TWENTY - Entscheide dich endlich
Victoria POV
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Müde blinzle ich der Sonne entgegen, die durch die halb geöffneten Jalousien in mein Gesicht scheint, und mir fast die Tränen in die Augen treibt. Diese kneife ich augenblicklich zusammen, ehe ich mich zur Seite drehe, und den Raum neugierig mustere, in dem ich mich befinde. Aus verschwommenen Erinnerungen heraus identifiziere ich diese vier Wände als Jaspers vier Wände, und mit einem schüchternen Blick über meine Schulter erkenne ich, wie genau diese Person friedlich schlummernd neben mir liegt. Vorsichtig lege ich meinen Kopf wieder auf das Kissen, und fange an, zu überlegen.
Was genau ist gestern Abend passiert?
Ein leichtes Pochen macht sich in meinem Kopf bemerkbar, was mir erklärt, weshalb ich auf über die Hälfte meiner Erinnerungen nur noch verschwommen zurückgreifen kann. Jedoch erinnere ich mich ganz klar an das Rennen, und daran, dass es gestern Abend hier ziemlich heiß zuging zwischen Jasper und mir. Und dann saßen wir plötzlich mit seiner Schwester, Emery wenn ich mich recht erinnere, in ihrem Bett, und haben Kakao getrunken. Und wie genau bin ich hier gelandet?
Was trage ich überhaupt?
Schnell hebe ich die Decke an, und erkenne ein mir fremdes Shirt, welches sich um meinen Körper schmiegt. Ich tippe mal stark darauf, dass Jasper mir das gestern als Ersatz für meinen Schlafanzug gegeben hat, denn ich glaube, dass er dieses Shirt an meinem ersten Schultag getragen hat. Ich decke mich wieder zu, und gähne dann ausgiebig, ehe ich mich zu Jasper umdrehe. Neugierig mustere ich den Jungen, da ich jetzt gerade die perfekte Chance dazu habe, und versuche, mir alles einzuprägen.
Dichte Augenbrauen und Wimpern, breiter Nasenrücken, geschwungene Lippen. Etwas trocken, aber trotzdem angenehm. Ein Arm hat Jasper um mich gelegt, und ich mustere die beiden Tattoos, die sich auf seiner gebräunten Haut befinden. Eines stellt die Silhouetten mehrerer Vögel dar, die umherfliegen, und das andere ist irgendein Zeichen, das ich nicht kenne. Wahrscheinlich hat es für ihn eine tiefe Bedeutung, die sonst keiner so verstehen kann, was aber auch nicht wichtig ist – es ist ja schließlich sein Tattoo.
Ich wende meinen Blick wieder von Jasper ab, und beschließe, das Grummeln meines Magens zu stillen. Leise und langsam schlage ich die Decke zurück, und krieche unter Jaspers Arm hervor, bis ich endlich aufstehen kann. Sofort ziehe ich mir meine Jeans von gestern wieder über, als ich erkenne, dass ich nichts außer mein Höschen trage, welches zwar bei weitem von Jaspers Shirt überdeckt wird, jedoch trotzdem nicht für die Augen seiner Familie gedacht ist. Mit einem Blick in den Spiegel zweifle ich daran, ob ich Jaspers Shirt auch gegen mein eigenes eintauschen soll oder nicht, und versuche abzuschätzen, ob wir eigentlich schon so weit sind, dass ich vor seiner Familie seine Kleider tragen kann.
Nach einem kurzen Hin und Her greife ich nach meinem eigenen Shirt, und tausche es mit Jaspers Shirt, welches ich sorgfältig zusammengefaltet auf seinem Schreibtisch ablege. Dann schlüpfe ich aus dem Zimmer, und finde mich zwischen vier Türen wieder, und einer Treppe. Mich angestrengt an die Szenen von gestern Abend erinnernd mache ich das Badezimmer aus, und schliesse dieses erleichtert über die Tatsache, nicht plötzlich im Elternschlafzimmer gelandet zu sein, von innen ab. Dann lasse ich mich auf dem geschlossenen Toilettendeckel nieder, und starre die getäfelte Wand mit gegenüber eine Weile völlig in Gedanken verloren an.
Erinnerungen von gestern Abend spielen sich immer wieder in Dauerschleife in meinem Kopf ab, was mich nur erahnen lässt, was in den fehlenden Stücken passiert sein könnte. Ich weiss, dass Jasper und ich – zum Glück – nicht miteinander geschlafen haben. Ich möchte damit eigentlich gerne warten, nur scheint mein betrunkenes Ich das anders zu sehen. Und Jasper wohl auch, wobei dieser ebenfalls nicht wenig getrunken hat. Seine Berührungen kann ich aber doch noch deutlich spüren, und als sich an den Stellen eine Gänsehaut bildet, kann ich nicht so ganz sagen, ob das ein gutes Zeichen ist, oder nicht.
Es stimmt, dass ich Jasper eine zweite Chance geben möchte, mich unser erstes, deutlich unangenehmes Aufeinandertreffen vergessen zu lassen, und ich möchte ihm auch die Zeit geben mir zu zeigen, wer er wirklich ist. Aber so intime Momente waren – jedenfalls so früh – noch nicht vorgesehen, und das verwirrt mich. Will mir mein Körper damit etwas sagen, oder war es wirklich nur der Alkohol? Sollte ich vielleicht nicht immer so verdammt lange überlegen und abwägen, und mich einfach mal trauen, oder bewahre ich mich so vor eventuellen Enttäuschungen, und sollte meine Zweifel auf keinen Fall einfach aufgeben?
Kenne ich Jasper überhaupt gut genug, um ihn wirklich ganz in mein Leben zu lassen? Ich bin immerhin nur zehn Monate hier. Wenn aus uns wirklich etwas werden würde, wäre das eine sehr kurze Zeit. Sollte er es aber schaffen, mich auf Grund meiner eigenen Dummheit zu verletzen, müsste ich ihn weitere zehn Monate lang jeden Tag sehen, und ich weiss nicht, ob ich das aushalten könnte. Mit einem tiefen Seufzer fahre ich mir durch die Haare, und drehe meinen Kopf ruckartig zur Türe, als laut daran geklopft wird.
„Hallo?", dringt eine fremde Stimme zu mir durch, und leichte Panik macht sich in mir breit. Ich glaube, das ist Jaspers Mutter, denn so eine erwachsene, weibliche Stimme hat Emery ganz bestimmt nicht. „Hallo??" Ich räuspere mich, und betätige die Spülung, um ein paar Sekunden drum herum zu kommen, Antwort zu geben. Dann öffne ich die Türe, und tatsächlich steht mir gegenüber eine Frau, die Jasper extrem gleicht. „Oh", murmelt diese dann, und schluckt hörbar. „Ich, äh, ich habe nicht mit Besuch gerechnet", stammelt sie leise, und ich versuche sie mit einem schüchternen Lächeln etwas zu besänftigen.
„Ja, also, ich habe eigentlich auch nicht damit gerechnet, diese Nacht hier zu verbringen", murmle ich ebenso schüchtern, woraufhin Jaspers Mutter kurz lächelt. „Ich bin Michelle", stellt sie sich dann vor, und ich schüttle ihre Hand kurz. „Ich bin Victoria, aber alle nennen mich Vicky." Michelle lächelt, und nickt. „Freut mich, Vicky. Ich will ja nicht neugierig sein, aber... bist du eine Freundin von Jasper, oder seine Freundin?" Meine Augen weiten sich ganz leicht, und ich räuspere mich verhalten, ehe ich kurz zu Jaspers Zimmertüre schiele, die zum Glück noch immer geschlossen ist.
„Eine Freundin", krächze ich dann, und lächle unsicher. Michelle nickt langsam, und schmunzelt. „Ich verstehe", sagt sie dann grinsend, und mir steigt die Röte etwas ins Gesicht. Wieso hätte ich nicht einfach cool sagen können, dass ich bloss eine Freundin ihres Sohnes bin, statt doof rum zu stammeln, und in der Gegend rum zu glotzen? „Liebes, kein Grund direkt rot anzulaufen. Gib mir fünf Minuten, dann können wir gemeinsam Frühstück zubereiten, wenn du das möchtest."
Ich nicke sofort, und gebe den Weg ins Badezimmer frei. Sobald Michelle die Türe schliesst, haste ich fast die Treppe runter in die Küche, schnappe mir ein Glas, fülle es mit kaltem Wasser, und schütte mir die Flüssigkeit in den Rachen. Das war ja mal mega peinlich. Ich plustere die Wangen etwas auf, und atme gefasst tief durch, bis ich das Gefühl habe, wieder eine gesunde Hautfarbe angenommen zu haben.
Dann muss ich ja jetzt nur noch das gemeinsame Frühstück überleben.
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„Ich glaube, ich sollte langsam nach Hause", bemerke ich mit einem Blick auf die Uhr, und Jasper nickt, ehe er sich erhebt. „Ich fahre dich", erklärt er, und ich lächle ihn dankbar an, während ich mich ebenfalls erhebe. Ich reiche Michelle zum Abschied die Hand, und umarme Emery, die ich in den letzten stunden wirklich ins Herz geschlossen habe. Jaspers Vater arbeitet, weshalb er mir heute Morgen auch nicht über den Weg gelaufen ist – worüber ich aber ehrlich gesagt ganz froh bin. Seine Mutter kennenzulernen hat mir bislang gereicht.
Schnell suche ich in Jaspers Zimmer meine Sachen zusammen, und gehe dann wieder nach unten, wo er schon mit einem Motorradhelm auf mich wartet. Nochmals verabschiede und bedanke ich mich, ehe wir das Haus verlassen. Tagsüber sieht es noch viel grösser und teurer aus als nachts, was ich aber auch damit begründe, dass ich gestern weder nüchtern, noch besonderes aufmerksam war. Die Fahrt nach Hause vergeht schneller als gedacht, was wohl auch daran liegt, dass Jasper so einige Geschwindigkeitsgrenzen geflissentlich überschritten hat. Doch das ist mir egal, solange er keinen Mist macht, und aufmerksam ist.
Zu Hause angekommen steige ich schnell von Jaspers Motorrad ab, und reiche ihm meinen Helm, den er verstaut. Ich kann hinter dem Küchenfenster sehen, dass Kesh sich in der Küche befindet, und kurz irritiert zu uns schaut, ehe er sich wieder abwendet. Kopfschüttelnd seufze ich, und wende mich wieder Japser zu, der an seinem Gefährt lehnt. „Wann sehen wir uns wieder?", fragt er mich, und ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. Mir wird warm ums Herz, und ich zucke als Antwort mit den Schultern.
„Das liegt an dir, ich bin immer da", gebe ich dann so gefasst wie möglich von mir, da mich dieses kleine Lächeln ehrlich gesagt aus der Bahn wirft. „Spätestens in der Schule, nicht?" Jasper nickt, und wirft einen Blick auf sein Handy, welches schon zum fünften Mal einen Nachrichtenton von sich gibt. Er verzieht sein Gesicht, und steckt das Handy wieder in seine Hosentasche. „Ich muss los", murrt er dann, und ich nicke. „Ich sollte wohl auch besser mal rein. Keshaw scheint jetzt schon nicht der Sonnenschein des Tages zu sein." Jasper hebt eine Augenbraue, und lacht leise. „Das ist er nie, Vicky."
Ich zucke bloss mit den Schultern, da Jasper recht hat, und ich nicht mehr weiss, was ich darauf antworten soll. Keshaw ist wirklich nie der Sonnenschein des Tages, nicht mal der Sonnenschein der Stunde. „Also, bis dann", verabschiedet Jasper sich, drückt mir einen Kuss auf die Lippen, und zieht sich dann seinen Helm über. „Bis dann", erwidere ich lächelnd, und schaue Jasper nach, bis er mitsamt seinem Motorrad um die Ecke verschwunden ist.
Ich atme kurz tief durch, da ich ehrlich gesagt so gar keine Lust habe, Keshaw jetzt zu begegnen, und drehe mich dann zu der Villa um, in der ich momentan lebe. Kaum habe ich die große Haustüre hinter mir geschlossen, kommt mein liebenswerter Gastbruder mir auch schon mit einem argwöhnischen Blick entgegen, und bleibt mit einem sicheren Abstand zu mir stehen.
„Jasper? Ernsthaft?"
Ich verdrehe die Augen, da ich nicht plane, überhaupt zu antworten, und streife mir meine Schuhe von den Füssen. „Vicky, er ist ein Arschloch der Extraklasse. Nicht dass es mich interessieren würde, aber der wird dich verletzen." Ich atme erneut tief durch, lächle falsch, und drehe mich wieder zu Keshaw. „Erstens bin ich für dich noch immer Victoria", fange ich an, und mache einen Schritt auf den Jungen vor mir zu.
„Und zweitens, geht es dich nichts an mit wem ich meine Zeit verbringe da du es ja sicherlich nicht bist. Mal davon abgesehen dass ihr, was das Arschloch sein betrifft, ja dann anscheinend etwas gemeinsam habt. Ich bin jetzt gerade sehr glücklich mit meiner Entscheidung, und ob dir das gefällt oder nicht geht mir am Arsch vorbei. Oder glaubst du etwa, ich würde meine Jungs Wahl wegen dir nur auf die braven Exemplare beschränken?"
Keshaw schnaubt, und hebt eine Augenbraue. „Pass auf, sonst hört es sich noch so an als würdest du glauben dass es mich interessiert was du sagst", presst er unterdrückt hervor, und ich schüttle bloss den Kopf. „Du bist lächerlich, Keshaw. Entweder du warnst mich vor Jasper weil es dir nicht egal ist, und gibst das dann auch bitte zu, oder du lässt mich mit meinem Leben in Ruhe, so, wie ich es bei dir ja auch tue. Entscheide dich endlich."
Eine Weile starren wir uns rivalisierend an, und ich könnte mir innerlich eine verpassen, weil ich mich schon wieder auf Keshaws Sticheleien eingelassen habe. Ich muss damit aufhören, dringend. Das kann auf Dauer nicht gut sein für meine Nerven.
„Schön", seufzt Kesh nach geraumer Zeit dann doch, und tritt mir aus dem Weg. „Aber sag nicht ich hätte dich nicht gewarnt."
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Wieso glaubt ihr, dass Kesh so ein Drama macht?
Eindrücke von Jaspers Familie?
- Xo, Zebisthoughts
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