Zielfindung

Zusammen gingen wir nach Hause, wobei Mary, ihr Köfferchen schiebend, noch beim Floristen haltmachte, um einen Blumenstrauß zu kaufen. Mit einer skeptisch gehobenen Augenbraue sah ich sie an. Sie schickte mir ein Zahnpastalächeln entgegen und trällerte: „Für unsere Mutter natürlich." Oooooookaaaaay. Spooky.

An der Haustür hatte ich bereits mit dem Finger auf den Klingelknopf gedrückt, bevor Mary ihren Schlüssel aus ihrer Michael Kors-Tasche gezogen hatte. Tadelnd verzog sie die Lippen, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte meinen Schlüssel in meiner Gesäßtasche. Aber wie immer war ich zu faul, um ihn rauszuholen. Da war Klingeln einfacher. Mary sparte sich den zurechtweisenden Kommentar darüber, dass ich an unsere arme Mamá denken und sie nicht wie eine Dienstbotin behandeln solle, jedoch nur, weil in dem Moment, als sie ihre absurd perfekt geschminkten Lippen öffnete, die Tür dasselbe tat.

„Hola!", rief Mary und grinste meine Mutter an, während sie ihr den Blumenstrauß – Fünfzig Dollar hatte sie für das Gemüse bezahlt! Einfach so! – hinhielt. Mamá musterte sie zunächst verständnislos, bemerkte dann mich, sah zurück zu Mary und ich konnte beobachten, wie das Erkennen in ihre Augen sickerte. Ihr Augen wurden rund und sie blickte von Marys eleganter Hochsteckfrisur, hinunter zu ihrem modernen Make-Up, weiter zu ihren teuren Designerklamotten.

„Dios mío!", hauchte sie und trat aus dem Türrahmen heraus, um uns vorbeizulassen. Verdattert nahm Mamá den Blumenstrauß entgegen und ließ sich von Mary auf die Wange küssen. Deren Lippenstift hinterließ nicht die kleinste Spur. Widerlich perfekt. Ich trottete hinter meiner Schwester hinein und küsste meine Mutter auf die andere Wange. „Qué pasa?", flüsterte sie mir zu und ich hob ahnungslos die Schultern. 

„Hier ist eine Vase mit Wasser für die Blumen Mamá. Außerdem noch eine Schachtel Pralinen. Zuckerfreie Schokolade, hast du so etwas schon probiert? So kannst du auch mit deinem Diabetes furchtlos zugreifen." In der einen Hand hielt sie die mit Wasser gefüllte Vase und in der anderen eine verdammt teuer aussehende Schachtel Pralinen. Also die Schachtel selbst sah schon verdammt teuer aus. Der Inhalt war sicherlich Kunst. Es war eine golden glänzende – es würde mich auch nicht wundern, wenn es echtes Blattgold wäre – kleine Schatulle mit handgemalten – man konnte richtig sehen, wo die Farbe dicker aufgetragen war! – Buchstaben und einer burgunderroten Samtschleife. Crisp! stand auf dem Deckel. Fancy Werbegeschenk. Meine Mutter stand sprachlos da und starrte die goldene Box an, die Mary ihr in die Hände gedrückt hatte. Ihr Mund öffnete und schloss sich mehrmals, doch sie brachte kein Wort heraus.

Wir standen inmitten unserer kleinen, gemieteten Stadtwohnung, deren einziger Luxus ihre Lage in der Nähe der Universität war. Der Teppich, der sich unter unseren Füßen ausbreitete, war abgenutzt und fleckig, und die Möbel, die meine Mutter im Laufe der Jahre zusammengesucht hatte, hatten ihren Höhepunkt längst überschritten. Doch trotz ihres gealterten Zustands strahlten sie eine Art nostalgische Schönheit aus, die jedes Stück zu einem Teil unseres Zuhauses machte. "Mary, du siehst... du siehst einfach atemberaubend aus", stammelte meine Mutter schließlich und umarmte Mary stürmisch. Ich beobachtete die Szene mit einer Mischung aus Belustigung und Argwohn. Nicht nur Marys Veränderung machte mich weiterhin stutzig, sondern auch Mamás Reaktion. Hätte Mary sich einfach nur umstylen müssen, um meiner Mutter zu gefallen? Das war doch Schwachsinn.

Nachdem unsere Mutter endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte, wurde Mary mit einer Flut von Fragen überschüttet. Wie war es gewesen? Das Hotel? Das Kollegium? Die Arbeit? Woher kamen die Kleider und das Make-up? Und, was meiner Mutter vor allem wichtig zu sein schien: Gab es einen besonderen Mann? Mary verneinte. Aber ob das die Wahrheit war, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen.

"Es war großartig. Wie ein Traum! Und es ist alles nur dank SNOW Inc. möglich", erklärte Mary und ihr Blick glitzerte vor Begeisterung. "Dieses Unternehmen ist einfach unglaublich. Die Leute, die Technologie, die Möglichkeiten... Es ist, als würde ich in einer komplett neuen Welt leben", schwärmte sie. Unsere Mutter saugte jedes Wort auf und hing an Marys Lippen. Sie konnte gar nicht genug von den Geschichten hören, die Mary von ihrer Dienstreise zu erzählen hatte. Ihre Worte malten Bilder von einem Ort, der so anders war als unser kleines Zuhause, und doch konnte ich mir nicht helfen, sondern spürte eine aufsteigende Neugierde.

"Ich bin so stolz auf dich, Mary", sagte unsere Mutter schließlich und drückte Mary fest an sich. Für einen Moment fühlte ich mich fehl am Platz, wie ein Eindringling in einem Moment, der nur für sie beide gedacht war.

„Aber ohne dich hätte ich das nie geschafft, Mamá! Du hast mich dazu motiviert, diese Stelle zu suchen und dafür bin ich dir so dankbar", trällerte Mary und gab ihrer Stiefmutter noch einen dicken Kuss, bevor sie sich verabschiedete. „Ich hab leider noch einen Termin. Der Crisp-Launch steht kurz bevor und da kommt leider auch am Wochenende immer wieder mal etwas rein." Mit diesen Worten verließ sie uns auch schon wieder. Ich sah ihr völlig verdattert nach. Die ging jetzt wirklich arbeiten? An einem Samstagnachmittag? Wtf? Mit vor Verblüffung aufgerissenem Mund blickte ich zu meiner Mutter hinüber, die mich bereits mit geschürzten Lippen musterte. Ich wusste sofort, dass Ärger im Anmarsch war. Auch wenn ich nicht verstand, warum.

"Und was ist mit dir, María? Was hast du vor in deinen Semesterferien?" Oh, daher wehte der Wind. Die Frage meiner Mutter traf mich unvorbereitet und ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, meine Verlegenheit zu überspielen, doch ich wusste, dass sie meine Unsicherheit sah.

"Ich dachte, ich würde einfach relaxen, vielleicht ein paar Partys besuchen..." Eine unbestimmte Geste mit der Hand vervollständigte meine Ausführung.

Mamá schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, nein, das geht so nicht weiter. Du musst endlich Verantwortung übernehmen und etwas Sinnvolles mit deinem Leben anfangen." Och nö.

Ich seufzte. "Mamá, ich bin doch noch jung. Ich habe noch genug Zeit, um meine Ziele zu finden." Ich hatte die Klausurphase hinter mich gebracht, alle Klausuren halbwegs bestanden und noch mindestens vier Jahre Studium vor mir.

"Dann finde sie jetzt", entgegnete sie jedoch bestimmt. Ich zog eine Schnute. "Du könntest ein Praktikum machen. Da bei Marys Schneefirma. Glaub mir, das wird dir guttun." Ein vermeintlich gutmütiges Lächeln begleitete ihre Worte. Ich wollte protestieren, doch ein Blick in ihre entschlossenen Augen ließ mich innehalten. Ich dachte an die letzte Woche und den fürchterlichen Kater, den die Bloody Mary gerade so gelindert hatte. Und ich hasste es, es zuzugeben, aber sie hatte recht. 

1059 Wörter

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