Kapitel 21

Jocelyn

Nach meiner kleinen, gerade noch vereitelten Panikattacke bin ich so schnell wie möglich wieder auf den Fahrersitz geklettert. Dean bleibt auf der Rückbank, aber ich merke, dass er mir immer wieder Blicke zuwirft, in denen sowohl Besorgnis, als auch das Vorhaben steht, nicht nachzufragen. Er weiß, dass ich ihm nichts sagen würde.

"Habt ihr..." Ich schlucke um den Kloß in meinem Hals loszuwerden und probiere es noch einmal ein Gespräch anzufangen:"Habt ihr vorhin Weihnachtsgeschenke besorgt?" Im Rückspiegel sehe ich, wie er einen Seitenblick auf die Einkaufstüten wirft, die zu seinen Füßen stehen. "Jaa, aber ich werde dir sicherlich nicht sagen, was ich für dich, Jen, Jack und meine Mum gekauft habe." Eine Last fällt von meinen Schultern als Dean bei meinem Small-Talk Versuch mitmacht. "Gut, ich werde dir auch nichts verraten." 

"Schenkst du deinem Vater etwas?", ertönt es nach ein paar Sekunden vom hinteren Teil des Wagens. Eine rote Ampel kommt in Sicht und ich trete vielleicht ein wenig zu unsauber auf die Bremse. Deans Augen sehen mich durch den Rückspiegel interessiert an, aber erst, nachdem es ihn ruckartig in den Gurt geschleudert hat und er sich durch die Haare fahrend wieder aufrecht hingesetzt hat. Doch ich weiche seinem Blick aus. "Wir haben die letzten zehn Jahre kein Weihnachten gefeiert, wieso sollte ich ihm dann heuer etwas schenken?" 

Ich konzentriere mich voll und ganz auf die Straße vor mir, die uns immer weiter in Richtung Villenviertel führt. "Wieso habt ihr es nicht gefeiert?", fragt Dean eine Gegenfrage. Ich seufze leise, weil ich gehofft habe, dass er diese Frage nicht stellt. "Er war immer im Ausland und wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass er auch heuer nicht hier sein wird." Dean beugt sich vor, sodass er zwischen den beiden vorderen Sitzen hindurchschauen kann. Ich spüre seinem Blick im Nacken und seinen Arm auf der Lehne meines Sitzes, aber ich wende den Blick nicht von der Straße ab. 

"Und wieso sollte er genau an Weihnachten zu einem Auslandsauftrag müssen?" Und wieder eine Frage, die ich nicht beantworten will. Was ist, wenn ich mich irre? "Weil es das Lieblingsfest meiner Mutter war. Sie hat Weihnachten geliebt und Jack und ich haben es seit ihrem Tod nicht mehr gefeiert. Er war in England oder in der Schweiz oder auch mal in Neuseeland, aber Zuhause war er seitdem nie.", meine Stimme ist leise und ein kleiner Teil in mir hofft, dass Dean die Worte nicht verstanden hat. Er sollte sich ein eigenes Bild von diesem Mann machen, den er anscheinend so gern hat. Andererseits sollt ich ihn darauf vorbereiten, dass Jack die Menschen um sich herum nur enttäuscht. Sie gar nicht stolz oder fröhlich oder glücklich machen will.

"Verstehe", murmelt Dean. Aber das tut er nicht. Er versteht überhaupt nichts. Er glaubt immer noch an das Gute in Jack. Doch das existiert nicht. Trotz meiner kreisenden Gedanken halte ich mich zurück und sage kein einziges Wort mehr bis ich meinen Wagen in der Tiefgarage geparkt habe.

Dean verschwindet mit seinen Einkaufen nach oben, als wir im Erdgeschoss seiner Mutter begegnen. Ich denke, dass er Angst davor hat, dass sie die Veränderung zwischen uns bemerkt. In ihrer Gegenwart ist er nämlich nur sehr selten im gleichen Raum wie ich. Ich dagegen stelle meine Tüten im Flur ab und schlendere in die Küche, wo Grace bereits alle Lebensmittel herausgelegt hat, die heute zum Abendessen auf den Tisch kommen.

"Heute gibt es Spagetti Carbonara mit Salat und warmen Schokopudding als Nachspeise. Schmeckt dir sowas oder soll ich noch eine andere Beilage zu den Nudeln suchen?" Grace ist hinter mich getreten und blickt mich ganz offensichtlich auf eine Antwort wartend an. Ich kann ihren Blick auf mir spüren. Unwillkürlich zupfe ich meinen grauen Schal, den ich schon den ganzen Tag tragen muss, damit niemand meinen Knutschfleck sieht, zurecht. 

Janine hatte ihn natürlich beim shoppen entdeckt und ich konnte einfach nicht anders, als ihr alles zu erzählen. Sie ist meine allerbeste Freundin und bei ihr sind mir die Worte nur so aus dem Mund gesprudelt, als wir eine kleine Pause in einer Smoothie-Bar gemacht haben. Ich fühle mich erleichtert und bin froh darum Janine jetzt endlich immer anrufen zu können wenn ich mal eine kleinere Kriese wegen Dean habe.

"Das klingt echt lecker. Soll ich dir bei irgendetwas helfen?" Ich drehe mich zu Grace um, die im Türrahmen zum Wohnzimmer lehnt. Jacks Freundin lächelt breit und will erst ablehnen, sie schüttelt schon den Kopf, aber dann fällt ihr Blick auf die Uhr, die hinter mir an der Wand hängt und Erstaunen tritt im ihr Gesicht. "Oh, also gerne. Wenn du den Salat machen könntest, wäre mir das eine große Hilfe."

Zusammen machen wir uns an die Arbeit. Zwischendurch schaut Jennifer bei uns vorbei, eine Barbie mit Flügeln in der Hand, aber die meiste Zeit sind wir zu zweit, denn Dean lässt sich nicht blicken. Doch es ist weit angenehmer, als ich es mir noch vor ein paar Wochen hätte vorstellen können. 

Wir reden über die Schule und Grace ist die erste seit Jahren, die sich danach erkundigt, ob ich mit meinen Noten zufrieden bin und ob ich gerne in den Unterricht gehe. Wie die meisten anderen Schüler antworte ich, dass ein paar weniger Stunden Schule wünschenswert wären, aber ich die Zeit bis zu meinem Abschluss schon noch durchstehe. Es ist seltsam über solche Themen zu reden, das habe ich außerhalb der Schule noch nie getan. Ich bin es nicht gewohnt offen über mich zu reden, mit jemanden, dem ich solche Sachen anvertrauen will und auch kann. 

Obwohl, es fällt mir schwer zu sprechen. Ich habe es einfach nie gelernt laut auszusprechen, was ich denke, was ich will. Es kostet mich einige Überwindung nicht einfach einsilbige Antworten zu geben und weiter zu reden.

Grace fragt mich auch danach, was ich nach der High School machen möchte, ob ich studieren oder arbeiten will. Und das ist etwas, dass ich noch nie in meinem ganzen Leben gefragt wurde. Klar, wie jedes Kind habe ich einmal davon gesprochen Ärztin, Polizistin oder Astronautin zu werden, aber noch nie wurde ich ernsthaft danach gefragt, was ich einmal werden will. 

Jack hat mir schon einen Collageplatz an der Oxford Universität in London besorgt - durch seine Kontakte und meine Noten war das überhaupt kein Problem - und erwartet jetzt natürlich, dass ich in einem Jahr am anderen Ende der Welt studiere. So weit von ihm weg, wie nur möglich. 

Doch ich bin mir noch nicht sicher, ob ich wirklich nach Großbritannien will. Ich liebe die USA. Und ich liebe meine Freunde. Wie könnte ich Janine und Oliver jemals alleine lassen? Lieber lebe ich ebenso wie sie in einem ganz normalen Viertel nur von meinem eigenen Einkommen, als wie wenn ich den Collageplatz annehme und mich von Jack herumschubsen lasse wie eine willenlose Marionette. 

Oder ich bewerbe mich hinter seinem Rücken an einer anderen Uni. Die Unterlagen dafür liegen bereits gestapelt und geordnet und sogar beinahe absendebereit in meinem Schreibtisch. Ich bezweifle sowieso, dass ihm auffällt, wenn ich statt in London in New York bin, oder wo auch immer man mich annimmt.

"Ich tendiere gerade zum studieren, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher welches Hauptfach. "Und schon wieder sage ich nicht ganz die Wahrheit. Wobei, die Idee, die in meinem Kopf herumspukt, ist nun wirklich noch nicht spruchreif. Ich traue mich ja noch nicht einmal mein Wunschfach zu denken. 

"Und was ist mit Sportwissenschaften oder so etwas in der Art? Du liebst es doch dich auf dem Laufband zu quälen. Ich bin sicher, dass du dir diese Richtung mal näher anschauen solltest." Sie hat recht. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich könnte Sport studieren. Den ganzen lieben langen Tag Sport machen und mich darüber mit anderen Sportliebhabern zu unterhalten und darüber zu lernen. Aber darüber muss ich später in ruhigerem Umfeld genauer nachdenken, vielleicht während ich boxe oder tanze oder durch Miami laufe. "Werde ich", meine ich überzeugt und beginne gleichzeitig damit den Salat zu waschen. 

Es wäre nett, wenn ich auch mal etwas zu unserem Gespräch beisteuere. "Gibt es eigentlich schon Pläne für Heiligabend?", frage ich daher in ganz normalen Ton. Doch ich habe einen Hintergedanken. Womöglich weiß Grace schon von Jacks Auslandsplänen von diesem Jahr. Doch anscheinend nicht, denn sie strahlt bis über beide Ohren und sagt fast schon singend:"Jack und ich wollen mit euch Kindern essen gehen und es uns dann Zuhause unter dem Weihnachtsbaum gemütlich machen. Dein Vater hat sich schon um den Baum gekümmert und möchte ihn am Abend zuvor mit uns gemeinsam schmücken. Und ich weiß schon genau welche Lieder wir beim Geschenke aufmachen hören werden. Ich werde mit dieser App, die Dean mit aufs Handy geladen hat eine Playlist zusammenstellen. Glaubst du, du könntest mir dabei helfen?" 

In mir keimen Emotionen auf, bei denen ich mir nicht ganz sicher bin, ob sie mir gefallen. Einerseits ist es niederschmetternd, dass es jemand, den Jack erst seit so kurzer Zeit kennt, es schafft, ihn zu einem Weihnachtsfest zu bringen, von dem er nicht Reißaus nimmt und es nicht seine eigene Tochter ist, der er es zuliebe durchsteht das Fest zu feiern, dass meine Mutter so sehr geliebt hat. 

Aber andererseits ist in mir der Hoffnungsschimmer, dass ich meinen Vater zurückbekommen könnte, dass er sich wieder gefasst hat, dass er wieder der Mann wird, der sich von einer Fünf-jährigen im Pool tauchen lässt und mit ihr ans Meer fährt um ihr das Surfen beizubringen. Vielleicht, flüstert eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf, können wir die Vergangenheit hinter uns lassen. Jack hätte zwar einiges wieder gut zu machen - sehr, sehr viel sogar - aber es gibt die klitzekleine Hoffnung, dass er das vielleicht doch will.

"Ich...äh... Klar, mach ich. Welche App ist das denn?" Während wir weiter in der Küche hantieren, zeigt Grace mir schnell die App, die sie gerade erwähnt hat. Es ist zufälligerweise genau die gleiche, die auch ich auf meinem Handy habe, und mit der ich mich bestens auskenne, weil darauf die Lieder sind, die ich höre, wenn ich alleine laufen gehe oder Sport mache.

Neben dem Kochen schaffen wir es auch noch die Weihnachtsplaylist fertigzustellen, da sich Jack um knapp 15 Minuten verspätet. Er entschuldigt sich gefühlte Tausend Mal, als er zur Haustür hereingehastet kommt und küsst Grace noch öfter als Wiedergutmachung. 

Ich verdrehe die Augen und wende mich ab, meinen Schal zurechtzupfend, der mir mit einem mal wieder schrecklich eng vorkommt. Als Dean mit Jen auf seinen Schultern die Treppe heruntergelaufen kommt und mit ihr im Einklang "Wir haben Hunger" ruft, wird mir auch noch warm und ich merke, wie meine Wangen sich rot verfärben. Hastig drehe ich mich um und verschwinde in der Küche um das Essen aufzutragen. Hauptsache eine kleine Pause.

Das Abendessen verläuft für unsere Verhältnisse ziemlich unspektakulär. Ich bemühe mich mit Jen und Grace zu sprechen und auch so viel mit Dean, wie nötig, damit es nicht auffällt, dass wir beide es meiden einander in die Augen zu sehen. Es macht die Sache nicht leichter, dass wir nebeneinander sitzen und mein Knie schon zweimal mit seinem unter der Tischdecke kollidiert ist. 

Als es zum dritten Mal passiert, spüre ich plötzlich Deans Hand auf meinem Oberschenkel, die sanft vom Knie aus nach oben streicht, ganz langsam. Ich konzentriere mich auf das Gespräch mit Grace, mit der ich seit vorhin gar nicht mehr aufgehört habe zu reden, doch in meinem Gehirn bildet sich ein Schleier, der alles Denken unmöglich macht und mich dazu zwingen will mich Deans Berührung hinzugeben und die Flammen, die auf meiner Haut unter meiner Jeans zu tanzen scheinen, zuzulassen.

Ich schaffe es ruhig zu bleiben, zumindest so lange, bis Deans Hand bei meiner Leiste ankommt und nun gemächlich zur Innenseite meines Oberschenkels wandert. Ich springe hastig auf, murmle eine hastige Entschuldigung und eile in das Gästebadezimmer gegenüber vom Wohnzimmer, einen verhalten grinsenden Dean zurücklassend. 

Schwer atmend stütze ich mich am Waschbecken ab und atme tief durch. Inzwischen steht mein ganzer Körper in Flammen, in meinem Unterleib zieht es verlangend und meine Hände zittern auffällig. Wie kann Dean mit einer einzigen Berührung so etwas mit mir anstellen? Ich hasse es. Ich blicke vom Waschbecken auf und betrachte mein Spiegelbild. 

Meine Wangen haben einen Hauch von Rot, mein Haar scheint blonder und strahlender und meine Augen funkeln hellblau. Mir kommt der Gedanke, dass mir dieser aufgewühlte, aber gespannte Look recht gut steht. Ich scheine zu strahlen, heller, als ich es mit jedem Knopfdrucklächeln der Welt könnte. 

Und das ist es, dass mich nach Luft schnappen lässt. Zum ersten Mal seit so langer Zeit - das letzte Mal war, soweit ich mich erinnern kann, als meine Mom und ich uns gegenseitig im großen Badezimmer von meinen Eltern auf dem Boden sitzend Zöpfe geflochten haben. Dabei sahen meine Haare aus, wie die eines Engels und ihre eher wie nach einem Wirbelsturm - empfinde ich mich selbst als hübsch, als schön.

Sprachlos starre ich mir selbst in die Augen, darauf wartend, dass dieses Funkeln, dieses helle Schimmern erlischt. Doch es bleibt. Es erlischt weder, noch entpuppt es sich als optische Einbildung wegen dem einen Tick zu grellen Licht an der Decke. Das Funkeln bleibt. Mehr noch, es lenkt meinen Blick auf die kleinen Fältchen um meine Augen, die mich wiederum zu dem echten, unübersehbaren Grübchenlächeln leiten, das sanft auf meinen Lippen liegt.

Es überrascht mich, dass in mir nicht das Bedürfnis aufkeimt mich wegzudrehen, stattdessen will ich mich immer weiter betrachten. Die letzten Jahre konnte ich mich kaum im Spiegel ansehen, konnte den Anblick nicht ertragen, aber jetzt, in diesem Moment, kann ich den Blick nicht von mir losreißen.

Ich finde mich schön. Ich finde mich schön. Ich finde mich schön. Ich kann gar nicht oft genug die Wörter in meinem Kopf wiederholen. Das ist es, was Dean aus mir macht. Er lässt mich mich selbst schön finden. Und er lässt mich so viele Dinge fühlen, die ich zuvor nicht kannte und nicht einmal dachte, dass ich sie fühlen könnte.

Allmählich wird mir bewusst, dass im Esszimmer Menschen sind, die sich wundern werden, wo ich so lange bleibe. Mein Lächeln wird breiter, als mir der Gedanke kommt, dass ich meinen kurzen Abstecher ins Badezimmer Dean heimzahlen könnte. Wie du mir, so ich dir, würde ich mal sagen. Ich betätige die Klospühlung und wasche mir als Alibi unter laut rauschendem Wasser die Hände, bevor ich mich wieder auf zum Esstisch mache. 

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