Kapitel 23

Jocelyn

Mein Auto steht auf dem Parkplatz gleich gegenüber vom Club, und so laufe ich an den betrunken taumelnden Kerlen, die mir entgegenkommen und wie es scheint gerade erst angefangen haben zu feiern und an drei Mädchen, von denen sich gerade eine in die Büsche am Straßenrand übergibt, vorbei und lasse mich mit einem Seufzer auf den Fahrersitz meines Chevrolet fallen. 

Kurz sehe ich zu der Gruppe an Teenagern, die sich auf Fahrradständern sitzend ausgelassen und mit Bierflaschen in den Händen unterhalten, bevor ich mir erschöpft über die Augen reibe. Ich werde mich sowieso gleich abschminken. Ein kalter Luftzug streicht über meinen Nacken und ich streiche mir fröstelnd über die Oberarme. Nicht mehr lange, und ich kann mich unter meiner Decke zusammenrollen und endlich schlafen. Vielleicht sogar neben Dean. 

Ich ziehe mir die schwarzen High Heels von den schmerzenden Füßen und lege sie in die Tasche auf dem Beifahrersitz, aus der ich im selben Handgriff meine Sneakers und Socken ziehe. Ich komme allerdings nicht dazu mir die Sachen überzuziehen, denn eine tiefe Männerstimme lässt mich erstarren. "Aussteigen, Schlampe!"

Ich sehe hoch und drehe langsam den Kopf zu dem Mann, der nicht einmal einen Meter von mir entfernt steht und der sich die Kapuze seines Hoodies so tief ins Gesicht gezogen hat, dass sein Gesicht zum größten Teil verdeckt ist. Das Licht der Laterne ein paar Meter weiter reicht nur aus um gerade mal seinen Mund zu sehen, den er verzogen hat und gerade öffnet, um wieder mit drohender Stimme zu fauchen:"Nun mach schon! Und die Schlüssel kannst du auch gleich rausrücken!"

Ich lasse meine Schuhe und Socken auf den Boden fallen und drehe mich mit erhobenen Händen zu dem Kerl um, der sich gerade definitiv mit der Falschen anlegt. Das Jagdmesser in seiner erhobenen Hand glitzert in der spärlichen Beleuchtung unheilverkündend und während ich meine nackten Füße auf den kalten, spitzen Kies stelle und noch immer mit erhobenen Händen ganz langsam aufstehe, behalte ich die silberne Klinge genaustens im Auge. 

Ich habe es mit Phil geübt, habe es tausende Male in den letzten Jahren geschafft Phil das Gummimesser in unseren Trainingsstunden abzunehmen. Ich weiß wie es geht. Doch diese Situation ist ganz andere. Man kann sie nicht mit der vergleichen, in der ich mit Sportklamotten auf einer Trainingsmatte stehe und mich Phil herausfordernd anfunkelt. Das ist kein Gummimesser in der Hand des Carjackers, das ist ein echtes, scharf aussehendes Messer mit spitzer Klinge. 

"Die Schlüssel!", die Stimmlage der Angreifers ist gestresster als noch vor ein paar Sekunden.  Langsam reicht es mir. Was bildet sich dieser Typ eigentlich ein? Der Kerl streckt seine freie Hand aus und im Bruchteil einer Sekunde entscheide ich mich dagegen statt dem Schlüssel das Taschenmesser herauszuholen. 

Ich habe einen anderen Plan. Manchmal ist Ablenkung eben besser als ein direkter Angriff. Ich strecke langsam die Hand in meine Jackentasche und hole den Autoschlüssel daraus hervor. 

"Gib ihn mir!" Statt den Schlüssel in seine Hand zu legen, hole ich leicht aus und werfe den silbern glänzenden Autoschlüssel, an dessen Ring auch mein Hausschlüssel steckt, in den Kies zu seinen Füßen. Im gleichen Moment greife ich nach dem Unterarm des Autoräubers. 

Er war abgelenkt, was es mir leicht macht ihm innerhalb eines Wimpernschlags das Messer zu entwinden und es jetzt auf ihn zu richten. Der Kerl erstarrt, erschrocken darüber, dass gerade ein Mädchen ihn entwaffnet hat. 

Ich gehe einen Schritt nach vorne und halte das Messer gegen den Hals des Carjackers. "Wie wäre es, wenn du dich für die Zeitverschwendung entschuldigst?" 

Sein Adamsapfel hüpft wild an seinem Hals als er mehrere Male kräftig schluckt. Aber kein Wort verlässt mehr seinen Mund. "Oder du könntest meinen Schlüssel aufheben. Und es Gnade dir Gott, wenn ich auch nur einen Kratzer darauf entdecke, Arschloch!"

"Du kleine Schlampe!", zischt der Angreifer mit zusammengepressten Zähnen und wütend funkelnden Augen. Ich schnaube und drücke die Klinge fester gegen seinen Hals. Das Messer ist noch schärfer, als es aussieht, denn ein kleiner Schnitt entsteht und ein einzelner Blutstropfen rinnt aus der Wunde. 

"Du bist Lynn, nicht wahr?", fragt er auf einmal mit einem bitteren Unterton und ich sehe ihm wieder in die dunklen Augen, die ich jetzt, wo ich ihm so nahe bin, viel besser erkennen kann. 

"Du hast dich mit der Falschen angelegt, da hast du Recht. Also, wo wir das geklärt hätten..." Ich nehme das Messer von seinem Hals und deute damit auf den Boden. "Heb endlich meine Schlüssel auf oder du erlebst mich so, wie ich im Ring drauf bin. Und keine falsche Bewegung!" Der Angreifer kneift Augen und Lippen zusammen, doch im nächsten Moment geht er vor mir in die Knie und nimmt den Autoschlüssel in die Hand. 

Ich behalte ihn genaustens in den Augen, und als er den verzweifelten Versuch startet mir sein Jagdmesser wieder abzunehmen, bin ich schneller und reiße meine Hand von seinen gierigen Fingern weg. Im nächsten Augenblick steht der Typ wieder und ich drehe ihn mit einer schnellen und unsanften Bewegung um sich selbst, sodass er mit dem Rücken gegen meine Brust gepresst dasteht. Das Messer liegt wieder an seinem Hals, allerdings an einer anderen Stelle als vorhin. 

Ich muss mich unbedingt bei Phil bedanken, denn ohne ihn wäre ich jetzt mein Auto los. Samt Führerschein und einigen Dingen, die mich identifizieren könnten. 

"Ich sagte", zische ich ihm ins Ohr. "Keine. Fasche. Bewegung!" Der Carjacker legt seine Hand auf meine in dem schwachen Versuch sie wegzuziehen, und ich erkenne, wie sehr der Kerl zittert. Er kann nicht viel älter als ich sein, höchstens 20 Jahre alt, und er tut mir fast schon leid. Aber nur fast. 

"Steck meine Autoschlüssel in meine Jackentasche!" Er reagiert erst nicht, er scheint wohl immer noch nicht verstanden zu haben, dass ich hier als Siegerin hervorgehen werde. "Na los!" Ich biege seinen Kopf nach hinten, und endlich spüre ich seine Hand an meinem Bauch. Wenig später spüre ich das Gewicht des Schlüssels in meiner Jackentasche und seine Hand ist wieder in meinem Blickfeld. 

"Jetzt verschwinde, Arschloch. Und ab heute wirst du nie wieder ein einsames, scheinbar schwaches Mädchen auf dunkler Straße angreifen, denn du wirst immer meine Stimme im Ohr haben, die dir zuflüstert, dass ich dich finden werde." Der Typ reagiert nicht. "Verstanden?", frage ich ihn mit fester Stimme und ich biege seinen Kopf noch ein wenig weiter zurück. 

"Ja", presst der entwaffnete Carjacker hervor und ich stoße ihn mit einem kräftigen Schubs von mir. "Schön. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss los." Ich setzt mich wieder auf den Fahrersitz, lege das Messer auf meinen Schoß und hebe einen Knöchel mit der Hand an um den Kies und Dreck an der Fußsohle loszuwerden. 

Erst als ich mich auf dem Sitz drehe und nach dem Griff der Fahrertüre greife um sie zuzuziehen, bemerke ich, dass der Angreifer noch immer auf der Stelle steht, wo er nach meinem Schubser zum Stehen gekommen ist. "Was?", frage ich genervt und die Augen verdrehend. 

"Ich-", er stockt, dann richtet er sich auf, drückt die Schultern zurück und fährt er mit kräftigerer Stimme fort:"Ich brauche das Messer zurück." 

Ich schnaube und grinse ihn spöttisch an. "Ach, wirklich?" Ich nehme das Messer und betrachte es einen Moment lang. "Weißt du was? Ich glaube, ich behalte es und erinnere mich dadurch immer an den Bastard zurück, der mich, Lynn, carjacken wollte." Ich sehe auf und blicke ihn herausfordernd an. "Oder hast du da was dagegen?" 

Ich kann nur erahnen, dass er wieder seine Augen zusammenkneift, denn ich achte nicht weiter auf ihn und ziehe die Autotür zu. Bevor die Tür allerdings zufällt, rufe ich ihm noch ein "Hab noch einen wunderschönen Abend" zu, was er mit einem wütendem Stampfer gen Boden quittiert. Ach, es ist so schön Arschlöchern in den Allerwertesten zu treten!

Ohne einen Blick zurück fahre ich mit quietschenden Reifen vom Parkplatz und an den gaffenden Teenagern vorbei, die ich erst jetzt wieder wahrnehme. 

Es dauert nicht lange, bis mir der Abstand, den ich mit jedem Block, den ich zwischen mich und diesen Parkplatz bringe, bewusst wird und das Adrenalin in meinen Adern nachlässt. Ich lasse alle Luft einweichen und atme einige Male ganz tief ein und aus.  Es ist vorbei. Mir ist nichts passiert und ich bin außer Reichweite von diesem Kerl.

Alles ist gut, rede ich mir ein, und nach einigen Wiederholungen glaube ich mir sogar selbst. Ich bin auf dem Weg nach Hause und nach einem kleinen Zwischenstopp bei meiner Garage, kann ich endlich ins Bett fallen. 

Das heißt, ich werfe einen Blick auf das Display vor meinem Lenkrad, dass die Uhrzeit anzeigt. 02:26 Uhr. Entweder ich riskiere es wieder - und das werde ich ganz sicher nicht - ohne Schlaftabletten zu schlafen oder ich werfe ein bisschen Speed ein um den morgigen Tag zu überstehen. An manchen Tagen reicht auch nur Kaffee, was ich bei meiner aktuellen Müdigkeit allerdings bezweifle. 

Ich trete ein wenig zu fest auf's Gas und muss so gleich wieder abbremsen um meinem Vordermann nicht hinten drauf zu fahren. Um mich zu beruhigen lehne ich mich in den Sitz zurück und konzentriere mich vollkommen auf die Straße vor mir. 

Es ist fast schon drei Uhr morgens, als ich schließlich die Treppe ins Erdgeschoss hinaufschleiche, darauf bemüht keinen, vor allem Jack nicht, auf mich aufmerksam zu machen. Im Wohnzimmer brennt noch Licht und der Fernseher läuft, weswegen ich neugierig durch die Tür luge. Mein Herz schlägt schnell und ich hoffe so sehr, dass es nicht Jack ist, der da noch wach ist, dass ich erleichtert seufze, als ich Grace entdecke. 

Es stehen zwei leere Weingläser auf dem Couchtisch und eine Tüte Chips liegt neben ihr. Das neue Smartphone, das ihr Jack als Entschuldigung für ein verpasstes Abendessen vor ein paar Tagen geschenkt hat, hat seinen Platz in Grace' Hand. Es sieht so aus, als ob sie schläft, was mich dazu veranlasst ins Wohnzimmer zu gehen und in ihr Gesicht zu spähen. Sie hat die Augen geschlossen und ihr Atem geht tief und regelmäßig. 

Ich weiß nicht was ich machen soll. Soll ich sie wecken? Sie schlafen lassen? Sie zudecken? Hilflos sehe ich mich im Raum um, als würde die Antwort irgendwo an der Wand geschrieben stehen. Ich weiß einfach nicht wie ich mit Grace umgehen soll. Sie ist nicht meine Mutter, und dass scheint ihr klar zu sein, weswegen ich sie mag. Aber andererseits weiß ich nicht was ich von ihrem Männergeschmack halten soll - der meiner Meinung nach nicht gerade der Beste ist!

Ein paar Sekunden lang sehe ich Grace an. Mir ist klar, dass sie eine von den Guten ist. Eine gute Frau, eine noch bessere Mutter. Vielleicht sollte ich sie wecken und ihr vorschlagen, dass sie hoch ins Bett geht, welches bestimmt um Welten bequemer ist, als diese harte Designercouch. 

Ich lege eine Hand auf ihre Schulter und sofort öffnet sie die Augen. Sie setzt sich langsam auf und blinzelt mich an. "Jocelyn, da bist du ja. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.", sagt sie ein wenig undeutlich vom Schlaf. Ich runzle die Stirn und streiche mir eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. "Hast du etwa auf mich gewartet?" 

Grace ist nun wieder hellwach und schaut überrascht zu mir auf. "Natürlich habe ich das. Ich wollte nur sicher gehen, dass du sicher nach Hause kommst und dabei bin ich wohl eingeschlafen." Verlegen lächelt sie mich an. "Aber jetzt kann ich ja beruhigt schlafen gehen. Schlaf gut und träum was Schönes." Grace legt kurz ihre Hand auf meinen Oberarm und geht dann an mir vorbei in den Flur. 

Ich kann ihre müden Schritte hören, als sie die Treppe nach oben geht, doch ich kann mich keinen Millimeter rühren. Sie hat auf mich gewartet. Wollte sicher gehen, dass ich sicher nach Hause komme. Ich schließe die Augen und genieße das Gefühl, dass mich durchströmt. Grace hat sich Sorgen um mich gemacht. Sie hat wie eine Mutter auf mich aufgepasst. Ich lächle. Wärme scheint meine Brust zu füllen und mein Herz zu umhüllen. Es ist so lange her seit ich das Gefühl hatte ein anwesendes und sich interessierendes Elternteil zu haben. 

Erst nachdem ich ein paar Minuten reglos dagestanden und alles verdaut habe, folge ich Grace nach oben und schleiche auf Zehenspitzen in mein Zimmer. Ich werfe meine Tasche auf mein Bett und sehe mich einen Moment um ohne mein Zimmer richtig wahrzunehmen. 

Ich kann nicht schlafen und ich kann solange Grace noch nicht tief und fest schläft nicht Sport machen. Mein Blick klärt sich erst, als meine Augen an meinen weinroten Kopfhörern hängen bleiben. Ich taste nach meinem Hany in meiner Pullovertasche und verbinde die beiden Elektrogeräte ohne mir vollständige Gedanken darüber zu machen. 

Noch ehe es mir bewusst ist, habe ich die Kopfhörer über meine Ohren geschoben und auf meinem Handy die Musikapp geöffnet und auf Play gedrückt. Ich habe viele Lieblingslieder. Ich kann mich einfach nie entscheiden welches ich am allerliebsten höre. Aber das Lied, das mir jetzt in den Ohren klingt, ist eines meiner ältesten. Es ist schon seit Jahren in meiner Playlist und wird auch so schnell nicht daraus verschwinden. Up von Demi Lovato und Olly Murs.

Ich fange an mich im Takt der Musik zu bewegen und schließe ganz automatisch die Augen. Ich tanze, wie ich es mich sonst nur in der Wohnung von Janine und Oliver traue. Ich lasse mich fallen und blende alles andere als die Stimmen der beiden Sänger und die Instumente im Hintergrund aus. 

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