Kapitel 22

Jocelyn

Suchend wühle ich mich durch die vielen Fächer in meinem Kleiderschrank. Wo ist mein Eyeliner, wenn ich ihn brauche? Ich suche schon seit fünf Minuten. Erst war ich hier, dann im Badezimmer und schließlich bin ich wieder hier gelandet, weil ich ihn eher in einem der Schubläden meines Schrankes vermute. 

Diese Art von Make-Up trage ich nämlich nur, wenn ich mit meiner schwarzen Perücke unterwegs bin. Normal trage ich helles und offen wirkendes Make-Up und keines, welches mich geheimnisvoll und gefährlich aussehen lässt. 

"Hah", triumphierend hebe ich den kleinen Stift in die Luft als wäre er der heilige Gral, nachdem ich ihn aus einem meiner hohen High Heels gezogen habe. Wie auch immer er dorthin gekommen ist. Stirnrunzelnd betrachte ich die schwarzen, an den Fersen mit Nieten verzierten Schuhe. Dazu würde mein neues schwarzes Kleid hervorragend passen. Das heißt, wenn ich heute Abend tatsächlich noch in den Club in den Slums fahre. 

Nach einer Nachricht von Gabriel auf mein Handy, dass dort heute alle möglichen Leute aus der Rennszene zu finden sein werden, kam mir der Gedanke, dass ein kleiner, nicht unbedingt lang dauernder Besuch im Club nicht gerade dumm wäre, doch ich hadere noch mit mir selbst, ob ich heute nicht lieber meinen Abend mit Dean verbringen möchte.  

Doch die Leute aus den Slums mögen es, wenn sie das Gefühl haben jemanden einschätzen zu können, wenn sie denken, sie wissen alles über einen. Ich sollte nie allzu lange von der Bildfläche verschwinden. Aber vor allem juckt es mich in den Fingern alte Bekannte wieder zu sehen. Es gibt eine Menge Leute, die heute Abend im Club sein werden - und die ich eigentlich ganz gut leiden kann. Viele von ihnen sind fast schon so etwas wie Freunde für mich. 

Ich nehme einen Bügel mit einem kurzen, schwarzen Kleid mit hochgeschlossenem Ausschnitt und ohne viel Schnickschnack in die Hand und betrachte es. Es würde perfekt zu den Schuhen passen. Dann noch eine schwarze Strumpfhose, meine geliebte Lederjacke und meine Perücke, und die Party kann beginnen. 

Obwohl es auch seine Reize hat Zuhause zu bleiben. Dean hat heute nichts vor außer ein Footballspiel anzusehen, auf das er schon seit Tagen hinfiebert. Die Vorstellung es mir neben ihm auf der Couch gemütlich zu machen und womöglich sogar in seinen Armen zu liegen gefällt mir, sehr sogar. Aber sie macht mich auch nervös. So nervös, dass mich der Wunsch meine alten Bekannten wieder zu sehen schließlich doch überzeugt heute auszugehen. 

Die laute Musik wird für eine Weile meine Gedanken zum Schweigen bringen und der Respekt in den Augen der Leute wird mein Selbstbewusstsein wieder ein wenig aufpushen. Ich will nicht, dass sie Angst vor mir haben, nein. Aber Respekt, Respekt ist klasse in so vielen Hinsichten. 

Ich verstaue mein Kleid, die Schuhe und meinen kleinen Lynn-Make-Up-Beutel in einer kleineren Sporttasche und greife nach meiner Lederjacke, in der für den äußersten Notfall ein Taschenmesser in einer kleinen Tasche in der Innenseite versteckt ist. Dann stecke ich noch ein paar Dollarschiene aus meinem Nachtschrank ein und mache mich auf den Weg zu meinem Wagen. 

Als ich an Deans Zimmertür vorbeischleiche ist kein Mucks zu hören, dafür ist seine Stimme zu hören, als ich an Jens Zimmer vorbeigehe. Es hört sich an, als würde er ihr eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen oder aus einem Buch vorlesen. Wie süß. Und praktisch. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass ich meinen Ausflug Dean gegenüber nicht rechtfertigen kann, aber auf der anderen Seite muss ich ihm ja nicht jeden meiner Schritte erklären, oder? 

Wir haben uns geküsst, ja, und zwischen uns passiert gerade eine Menge, was mich irgendwie furchtbar glücklich macht, aber auch furchtbar verwirrt, ja, aber das heißt doch nicht, dass das Leben, das ich bisher geführt habe, einfach so aufgeben muss, nicht wahr? Ich bin immer noch ich, immer noch das Mädchen, dass sich verkleiden muss um sie selbst sein zu können.

Schon auf der Treppe höre ich, wie sich Grace auf der Couch bewegt. Sie sieht gerade die Wetteraussichten für morgen an. Und zwar alleine, denn Jack musste nach dem Abendessen wegen einem Notfall zurück in die Firma fahren. Leider kann ich ihr nicht aus dem Weg gehen, sie bemerkt mich noch in dem Moment, in dem ich die letzte Treppenstufe erreiche. 

"Jocelyn, wo willst du denn noch hin?" Ich atme tief durch und vergrabe die freie Hand in der Tasche meiner Lederjacke. Außer der trage ich einen gemütlichen Pullover und meine geliebte Leggins. Nicht unbedingt ein Ausgeh-Outfit, aber genau das ist der Sinn dahinter. Meine Haare habe ich zu einem Zopf geflochten, damit ich sie später leichter unter der Perücke verstauen kann.

"Oh, ich wollte noch bei Ava vorbeischauen. Aber keine Sorge", füge ich im Hinausgehen lächelnd hinzu. "Ich werde daran denken, dass morgen Schule ist und rechtzeitig zurück sein. Schlaf gut." Ich winke noch, dann verschwinde ich die Treppe zur Tiefgarage hinunter. 

"Du auch", ertönt noch aus dem Wohnzimmer, mehr sagt Grace nicht. Aber was soll sie auch sagen? Soll sie mir verbieten das Haus zu verlassen? Mich wie eine strenge Mutter behandeln? Wahrscheinlich ist sie ganz froh, dass ich ihr keine Zeit zum Protestieren gegeben habe. Ich wäre es jedenfalls.

Ich fahre mit meinem Lamborghini Aventador so schnell wie es das Tempolimit erlaubt zum Parkplatz meines Chevrolet Camaro und wechsle die Autos. Bevor ich allerdings weiter zu dem Club fahre, ziehe ich mich auf die von blickdichten Scheiben umgebene Rückbank zurück und ziehe mich um. Dann schminke ich mich noch im Rückspiegel und setze die Perücke mit den langen, schwarzen Haaren auf. 

Ich fühle mich wie ein anderer Mensch, als ich schließlich um kurz vor zehn Uhr den heruntergekommenen, aber überfüllten Club betrete. Über dem Kleid trage ich meine Lederjacke mit tief ins Gesicht gezogener grauer Kapuze, sodass nur ein paar falsche, schwarze Strähnen zu sehen sind. 

Ich muss nicht einmal die Hände aus meinen Jackentaschen nehmen, die Leute machen mir ganz von alleine Platz, als ich mir meinen Weg am Rand der Tanzfläche bahne. Gabriel ist nirgends zu sehen, dafür sehe ich aber seinen älteren Bruder nur ein paar Schritte von mir entfernt.

Ezra ist hochgewachsen und ohne Frage einer von den härteren Typen hier. Muskulös, furchteinflößend, dunkle Augen und eine Ausstrahlung, die ihn bei den wenigsten auf den ersten Blick sympathisch wirken lässt. 

Auch seine vielen Tattoos wirken eher abschreckend als einladend. Die Arme sind voll damit und auch am Hals prangt ein unübersehbares Kreuz mit einem Datum darin. Er hat sich außerdem die Haare abrasiert und trägt stattdessen ein großes, detailliertes Skorpion-Tattoo zur Schau. Im flackernden Licht sieht er für mich einen Moment lang so aus, als würde sich der Skorpion bewegen. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf und ich blinzle hastig um das Bild loszuwerden.

Ezra bemerkt mich erst, als ich neben ihm zum Stehen komme. Er grinst trotz meiner High Heels auf mich herunter und ich kann den abgebrochenen Schneidezahn sehen, der sozusagen sein Erkennungszeichen ist. "Lynn, Babe. Ne Ehre dich zu sehn', Süße." Ich zeige ihm den Mittelfinger, während ich mit der anderen Hand meine Lederjacke zurechtrücke. "Steck dir deine Anmachen sonst wohin, Ez." Sein Grinsen blitzt wieder auf und er tritt vor, um bei mir einzuschlagen. 

"Ich war Fünf Monate im Bau, Kätzchen, lass mir doch meinen Spaß und fahr deine Krallen wieder ein!" Er beugt sich weiter vor, und ich lasse ihn gewähren, weil ich weiß, dass er gleich wieder einen seiner Sprüche rauslassen wird. So ist er einfach. Er sieht furchteinflößend aus und wenn ich mich mit ihm angelegt hätte, würde ich nicht alleine durch dunkle Gassen gehen, aber wenn er einen mag, dann ist er ein großer, Sprüche reißender Teddybär.  

"Du siehst echt verdammt heiß aus in diesem Kleid, wenn du also Lust hast von einen seit Monaten leidenden Mann flachgelegt zu werden, dann reicht ein Wort, Süße. Ich habe so einiges an Energie angespart und wenn du willst, dann gehört sie ganz dir...", flüstert er mit dunkler Stimme in mein Ohr. Er zieht sich aber rasch wieder zurück und versucht erfolglos aus meiner Reichweite zu gelangen. 

Ich verpasse ihm einen nicht ganz so sanften Schlag gegen den Oberarm, der ihn sogar dazu bringt die Lippen zu verziehen. "Selbst schuld, wenn du dich von den Bullen mit einem Wagen voll Koks erwischen lässt, Mann, such dir ne andere, die dich glücklich macht." Ezra verdreht die Augen und zieht trotz Rauchverbot eine Zigarette aus der Tasche. 

"Warte" Ich hebe die Hand und schnappe mir das Feuerzeug aus seinen Fingern. Er blitzt mich wütend an, aber bevor er mich anfahren kann, schiebe ich das Feuerzeug in seine Jackentasche zurück und tippe dem Mädchen neben uns auf die Schulter. 

Das brünette, relativ nett aussehende Mädchen blickt mich fragend an und ich beuge mich vor um ihr über die laute Musik hinweg ins Ohr zu schreien. "Hast du mal 'n Feuerzeug? Mein Kumpel braucht eins." Der Blick des Mädchens gleitet zu Ezra und verändert sich, als sie sieht, wie er sie charmant angrinst. Das Mädchen nickt und tritt vor Ezra, ihre drei Freundinnen, die weitertanzen als wäre nichts gewesen, zurücklassend. 

Ezra zwinkert mir über die Schulter der Brünetten hinweg zu, als ich meinen Weg durch die Menge fortsetze. Scheint so, als wäre er glücklich über meine Verkupplungskünste. 

Es dauert nicht lange, bis ich Gabriel entdecke. Allerdings ist der gerade mit dem Mädchen auf seinem Schoß beschäftigt. Die Augen verdrehend wende ich mich von den beiden ab - und stoße prompt mit einem Mädchen zusammen, das sich die lockigen Haare in den wildesten Farben gefärbt hat. 

"Lynn", murmelt sie überrascht, ehe sich ein Grinsen auf ihren Lippen ausbreitet. "Auch mal wieder in der Gegend, was?" Ich zucke mit den Schultern. "Du kennst mich doch, ich bin mal hier, mal da, wo es mich eben hin verschlägt." 

Savanna grinst, nimmt die vier Biere in ihren Händen in eine Hand und begrüßt mich dann mit einer festen Umarmung. "Bin erleichtert dich zu sehen, Lynn, hab mir schon Sorgen gemacht." Ich zucke nochmals mit den Schultern. "Ich war in letzter Zeit kaum in der Stadt. Aber jetzt sag, wo sind denn alle? Duncan, Scott, Duke, Jassy..." Sav nickt in eine der hintersten Ecken hinüber, wo ich über die vielen Köpfe hinweg ein paar bekannte Gesichter ausmache. 

"Heute wolln sich alle nur besaufen. Sie haben mich geschickt um Nachschub zu holen." Sie hebt die Flaschen hoch, die sie jetzt wieder in beiden Händen hält, dann schiebt sie sich an mir vorbei und bedeutet mir ihr zu folgen. Die Musik, die mir bis eben noch unangenehm in den Ohren gehämmert hat, wird ein kleines Stück leiser, als ich in der vollen Nische ankomme und mich nachdem ich bei allen eingeschlagen habe auf das durchgesessene Leder fallen lasse.

Es ist schon nach Mitternacht, als ich mir mal wieder einen meiner speziellen Wodka an der Bar hole. Der Barkeeper weiß inzwischen, dass ich nur Wasser will und schenkt sofort ein, als er mich an der voll besetzten Theke entdeckt. Ich schiebe ihm ein wenig Trinkgeld zu und trete wieder von der Bar weg, wo die Leute förmlich aufeinander sitzen, so voll ist der Club. 

Ich begegne ein paar bekannten Gesichtern, einige davon kenne ich von Straßenrennen oder von Kämpfen, aber mit keinen von ihnen unterhalte ich mich lange. Ich gehe lieber zurück zu Sav, ihrem Freund Duncan, Scott, Duke, Jassy und auch Gabriel, die inzwischen einiges intus haben und größtenteils so undeutlich sprechen, dass man sie kaum versteht. Aber das kann natürlich auch an der Musik liegen. 

Kurz vor ihrem Tisch macht ein Typ Anstalt mir auf den Hintern zu schlagen, doch ich fange seine Hand ungerührt ab und benutze seinen Schwung um ihm selbst einen Klaps auf die Wange zu verpassen. Der zweifellos angetrunkene Typ blickt mich völlig verdutzt an, kann aber nicht schnell genug reagieren um mich aufzuhalten. Als er laut "Hey" brüllt, bin ich schon weitergegangen. 

Die Aktion war anscheinend in Blickweite der Nische, denn sie kugeln sich alle vor Lachen, als ich bei ihnen ankomme. Sav schlägt Duncan, auf dessen Schoß sie es sich gemütlich gemacht hat, gegen die Brust während sie unaufhaltsam kichert und mehrere Anläufe braucht um zu sagen:"Habt ihr seine verdutzte Fresse gesehen? Ich kann nich mehr, der sah so bescheuert aus!" Duncan grinst belustigt und murmelt in Dukes Richtung:"Kein Alk mehr für meine Kleine, wie's aussieht." 

Duke nickt und zieht mich neben sich auf die Ledercouch. "Coole Aktion, Lynnie. Vielleicht sollte ich auch anfangen richtig zu boxen, solche Reflexe sind echt cool!", er klingt wie immer, nur das leichte Nuscheln, als würde ihm die Zunge am Gaumen kleben, verrät, wie viel er schon getrunken hat. 

Auch Scott, der einen Arm um Jassy gelegt hat, prostet mir recht wackelig zu. Ich stoße mit meinem angeblichen Wodka mit seiner Bierflasche an und stürze dann das Wasser meine Kehle hinunter als wäre es scharfer Alkohol.

Gabriel, der jetzt neben mir sitzt, legt seinen Arm auf der Couchlehne hinter mir ab und rutscht ein wenig zu mir. Ich müsste schon vollkommen bescheuert sein, um seine Annäherungsversuche, die er schon den ganzen Abend unternimmt, nicht zu bemerken. Ich winkle meinen Ellbogen an und nehme sanft seine Hand in meine. Ein paar Sekunden lang streiche ich mit meinem Daumen über seine Hand, was Gab dazu veranlasst noch näher zu mir zu rutschen. Und dann drücke ich immer fester zu. 

Mit einem Lächeln drehe ich mich zu ihm um. Gabriel hat die Augen zusammengekniffen und ganz schmale Lippen, wodurch der Schmerz, den er fühlen muss, ein wenig verdeckt wird. Ich drücke ein letztes Bisschen heftiger zu und Gab entweicht ein Zischen. 

"Schon gut", meint er leise, damit ihn seine Kumpels nicht hören. "Ich weiß, dass du glücklicher Single bist und dich niemals auf einen One-Night-Stand mit einem Freund einlässt.", zitiert er mich und zufrieden lasse ich seine Hand los, die er sofort mehrmals zur Faust ballt und dann wieder locker lässt. 

Ich kann die Spuren meiner Fingernägel auf seiner Haut sehen. Mit einem unterdrücktem Grinsen blicke ich Gab von der Seite an, als er wieder von mir weg rutscht. Hoffentlich hat er es jetzt kapiert. 

Ich lehne mich entspannt zurück und beobachte die tanzende Menge. Nicht wenige Paare scheinen sich im flackernden Licht gegenseitig aufessen zu wollen und unwillkürlich wünsche ich mir, dass Dean jetzt hier neben mir sitzt und nicht Gab. Dass er den Arm um mich legt, mich einen Moment lang anlächelt und mich dann auf seine sanfte aber bestimmte Art und Weise küsst und noch näher zu sich zieht. 

Bei der Vorstellung breitet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus und mir wird überall ganz warm. Allein der Gedanke an Dean reicht, um mich völlig aus der Bahn zu schmeißen. Oh man, ich bin sowas von erledigt! 

Ich zwinge mich ruhig zu atmen und stehe auf. Ich schwanke etwas auf meinen hohen Schuhen und auch meine Stimme klingt komisch, als ich verkünde, dass ich jetzt los muss, weil ich morgen noch was vor habe. Die Schule fängt ja schließlich schon um acht Uhr an. 

Ich wimmle die Proteste von Duke, Gabriel und Savanna ab und verabschiede mich bei den Jungs mit einem Handschlag und bei Say und Jassy mit einer Umarmung. "Macht's gut, Leute" Ich winke noch einmal kurz und gehe dann zielstrebig durch den Ausgang, wo zwei Türstehern mit finsteren Mienen alles im Auge behalten, was auf der Straße vor dem Club so passiert. Bei einem der beiden ganz in schwarz gekleideten Männern, Luis, schlage ich ebenfalls ein und verabschiede mich mit einem "Bis zum nächsten Mal.". 

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