14 - Von Puppen und Leichen

Seit ich fünfundzwanzig bin, brezle ich mich für ein erstes Date nicht mehr übertrieben auf. Stattdessen schminke und kleide ich mich so, wie ich mich alltäglich wohlfühle. Es würde zwar unweigerlich Eindruck bei der Männerwelt schinden, wenn ich vor diesen Treffen einen Riesenaufwand betreibe, aber genauso gut könnte das ein falsches Bild von mir als Person vermitteln, und das wäre kontraproduktiv. Schließlich will ich einen Freund, dem egal ist, ob ich nun ein Ballkleid oder Jogginghosen und ein schlabberiges T-Shirt trage. Marlene hat meinen Ansatz stark befürwortet, bevor sie losgezischt ist, weil sie im Hotel noch ihre sieben Sachen zusammenpacken musste.

Jedenfalls date ich sowieso nur Typen, die ich potentiell für eine Beziehung in Betracht ziehe. Zum Beispiel Vincent. Seine lockere Art imponiert mir. Unsere Gespräche vor seinem Absturz auf der Party sind mühelos dahingeflossen und auf solche Dinge lege ich Wert. Dann seine Nachricht gleich am nächsten Tag ... Ein bisschen süß ist er ja schon, gestehe ich mir ein. Unwillkürlich legt sich ein sanftes Schmunzeln auf meine Lippen. Über verbale Komplimente zu meinem Aussehen freue ich mich zwar, wer auch nicht? Aber deutlich lieber noch sind mir diese subtilen, aber trotzdem intensiven Blicke, von denen er mir bereits gestern eine ganze Menge zugeworfen hat.

Doch ich spüre, wie mein Lächeln langsam in sich zusammenfällt, bis es ganz von meinem Gesicht verschwindet. Denn ein Abend, Charlotte, erinnere ich mich selbst, bedeutet rein gar nichts. Vielleicht ist er lediglich auf unkomplizierten Sex aus. So betrunken, wie er war, ist das zumindest nicht komplett abwegig.

Ich atme aus, schiebe dabei meine Hände in die Taschen meiner alten Lieblingsjeans, unter der ich eine Feinstrumpfhose mit Zick-Zack-Muster trage, weil sie an den Knien zerrissen ist. Diesen unverhofften DIY Destroyed Look hat sie vor ein paar Jahren erhalten, als ich gezwungenermaßen in, sagen wir mal, angeheitertem Zustand der S-Bahn hinterherhechten musste. Es war die letzte, die in der Nacht damals fuhr. Ich bin bei voller Geschwindigkeit über meine eigenen Füße gestolpert und habe mich übel auf den Bahnsteig gepackt. Der Zug ist mir dann natürlich vor der Nase weggerast und ich saß drei Stunden heulend mit aufgeschürften Knien in meiner blutverschmierten, löchrigen Jeans auf der kalten Gitter-Bank aus Metall. Das war eine turbulente Nacht.

„Sind wir beide fünfzehn Minuten zu früh, oder habe ich unsere Verabredung verschlafen und träume das hier gerade?", ertönt eine bekannte Stimme hinter mir und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich fahre zu Vincent herum, der grinsend auf mich runterblickt.
„Hi", begrüße ich ihn überrascht.
„Na." Er lächelt und mustert mich, wovon mir sofort wohlig warm im Innern wird. „Worüber hast du eben nachgedacht?", fragt er mich, legt eine Hand an meinen Rücken und schiebt mich in Richtung der Bar, zu der er mich bestellt hat.
„Über dich", antworte ich wahrheitsgetreu. „Und darüber, dass ich betrunken war, als diese Hose kaputt gegangen ist." Ich gestikuliere an mir herab. „Wie du auf der Party gestern." Sein Grinsen weicht einem leicht verunsicherten Lächeln.
„Hey, ähm ..." Vincent kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Danke, dass du dich nicht davon hast abschrecken lassen. Es war echt sehr nett von dir, dass du mich in dieses Taxi gesetzt hast."
„Und trotzdem stehen wir vor einer Bar, weil du mich ausgerechnet zum Trinken eingeladen hast", meine ich und schmunzle.
„Du merkst doch, wie nervös du mich machst, sobald wir allein sind – Klar muss ich da mit was Hochprozentigem nachhelfen, sonst kann ich mich gar nicht vernünftig mit dir unterhalten. Ich muss mir vorher Mut antrinken."
„Bitte nicht so viel Mut wie gestern."
„Gestern war 'ne Ausnahme", verteidigt er sich.
„Du schwindelst doch, ich glaube dir kein Wort. Warum machst du das hier mit mir?"
„Was? Dich ausführen? Was denkst du denn, weshalb?" Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Genau", bestätigt er mein Schweigen.

„Freundchen, mit ein paar Drinks kriegst du mich nicht ins Bett."
„Du denkst auch nur ans Eine, oder? Ich will dich einfach kennenlernen."
„Spar dir deine abgenutzten Sprüche, Vincent, du bist einer von den ganz Schlimmen, ich seh's dir an der Nasenspitze an. Von wegen du willst mich kennenlernen", flöte ich.
„Charlotte, kann es sein, dass du Männern misstraust?", fragt er unvermittelt und ich hebe schnell einen Zeigefinger.
„Ich misstraue nicht Männern im Allgemeinen, Vincent, ich misstraue nur dir."

Er grinst und für einen vergleichsweise langen Moment haben wir wieder Augenkontakt, wie auf der Party. Nur dass er diesmal offensichtlich nüchtern ist. Seine Pupillen sind zwar geweitet, aber nicht von irgendwelchen Substanzen. Dort wo seine Hand noch immer auf meinem Rücken liegt, kribbelt es angenehm. Er hat mir kein Kompliment zu meinem Aufzug gemacht bisher, es gab nur diesen Blick, auf den ich gehofft habe. Und jetzt gerade wünschte ich, nicht nur eine, sondern seine beiden Hände würden auf meinem Körper aufliegen. Ohne unnötige Kleidungsbarriere, versteht sich.

„Ich kenne die Leute, denen die Bar gehört", holt seine Stimme mich wie vorhin schon zurück in die Gegenwart. „Lass mich kurz zwei, drei Menschen begrüßen, okay?" Was er als Frage formuliert hat, klingt eher nach einer Bitte, gegen die ich nur schlecht etwas einwenden kann. Vincent schaut mir in die Augen und ich habe das Gefühl, mein Herz setzt einen Moment lang aus. Liegt es wirklich an ihm, oder bin ich bloß generell horny? Er lächelt leicht spöttisch, aber ohne Gemeinheit, einfach ein bisschen frech und irgendwie ... sexy. Ich räuspere mich.
„Kein Ding."
„Das sind alles Freunde von mir, ich versuch's aber kurz zu halten. Ich bin mit dir hier, da will ich nicht, dass du schweigsam neben mir stehen und warten musst."
„Keine Sorge, ich bin recht kommunikativ", sage ich und zwinkere ihm zu, ehe ich vor ihm die Bar betrete. Kaum ist meine Begleitung mir gefolgt, steuert ein glatzköpfiger Mann im Trainingsanzug auf uns zu.

„Dicka", ruft er lachend und schlägt mit Vincent ein. „Hast du nicht gestern schon genug gesoffen?", fragt er ihn.
„Bastian, guck ma'", macht Vincent ihn auf mich aufmerksam. „Das ist Charlotte, sie war gestern auf der Party. Der muss ich heute beweisen, dass ich auch verantwortungsbewusst trinken kann."
„Ah ja", gibt Bastian zurück und mustert mich von oben bis unten. „Bastian", stellt er sich mir vor, reicht mir formell die Hand. „Ich war gestern der Gastgeber."
„Du kommst mir vage bekannt vor", entgegne ich nickend.
„Vage", wiederholt Bastian und wirft Vincent einen anerkennenden Blick zu, den ich nicht richtig zu deuten weiß. „Eure ersten beiden Getränke gehen auf mich, gebt Ivo einfach Bescheid." Vincent will offenbar etwas sagen, doch Bastian schneidet ihm das Wort ab. „Keine Widerrede, Stein, ich bin in Gönnerlaune und die Frau braucht einen Drink, wenn sie den Abend an deiner Seite überstehen soll." Er grinst mich kurz verschwörerisch an. „Dag hat mir schon gesteckt, dass sie dich ins Taxi gesetzt hat", wendet er sich wieder an Vincent. „Feiner Zug von dir, Puppe", fügt er noch hinzu. Aus dem letzten unangebrachten Kosenamen schlussfolgere ich, dass er mich meint, was sein Blick, der inzwischen zurück zu mir gewandert ist, mir bestätigt. Ich lache hell auf.
„Ich bin aus Fleisch und Blut, also bin ich genauso wenig 'ne Puppe wie du."
„Kann man das testen?", erwidert Bastian mit einer guten Portion Zweideutigkeit in der Stimme.
„Vertraust du seinem Urteil?", deute ich mit dem Daumen auf Vincent.
„Nur in 'nem ganz bestimmten Bereich, der absolut nichts mit Weibern zu tun hat." Vincent zeigt seinem Kumpel den Mittelfinger.
„Uh", mache ich gespannt, als ich meinem Date prüfend ins Gesicht schaue. „Lass uns nachher über deinen anscheinend fragwürdigen Frauengeschmack reden."
„Besten Dank, Bastian", beklagt Vincent sich bei seinem Kumpel.
„Folgender Vorschlag", fahre ich fort. „Er überprüft mich vielleicht später auf meine Echtheit, dann kann er dir berichten." Ich zwinkere Bastian zu und beobachte, wie sich ein fettes Grinsen auf Vincents Gesicht ausbreitet. Niedlich.
„Charlotte, richtig?", hakt Bastian interessiert nach.
„Charlotte Engler", ergänze ich meinen Nachnamen automatisch.
„Bastian Krüger." Er prostet mir mit seiner Rum-Cola zu.
„Vincent Stein", mischt sich Vincent ein und ich muss lachen.
„Holen wir uns was zu trinken?", frage ich ihn und rufe Bastian noch eine kurze Verabschiedung hinterher, da er offenbar in Richtung Toiletten davongezischt ist.

Stunden ziehen an uns vorüber, die Zeit vergeht wie im Flug mit Vincent. Ich habe die Beine inzwischen auf die bequeme Couch gezogen, meine Augen sind geschlossen und ich lausche der Musik, die aus den Boxen schallt.

Scheiße! In meinem Keller liegt 'ne Leiche.
Ich bin's nich' gewesen, doch ich kann es nich' beweisen.

Auf so eine weirde Prämisse musst du auch erstmal kommen ... Als Vincent den Dry Martini, den ich mir gewünscht habe, auf dem niedrigen Tischchen vor mir abstellt, blinzle ich und lächle.
„Der Typ, der da singt, klingt wie du. War fast als wärst du nie weg gewesen", läute ich ein neues Gespräch ein. Vincent sinkt wieder neben mich aufs Sofa. Seine Miene wirkt plötzlich grüblerisch.
„Könnte daran liegen, dass ich dieser Typ bin", scherzt er. Beziehungsweise, er scherzt gar nicht, stelle ich fest. Perplex starre ich ihn an. Irgendwann rollt er die Schultern zurück. „Cool, dass du genießt, wofür Dag und ich geschuftet haben, bis zum Umfallen."
„Marlene hat mir erzählt, dass du mit Dag in einer Band spielst. Aber dass eure Songs im Radio laufen, das hat sie mir prima verschwiegen." Ich schüttle ungläubig den Kopf. Bisher haben er und ich ganz ungezwungen über Gott und die Welt gequatscht, wie auf der Party schon, aber diese schwindelerregende Info bezüglich seines Bekanntheitsgrads überrumpelt mich dann doch etwas.

„Du bist berühmt", meine ich verblüfft.
„Bin ich nicht", wehrt er ab. „Dass sie uns ins Radioprogramm mitaufgenommen haben, ist relativ neu."
„Wie neu?"
„Das geht erst seit ein paar Monaten so", sagt er und zuckt hilflos die Achseln.
„Monaten", wiederhole ich trocken.
„Dag und ich sind keine Mega-Stars oder so", geht er erneut in die Defensive. „SDP ist 'ne Zwei-Mann-Band, deren Aushängeschilder wir sind, aber die Leute feiern eher die Musik. Viele wissen nicht, wer wir sind. Wir werden auch nicht ständig von Fans angesprochen –"
„Vincent, beruhig dich. Das stört mich nicht", unterbreche ich ihn und er stockt verwundert.
„Tut es nicht?"
„Nein", antworte ich. „Ist doch schön, dass es beruflich bei dir offenbar läuft."
„Wieso hast du dann so geschockt reagiert?"
„Sorry", rufe ich aus. „Man lernt nun mal nicht jeden Tag einen süßen Kerl kennen, dessen Lieder im Radio gespielt werden. Ich dachte, du machst beruflich was ganz anderes und Musik ist nur so ein Hobby von dir. Als Marlene davon erzählt hat, klang es jedenfalls so."
„So war das auch früher", beteuert er. „Also zu Schulzeiten. Nach dem Abi hab ich dann sogar Musik studiert; ich hatte halt diesen Traum, eines Tages davon leben zu können."
„Es freut mich für dich, dass du ihn dir erfüllen konntest." Vincent lächelt.
„Danke." Er fährt sich mit einer Hand durch seine braunen Haare. „Tja, aber jetzt kannst du dir wahrscheinlich auch denken, dass das mit dem Frauen-Kennenlernen nicht so easy ist."
„Ich dachte, der Sternchen-Status macht es einem in dieser Hinsicht eher noch leichter", witzle ich und trinke einen Schluck. Vincent lacht bitter.
„Na ja, nicht wirklich. Ich hatte lange nichts Festes mehr laufen."
„Geht mir ähnlich", gebe ich zu. Ich hebe mein Glas und Vincent nimmt sein eigenes in die Hand, in dem sich meiner laienhaften Einschätzung nach Wodka-Lemon auf Eis befindet. „Auf dass die Liebe in absehbarer Zukunft Gnade bei uns beiden walten lässt." Er überlegt, aber am Ende amüsiert er sich doch nur über seine Schwierigkeiten, irgendwas Kluges zu erwidern.
„Tu bitte so, als hätte ich den Toast irgendwie eloquent verkürzt", verlangt er.
„Nein, das kannst du vergessen, du Hohlbirne", meine ich und schüttle schmunzelnd den Kopf. „Du hast dich blamiert."
„Ich hoffe, die Liebe ist gnädiger zu mir als du", murmelt er und wir stoßen an.

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