Kapitel 6


Jocelyn

Ich lehne mich gegen das das dunkle Holz und atme tief durch. Wie ich es hasse. Ich hasse es, dass ich das was ich am meisten Liebe, verheimlichen - und damit alle Menschen in meiner Umgebung belügen - muss. Ich fahre mir durch meine langen Haare, die mir im Gesicht und Nacken kleben und verziehe das Gesicht. Ich sollte duschen. Trotz des Adrenalins, welches noch vor kurzer Zeit in meinem Körper geherrscht hat, bin ich jetzt wo der Kick vorbei ist, überhaupt nicht müde. Aus langer Erfahrung weiß ich, dass ich in dieser Nacht keinen Schlaf finden werde. Für die Schlaftabletten in meinem Nachttisch ist es zu spät und die Begegnung mit Dean hat mich wieder hellwach gemacht, sodass ich ohne Tabletten keine Chance habe. Er hat sich mir und meinen Freunden gegenüber immer korrekt verhalten und ich will ihn nicht so hintergehen wie Jack. Mein Gewissen sträubt sich dagegen und die Aussicht darauf, dass ich Grace und Jennifer die Wahrheit genauso verheimlichen muss wie Jack und Dean macht es nicht gerade besser. Aber es ist nötig um Janine und Oliver zu beschützen und zum Teil auch mich selbst.

Mein Bauch knurrt laut und erst jetzt wird mir bewusst, wie hungrig ich eigentlich bin. Deans Zimmertür ist bereits unsanft wieder geschlossen worden und so öffne ich meine und schleiche mich ins Badezimmer. Ich kämme mein Haar und flechte es zu einem festen Fischgrätenzopf damit sie mir nicht im Weg sind. Nach einer kurzen Katzenwäsche am Waschbecken mache ich mich auf in die Küche. 

Ich habe noch ein paar Stunden bis ich mich für die Schule fertig machen muss, und ich weiß schon jetzt, dass ich in der Zeit die ich totschlagen muss irgendeine Art von Sport machen werde. Ich öffne den Kühlschrank und sehe sofort was Dean zu Abend gegessen hat. Tortilla. Ein spanisches Nationalgericht, das ich schon einmal in einem Restaurant gegessen habe. Es ist ein Omelett aus Eiern mit Kartoffeln und Zwiebeln - nicht besonders kompliziert, aber sehr lecker. Hungrig und neugierig wie ich bin, versenke ich eine Gabel in der halbvollen Pfanne und stecke sie mir in den Mund. Selbst Kalt schmeckt es super. Ich hätte Dean ja einiges zugetraut, aber nicht dass er so gut kochen kann! Für einen Moment zögere ich und frage mich ob Dean sauer auf mich sein wird wenn ich einfach sein Essen esse, doch dann siegt der Hunger und ich stelle die Pfanne auf die Herdplatte um meinen Drei-Uhr-Snack warmzumachen.

Ich kann immer Sport machen, ob am Tag oder nachts, mit vollen Magen oder mit leeren. Es ist mir egal. Und so gehe ich nachdem ich aufgegessen habe in mein Zimmer, um mich für eine frühmorgendliche Joggingrunde umzuziehen. Vor Deans Zimmer bleibe ich einen Augenblick stehen und lausche, doch außer ganz leisen, regelmäßigen Atemzügen kann ich nichts hören. Ich mag es lieber an Sportgeräten zu trainieren, doch nach der langen Zeit in einem überfüllten Nachtclub, habe ich Lust auf etwas frische Strandluft.


Dean

Der erste Gedanke der mir kommt, als ich die Augen aufschlage ist: Ich sollte den Alarmton meines Handyweckers ändern. Der zweite ist, wie müde ich bin. Ich drehe mich auf den Bauch, vergrabe den Kopf im Kissen und gehe mental den heutigen Tag durch. Schule - etwas Freizeit - Ankunft von Mom, Jen und Jack. Ich rapple mich mit einem tiefen Seufzer auf und schnappe mir meine Kleidung vom Schreibtisch, welche ich mir gestern schon herausgelegt habe. Das plätschern der Dusche kann ich in dem Moment hören, indem ich die Tür zum Flur öffne und genervt werfe ich das weiße T-Shirt und die schwarze Jeans in meiner Hand auf das Bett neben mir. Ich brauche Kaffee bevor ich dem kleinen Monster entgegentreten kann! Ich sehe an mir herab und finde, dass ich mich so sehen lassen kann. Graue Hose und weißes Schlafshirt. Den verblüffend langen Weg zu Wohnzimmer und Küche kann ich mir bereits merken, allerdings habe ich schon lange wieder vergessen was in den verschiedenen Räumen ist, an denen ich vorbeikomme. 

Ich gehe gerade durch den hohen Türbogen, der Wohnzimmer und Küche voneinander trennt, als ich eine Frau sehe, die vor dem Kühlschrank steht und - so wie es aussieht - zählt was alles drin ist. Ich kann sie leise Lebensmittel aufzählen hören und unwillkürlich kommt mir in den Sinn, dass die Szene, die sich mir bietet, auch der Anfang eines Horrorfilms sein könnte: Eine fremde Frau zählt was alles in deinem Kühlschrank ist, um sich dann mit einem Beil in der Hand umzudrehen um einen umzubringen. Ich blinzle ein paar Mal um die Bilder in meinem Kopf loszuwerden und räuspere mich leise. Die Frau dreht sich erschrocken - ohne Beil! - um, doch als sie mich sieht lächelt sie breit und warm. 

"Du musst Dean sein. Mr Ashton hat mir gesagt, dass du bereits eingezogen bist." Sie kommt schnellen Schrittes auf mich zu, wobei ihr blonder Bob wild umherfliegt und hält mir die Hand hin. "Ich bin Lucy, die Haushälterin." Ich atme erleichtert aus und schüttle ihre Hand. "Freut mich. Jocelyn hat mir bereits von Ihnen erzählt." Lucy verzieht den Mund als ich sie so anspreche. "Du kannst mich duzen, Dean, sonst fühle ich mich so alt." Lachend dreht sie sich wieder um und schließt die Kühlschranktür. Alt? Sie ist doch höchstens 40 Jahre alt und von ihrer Figur her sehr schlank. Ein bitterer Duft steigt mir in die Nase und automatisch drehe ich meinen Kopf in die Richtung aus der der köstliche Kaffeegeruch kommt. 

Wie ein Zombie - zumindest fühlt es sich für mich so an - gehe ich auf die Kaffeemaschine zu und gieße mit eine Tasse ein. Erst als ich einen Schluck getrunken habe, fühle ich mich einigermaßen wach. Laute Schritte ertönen und es hört sich so an, als würden fünf Kerle die Treppe herunterkommen und nicht ein einzelnes Fliegengewicht von einem Mädchen. Jocelyn kommt topfit und abfahrbereit in den Raum gelaufen und als sie Lucy sieht, umarmt sie sie stürmisch mit einem fröhlichen:"Lucy! Was machst du denn schon da?" "Hey, Süße. Gut geschlafen, was?" 

Die Vertrautheit, die zwischen den beiden herrscht ist nicht zu übersehen und unwillkürlich frage ich mich, wie lange sie sich schon kennen. Ist Lucy immer dann für Jocelyn da wenn Jacke es nicht ist? Jocelyn zuckt mit den Schultern. "Eigentlich hab ich gar nicht geschlafen. Aber es geht doch nichts über eine Joggingrunde am Strand, während alle anderen schlafen, oder?" Summend dreht sie sich im Kreis und stürmt dann auf den Kühlschrank zu. Ich runzle die Stirn. Sie hat überhaupt nicht geschlafen? Oh man, kein Wunder dass sie total aufgedreht ist! Jocelyn lässt sich mit einer Schüssel Cornflakes auf einen der Barhocker an der Theke fallen und schiebt sich einen großen Löffel davon in den Mund. 

"Also, wieso bist du schon da?" Lucy, welche gerade auf einem Stück Papier mehrere Lebensmittel notiert hat, blickt auf. "Dein Vater hat mich gestern angerufen um mich über euren plötzlichen Familienzuwachs zu informieren und da hab ich mir gedacht, dass es nicht schaden könnte das Haus mal richtig auf Vordermann zu bringen, bevor Grace und Jennifer eintreffen." Jocelyn schnaubt. "Es ist nur für uns beide plötzlich.", sie wendet sich mir zu. "Wie lange wusstest du schon von eurem Umzug?" 

Bis eben war ich noch der stille, an der Theke lehnende und Kaffee schlürfende Zuschauer gewesen und ich wäre froh darüber das auch weiter zu sein, doch ich weiß dass ich mich vor einer Antwort nicht drücken kann. Nicht, wenn ich von zwei Augenpaaren so durchdringend angestarrt werde. "Ich... Es ist eigentlich schon ziemlich schnell klar geworden, dass meine Mam und Jack zusammenziehen wollen. Ich wusste nur nicht ob ihr beide nach Spanien kommen würdet oder wir drei hierher. Das wurde erst vor einem Monat klar." Jocelyns Augen weiten sich den letzten Satz hört und für einen Moment sehe ich so etwas wie Schmerz darin, doch dann wird ihr Blick von einen Augenblick auf den anderen kalt und ausdruckslos. Wie gestern Abend - beziehungsweise heute Morgen - im Flur. 

Ich kann ihre Mauern förmlich hochfahren hören. Ich wende mich von ihr ab und mache mich auf die Suche nach Frühstück. Ich will mich jetzt nicht mit Jocelyns seltsamen Launen auseinandersetzen.


Jocelyn

Heute fahre ich mit meinem Lamborghini zur High-School und Dean mit dem Porsche von Jack. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich heute wieder mit Freunden treffe und er hat sich ohne weiter nachzufragen damit abgefunden. Auch wenn er die Augen zusammengekniffen hat und mich argwöhnisch gemustert hat, hat die Aussicht auf eine weitere Fahrt mit dem weißen Sportwagen wohl gesiegt. Dean fährt mit dröhnendem Motor aus der Garage und sobald er verschwunden ist mache ich mich auf den Weg zurück ins Haus. 

Ich hole mehrere Dollarscheine und die schwarze Perücke, bei der die Haare offen sind, aus meinem Schrank und verstaue sie vorsichtig in einer großen Sporttasche. Ich habe noch eine schwarze, bei der die Haare zu einem festen Zopf geflochten sind. Die habe ich immer bei meinen illegalen Boxkämpfen auf, damit mich niemand erkennt. Doch heute ist keine Kampf. Ich muss nur jemanden treffen, den ich von diesen Veranstaltungen her kenne - Dafür die Perücke. Ich lege die Tasche mit einer schwarzen Lederjacke und einer Sonnenbrille zu meiner Schultasche auf den Beifahrersitz und mache mich ebenfalls auf den Weg zur Schule. 

Die letzten Stunden waren recht unspektakulär, denn außer, dass Jayden Dean noch einmal an unseren Tisch eingeladen hat, ist überhaupt nichts passiert. Der Unterricht dauerte ewig und als ich endlich das Schulgebäude verlassen kann, atme ich tief ein, so tief das Ava neben mir zu lachen beginnt. "Du hörst dich an als hättest du die letzten fünf Minuten nicht geatmet!" Ich schnaube - grinse aber. "Eher die letzten fünf Stunden!" "Wie sieht's aus, Ashton, unternehmen wir heute was zusammen?" 

Ich schüttle traurig den Kopf. "Jack, Grace und Jennifer kommen heute am späten Nachmittag und ich muss noch ein paar Dinge erledigen und kritische Dinge verstecken." Ava versteht sofort was ich meine und grinst mich an. "Vergiss das Bier im Kühlschrank nicht. Jack weiß dass du keinen Alkohol trinkst und wenn er das sieht, könnte er auf richtige Gedanken kommen." Ich umarme sie zum Abschied und sage dabei:"Du vergisst, dass Dean Bier trinkt. Jetzt kann ich das einfach auf ihn schieben." Ava lacht, winkt mir und macht sich dann ebenfalls auf den Heimweg. Ich steige in meinen Wagen und fahre mit normaler Geschwindigkeit in eine ruhige Straße, die nur ein paar Blocks von der High-School entfernt ist. 

Ich parke am Straßenrand und sehe mich um. Keine Menschenseele ist zu sehen. Ich greife in meine Schultasche und hole meinen schwarzen Eyeliner und dunklen Lidschatten heraus und ein paar Augenblicke später sieht mein Gesicht ganz anders aus. Meine Augen werden mit dem dunklen Make-Up so stark betont, dass sie noch hellblauer sind als sowieso schon. Die Perücke habe ich schon so oft aufgesetzt, dass sie beim ersten Versuch perfekt sitzt und nachdem ich ein paar Mal mit meinen Findern durchgefahren bin, bin ich zufrieden mit meinem Aussehen. Jetzt muss ich nur noch die Kapuze meines Pullovers und die Sonnenbrille aufsetzen und in meine Lederjacke schlüpfen. Niemand würde dieses Mädchen, welches ich nun im Rückspiegel sehe, mit Jocelyn Ashton in Verbindung bringen. 

Mein Handy lasse ich im Wagen und ich nehme nur meinen Autoschlüssel und die Dollarscheine mit. Mehr brauche ich nicht. Ich gehe mit gesengten Kopf zu dem Busbahnhof zurück, an dem ich vorhin vorbeigefahren bin und steige in einen der Linienbusse, welcher mich wie gestern schon in die Slums führt - allerdings in das schlimmste Viertel von allen, in dem sich nicht einmal Oliver und seine Freunde oft sehen lassen. 

Ich schlendere durch den einzigen Park den es hier gibt. Wenn man es überhaupt so nennen kann, denn außer hohen, alten Bäumen und grünen Sträuchern gibt es hier nicht viel. Keine Blumen, keinen Brunnen, keine Bänke. Es ist eher ein kleiner Wald in mitten einer heruntergekommenen Wohngegend. An diesem Ort könne man jemanden erschießen und es würde niemand reden. Hier vertrauen die Leute keiner Polizei. Ich halte Ausschau nach einem Typen, den ich bereits seit Jahren kenne. Ich habe ihn bei einem meiner ersten Boxkämpfe kennengelernt und seitdem kaufe ich bei ihm meine Pillen. Ich muss nicht lange suchen bis ich den blonden Lockenkopf mit der kränklich blassen Haut in der Ferne erkenne. 

Cen redet gerade mit einem Mädchen, welches eindeutig ein Junkie ist. Sie ist ungepflegt und unterernährt, weil sie ihr ganzes Geld in Drogen steckt und die Realität nicht mehr erkennt. Das Mädchen verschwindet mit einem verrückten Grinsen und einem Tütchen weißen Pulvers, welches schnell in ihrer geballten Hand verschwindet. Cen dreht sich um und als sein Blick auf mich fällt breitet sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus. "Meine absolute Lieblingskundin! Was kann ich heute für dich tun, Lynn?" 

Ich nehme die Sonnenbrille an und starre ihm ins seine dunklen Augen. "Hör auf so laut zu quatschen, Cen. Ich habe keinen Bock von den Cops eingebuchtet zu werden.", meine Stimme ist nur noch ein Fauchen und ganz automatisch habe ich in die Sprache gewechselt, mit  der man hier spricht. Wenn ich das nicht täte wüsste man sofort, dass ich nicht von hier stamme und das könnte mir eine Menge Ärger einbringen.

Cen kümmert sich nicht um meine Wort und spricht in seiner normallauten Stimme weiter:"Weißt du, dass mit der Lieblingskundin war nicht gelogen. Du bist hier die einzige die Schlaftpillen und Speed kauft." Ich schnaube. "Du bist ein Arsch, Cen. Das ist dir klar, oder?" Cen lacht und holt dabei eine kleine Medikamentendosen und ein kleines Tütchen mit schneeweißem Pulver heraus. "Die Schlafpillen sind aus einem Apothekeneinbruch - sind also total saubere Ware. Und das Speed ist von meinem üblichen Lieferer." Er hält die Waren in der einen Hand und streckt mir die andere entgegen. Ich lege ihm die Dollarscheine in die Hand, welche sich sofort um die Banknote schließt, und nehme ihm die Ware ab. "Ist der gleiche Betrag wie immer.", und mit diesen Worten drehe ich mich um, die Hand mit den Schlaf- und Aufputschmittel tief in der Tasche meiner Jacke. 

"Bis zum nächsten Mal, Lynn!", höre ich Cen's Stimme mir hinterherrufen, doch da bin ich schon um das nächste Gebüsch herum geeilt und aus seinem Sichtfeld verschwunden. Ich setzte meine Sonnenbrille und meine Kapuze wieder auf und gehe zu der Haltestelle wo ich vor wenigen Minuten ausgestiegen bin um auf den nächsten Bus zu warten der zurück in die Stadt fährt.

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