verschlucken würdest, bei dem blöden Kommentar", meine ich und hake mich bei ihr unter. Zusammen betreten wir den vom Rest der Redaktion abgetrennten, schalldichten Glasquader und setzen uns auf unsere angestammten Plätze.

„Du bist eine olle Schnepfe", beleidigt Didi mich altmodisch. „Jetzt zier dich nicht und liefere mir die Details. Wie groß?"
Ich lache laut auf und unser Kollege Freddy, der mir genau gegenübersitzt, mustert mich aus seinen blauen Augen, als wäre ich ihm suspekt.
„Das sage ich dir nicht, bist du verrückt geworden?" Ich zeige Didi einen Vogel.
„Du bist fies", mault sie, schlägt ihren Kalender auf und beginnt ein Auge auf eine der Notizseiten zu kritzeln. Mich anzuschweigen ist eine ihrer Lieblingsmethoden, mich doch noch zum Reden zu bringen, aber heute macht es mir nichts aus. Ich wende meinen Blick stattdessen unserem Boss zu, der den Pitch für unsere nächste Ausgabe startet.

+

Ich mache gerade Feierabend, als mein Handy klingelt und Vincents Name im Display aufleuchtet. Lächelnd nehme ich ab.
„Hi", säusle ich.
„Hey", begrüßt er mich. „Ich wurde spontan von ein paar befreundeten Rappern auf eine Party eingeladen." Ich verharre in der Bewegung und lege die Stirn in Falten. „Es macht echt 'nen schlechten Eindruck, wenn ich mich da nicht wenigstens fünf Minuten blicken lasse", fügt er noch hinzu und ich schüttle frustriert den Kopf.
„Was muss, das muss", seufze ich. Wer bin ich schon, ihn, den Star-Produzenten, zu maßregeln? Wir waren zwar verabredet, aber dann verbringe ich den Abend eben mit einem guten Buch auf der Couch.
„Ich will dich trotzdem sehen", meint er überraschend. Ich klemme mein Smartphone zwischen Schulter und Ohr ein.
„Okay, du kannst nachher einfach bei mir reinschneien, aber sieh zu, dass es nicht zu spät wird", stimme ich zu. „Zwei Tage hintereinander mit nur vier Stunden Schlaf macht mein Körper nicht mit", schiebe ich noch hinterher.
„Eigentlich dachte ich, du hast vielleicht Lust mit mir dahinzugehen."
„Zu der Party?", hake ich nach.
„Klar. Ich könnte dich ein paar coolen Leuten vorstellen", schlägt er vor und ich hadere mit mir. Einerseits würde ich mich total gern faul auf die Couch pflanzen, andererseits – Je früher ich Vincent wiedersehe, desto besser. Verunsichert beiße ich mir auf die Unterlippe.
„Ich bin eigentlich nicht sonderlich scharf auf einen Haufen angetrunkener Rapper." Vincent lacht.
„Ich bin doch auch noch da."
„Nimm's mir nicht übel. Ich mag die meisten Partys nicht wirklich und ich bin viel lieber mit dir allein", entgegne ich schmollend.
„Aha, verstehe, ich bin dir peinlich", dreht er mir die Worte im Mund um. Ich lache.
„Wem wärst du denn nicht peinlich?"
„Oha! Jetzt zeigst du also dein wahres Gesicht, es ist doch immer dasselbe mit euch Frauen."
„Manno, Vincent." Seufzend ziehe ich mir meine Jacke über.
„Manno, Charlotte", imitiert er mich und ich muss wieder lachen.
„Du bist so doof. Schickst du mir die Adresse?"

+

Als ich eine dreiviertel Stunde später vor dem großen Wohnhaus stehe, gebe ich Vincent Bescheid. Die Nacht ist gerade erst angebrochen und angenehm mild, keine steife Brise fegt um die Häuserecken, es nieselt nur ein bisschen. Das gelbe Licht der Straßenlaternen um mich herum bricht sich in einer schillernden Ölpfütze, die der schwarze Ford Focus hinterlassen haben muss. Meinen roten Prius habe ich einige Querstraßen weiter unter einer alten Ulme geparkt.
Im Hausflur gehen die Lampen an und ich linse neugierig durch die Scheiben. Bald taucht Vincent am oberen Treppenabsatz auf und schließlich öffnet er mir die Tür. Sofort legt er eine Hand an meinen Rücken, die freie, in der er keine Bierflasche hält, und zieht mich zu sich ran. Seine Fingerspitzen gleiten runter auf meinen Hintern, als er mich küsst und ich lächle in die Zärtlichkeit hinein.

„Hallo", flüstert er und lehnt seine Stirn gegen meine.
„Na", erwidere ich und setze ihm die Kapuze seines Hoodies auf, fummle an den Bändeln herum und lächle ihn verspielt an.
„Wir müssen nicht lange bleiben, aber ich möchte dich ein paar Freunden vorstellen. Ist das okay?", will er wissen. Ich nicke gleichgültig.
„Hast du viel getrunken?", frage ich und deute auf die Bierflasche in seiner Hand. Er schüttelt den Kopf.
„Ist mein zweites. Gehen wir rauf?" Vincent nimmt meine Hand und nur Sekunden später drängle ich mich vorbei an einer ausgelassenen Meute von Leuten. Im Wohnzimmer riecht es nach Gras und einige Kerle sitzen auf dem Designer-Ecksofa. Ich kenne bloß Dag. Als ich winke, steht er auf und umarmt mich freudestrahlend.
„Hi, cool dass du da bist." Ich zucke hilflos die Schultern.
„Ähm, ja ... Cool, schätze ich."
„Das sind Ef, Samra, Capi, Raphael und Arne", deutet Vincent der Reihe nach auf die Männer vor uns. „Und das ist meine Freundin", stellt er mich den Unbekannten auf der Couch vor. Ich drehe ruckartig den Kopf in seine Richtung. Verdutzt starre ich ihn an. Seine Freundin?!

„Hi, ich bin Charlotte", erwache ich plötzlich aus meiner Trance und packe Vincent entschieden am Arm. „Ich muss meinen Freund mal kurz unter vier Augen sprechen, sorry. Hat mich gefreut." Ich bugsiere Vincent in die Küche, wo ein Pärchen auf der Kücheninsel in der Mitte des Raumes miteinander rummacht. Die Turteltäubchen ignoriere ich geflissentlich.

„Hab ich irgendwas Falsches gesagt?", fragt Vincent ratlos, als ich ihn gegen den Herd schubse.
„Du hast mich gerade einer Horde wildfremder Menschen als deine Freundin vorgestellt", rekapituliere ich mit ruhiger Stimme, was sich soeben nebenan ereignet hat.
„Meine Freundin?", murmelt er und seine Augen werden riesig wie Untertassen. „Scheiße, echt? Oh Mann, Charlotte, das tut mir mega leid, ich – Das ist mir wohl einfach so rausgerutscht, ich wollte dich damit nicht vor den Kopf stoßen." Kritisch hebe ich eine Augenbraue.
„War das wirklich erst dein zweites Bier?"
Vincent senkt schuldbewusst die Lider. „Vielleicht war's auch mein drittes. Ich muss echt besser aufpassen, sonst werd' ich aus beruflichen Gründen noch zum Trinker." Wie ein treudoofer Welpe sieht er auf mich herab und ich verschränke die Arme vor der Brust. Verdammt, er ist gut. Dieser Blick funktioniert einwandfrei. „Aber Bier zählt man eh anders", erklärt er fachmännisch und ich runzle die Stirn.
„Ach, tut man das, ja?"
„Ein Bier ist kein Bier, zwei Bier sind ein Bier und drei Bier sind zwei Bier und zwei sind eins und eins ist keins", redet er in einem Fluss, bis seine Worte sich überschlagen. Meine Gesichtszüge werden weicher und ich mache einen Schritt auf ihn zu. „Vincent, du kannst nicht zählen", sage ich todernst.
„Es ist Bier, bei Bier zählt man anders", beharrt er auf seinen Standpunkt.
„Darum geht's doch gar nicht", sage ich und streichle beruhigend seinen Oberarm. „Ich dachte, wir wollten es langsam angehen lassen", wiederhole ich fragend, was ich gestern zu ihm gesagt habe.

„Tut mir leid", nuschelt er reumütig. Ich warte ab, aber er kommentiert es nicht weiter. Wahrscheinlich weiß er nicht, was er noch dazu sagen soll.
„Wir reden drüber, wenn du nüchtern bist, ja?", schlage ich ihm einen Kompromiss vor.
„Worüber genau?", fragt er. Innerlich verdrehe ich die Augen, es hat keinen Sinn. Vincent schlingt beide Arme um mich, zieht mich zu sich. Ich presse meine Wange seitlich an seine Brust und atme seinen unverwechselbaren Geruch ein. Eukalyptus und ein herbes Parfüm mit Zitrusnoten.
„Gib's doch zu, du hast das von langer Hand geplant", murre ich. „Ich kann dich ja schlecht vor den Typen da drin demütigen, in dem ich dich jetzt noch im Nachhinein korrigiere."
„'Tschuldige." Seine Lippen kitzeln an meinem Ohr.
„Hör auf, dich dauernd zu entschuldigen. Welchen haben wir heute?" Vincent hebt seinen linken Arm und schaut auf seine Armbanduhr.
„Neunter Siebter", verkündet er.
„Nächstes Jahr zum neunten Juli schenkst du mir eine Küchenmaschine von Vorwerk, dann verzeihe ich dir diese dumme Aktion vielleicht", seufze ich. „In Zukunft gebe ich – als deine Freundin – übrigens mein Bestes, dich vom Alkohol fernzuhalten. Du machst nur Unsinn, wenn du betrunken bist." Ich verpasse ihm einen leichten Klaps auf den Po und löse mich von ihm. „Lass uns fahren." Vincent nickt.
„Ich verabschiede mich bloß noch von den Leuten."
„Okay, ich warte im Hausflur auf dich. Grüß die Jungs."
„Sorry nochmal." Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
„Ich sagte, du sollst dich nicht mehr entschuldigen", tadle ich ihn sanft. „Beeil dich, dann sind wir noch vor elf bei mir."
„Komm her", fordert er mich auf und küsst mich auf den Mund. Kurz verliere ich mich darin, ehe ich mich besinne.
„Geh schon", scheuche ich ihn kichernd davon, als er es wieder tun möchte. Vincent grummelt, löst sich dann aber von mir. Er verschwindet zwischen den restlichen Partygästen und ich verlasse ebenfalls die Küche. Auf dem gesamten Weg in den Hausflur lächle ich selig in mich hinein.

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