Kapitel 15

Bild: Jocelyns Abendkleid


Jocelyn

Zwölf Stunden später stehen Dean und ich nebeneinander vor dem breiten Spiegel im Badezimmer und machen uns fertig. Es herrscht eine seltsame Stimmung. Eine Mischung aus peinlichem Schweigen und provozierender Ignoranz. Dean würdigt mich keines Blickes, während er sich im Smoking und passender Fliege die Haare frisiert. Zugegeben, er sieht heiß aus. Ich bemühe mich, ihn nicht allzu offensichtlich anzustarren und konzentriere mich stattdessen darauf, meine Narbe am Oberarm fertig zu überdecken. Ich habe bereits mein langes kristallblaues Abendkleid an, welches an der Taille mit zahlreichen silbernen Diamanten bestückt ist und das nur an meiner linken Schulter einen Träger hat, und mein Gesicht ist fertig geschminkt. Meine Füße stecken bereits in halsbrecherischen dunkelblauen High Heels aus Wildleder, die ich auf meiner letzten Shopping-Tour mit Ava gefunden habe.

Ich tupfe gerade zum krönenden Abschluss noch etwas Puder auf meinen Oberarm, als ich Deans Blick auf mir spüre. Das ist das erste Mal, dass er mich seit heute Morgen direkt ansieht, und ich merke, wie ich Gänsehaut bekomme, als er mich so intensiv mustert. "Wieso überschminkst du das?" Er deutet auf meinen Arm. Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. Man merkt, dass er ein absoluter Frischling ist. 

"Die Leute, die du heute kennenlernen wirst, mögen Menschen wie Lynn nicht." Ich mache bei meinem Spitznamen mit den Händen Anführungszeichen in die Luft. "Sie unterhalten sich lieber mit der perfekten, narbenlosen Jocelyn Ashton." Dean kommt einen Schritt auf mich zu. "Aber du bist nicht narbenlos. Wieso spielst du allen vor, dass du es bist?" "Ich bin auch nicht perfekt, Dean, aber die Leute, die ich kenne, wollen, dass ich es bin. Also tue ich ihnen den Gefallen und spiele mit." Ich gehe zur Badezimmertür, aber bevor ich ihn stehen lasse, sage ich noch:"Nur so hast du ein einigermaßen ruhiges Leben mit den Profitjägern und den Botox-Vorzeigeehefrauen.



Inzwischen hat Dean glaube ich verstanden, was ich über Profitjäger und deren Frauen gesagt habe. Als wir in Jack's Stretchlimousine die lange Auffahrt an dem riesigen Springbrunnen in der Mitte und den perfekt geschnittenen Buchsen an den Seiten vorbei, hochgefahren sind, sah er ja noch einigermaßen gefasst aus - wenn auch etwas nervös. Aber jetzt, wo er seit einer halben Stunde in einem Raum voller superwichtigen und milliardenschweren Geschäftsmännern und deren Frauen und Kindern steht, die sich hier wie zu Hause zu fühlen scheinen, wirkt er nicht mehr nervös, sondern vollkommen vor den Kopf gestoßen. 

Wahrscheinlich hat er gedacht, dass man sich hier mit ihm unterhalten würde und sich ihm vorstellt, um ihm als neues Familienmitglied der Ashtons in ihren Kreisen aufzunehmen, aber stattdessen werden ihm - und auch mir, weil ich neben ihm stehe - nur komische Blicke zugeworfen. Das hier ist ein Haifischbecken und kein nettes Familienessen.Weil ich keine Lust habe mich mit alten Bekannten zu unterhalten, die ich schon kenne, seit ich laufen kann, bin ich keine Sekunde von Deans Seite gewichen. Und ich glaube, dass ihm das ganz Recht ist.

Grace, welche mit Jen neben Jack steht, der sich gerade mit einem Geschäftspartner unterhält, sieht sich noch immer bemüht freundlich um. Anscheinend will sie sich noch nicht eingestehen, dass das hier kein Platz ist, an dem sie sein möchte.

Ich nehme einen großen Schluck von meinem Orangensaft, nachdem ich Dean zugeflüstert habe, dass er endlich von seinem Champagner trinken soll, weil dass das einzige ist, dass bei solchen Galas hilft. Oder Koks oder Speed, das geht auch, aber das habe ich ihm natürlich nicht geraten. Ich habe mich heute nicht getraut etwas einzuwerfen, weil heute alle Augen auf die Neuen gerichtet sind und damit auch ich im Rampenlicht stehe. "Soll ich dich ein paar Leuten vorstellen? Ich wüsste da ein paar mit Ferienhäusern in den Hamptons und Segeljachten, die so groß sind wie Häuser - also nur wenn du willst." 

Dean schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Sag nicht, dass ihr kein Ferienhaus in den Hamptons habt? Also ich hätte das schon erwartet! Ich werde Mam wohl dazu überreden müssen, dass sie Jack abserviert, wenn ihr nicht einmal das habt!" Ich grinse ihn an. "Wir haben eines in Los Angeles, auf den Bermuda-Inseln, in Südfrankreich, auf den Bahamas und in der Toskana. Die Hamptons waren Jack zu gewöhnlich." Dean lacht leise. "Das hätte ich mir denken können. Dann muss ich Mam wohl eher dazu überreden für immer hierzubleiben!"

Ich antworte nicht auf Dean Herumalberei, weil ich eine junge Frau in der Menge ausgemacht habe, die sich an den Gästen und Stehtischen vorbei ihren Weg zu uns bahnt. Lindsay Whitfield, Janines ältere Schwester. Sie hat dasselbe dunkelrote Haar, aber ihre Augen sind braun anstatt grün, wie Janines. Automatisch drücke ich den Rücken durch und umklammere mein Glas fester. 

"Jocelyn, wie schön dich zu sehen." Lindsay gibt mir zur Begrüßung erst ein Küsschen auf die rechte, dann auf die linke Wange. Ich versuche nicht allzu verspannt zu sein und lächle mein bestes falsches Lächeln. "Finde ich ebenfalls, Lindsay. Es ist viel zu lange her." Ich wende mich zu Dean. "Darf ich dir Dean Sanchez vorstellen? Er wird bald mein Stiefbruder sein." Deans Adamsapfel tritt deutlich hervor, als er bei dem Wort Stiefbruder schluckt, aber er hat sich gleich wieder im Griff. Charmant lächelt er Lindsay an und reicht ihr seine Hand. "Dean, das ist Lindsay Whitfield, die Tochter der Gastgeber und eine alte Freundin von mir." Wenn ich ehrlich bin, würde ich sie lieber als hinterlistige Schlange vorstellen, aber das gehört sich ja leider nicht.

Die beiden führen ein bisschen Smalltalk, als endlich Mr und Mrs Whitfield auf die kleine Bühne treten und um Ruhe bitten. Sofort verstummen die Gespräche und der ganze Ballsaal hört gespannt ihrer Begrüßungsrede zu. Alle außer ich. Ich halte eher Ausschau nach dem nächsten Kellner, der mit einem Tablett voller Häppchen durch die Menge eilt, während ich so tue, als würde ich ebenfalls lauschen. Ohne etwas zu essen, überlebe ich das heute nicht. 

Nachdem die Gastgeber noch um Spenden für einen gemeinnützigen Zweck gebeten haben, spielt wieder das kleine Orchester auf der Bühne und die Gespräche kommen wieder in Fahrt. Ich kann hören wie Leute über Aktien, die neusten Zinssätze und ihre jüngsten Erfolge in ihren Unternehmen sprechen. Dabei werden kräftig Hände geschüttelt, neue Bekanntschaften gemacht, mit denen man noch mehr Geld machen kann und der Alkohol kommt auch nicht zu kurz. Ich bin kurz davor den Mund zu verziehen, als ich sehe wie Jack mit Mr Denning, einem Geschäftspartner, mit einem Glas Scotch anstößt, doch ich kann mich gerade noch zusammenreisen und das Lächeln auf meinen Lippen behalten.

Hastig wende ich mich wieder an Lindsay, damit ich nicht dazu komme über Jack und Alkohol nachzudenken. "Wie ist dein Studium in Oxford, Lindsay? Man hört nur Gerüchte über deine hervorragenden Leistungen." Begeistert darüber, dass sie darum gebeten wurde damit zu prahlen, wie toll sie ist, beginnt sie zu erzählen. Von Professoren, interessanten Seminaren und ihren hervorragenden Noten. Ich tue so, als würde ich das alles wirklich hören wollen und auch Dean wirft ein paar Fragen ein, obwohl ich ihm ansehe, dass es ihm wie mir geht. Zum Glück stößt schon bald darauf Elaine zu uns und unterbricht Lindsay in ihrem Redefluss. Ich stelle Dean Elaine vor, welche vor einem Jahr ihren Abschluss an unserer Schule gemacht hat und einmal eine gute Freundin von Janine und mir war. Und wieder Smalltalk. Ich frage was sie jetzt macht und wie es ihr geht und Elaine beantwortet alles mit einem breiten Lächeln.

Doch die Gespräche bleiben unpersönlich und mit einer gewissen Distanz - zumindest solange, bis Elaine, welche schon immer neugierig und süchtig nach Klatsch und Tratsch ist, fragt, ob jemand etwas von Janine gehört hat. Man kann schließlich nicht einfach so verschwinden, irgendwann muss man ja wieder aus der Versenkung auftauchen, laut Elaine. Lindsay presst missbilligend die Lippen zusammen und macht keine Anstalt etwas zu sagen und ich tue es ihr gleich. 

Was soll ich schon sagen? Ich habe heute Nachmittag noch mit ihr telefoniert, wo sie mich ausgelacht hat, weil ich hier auf dieser verdammten Gala auf euch treffen werde? Ich sage einfach gar nichts, weil das völlig normal ist, wenn das Thema auf meine beste Freundin kommt. Sie wird totgeschwiegen, weil es in der High Society nichts Schlimmeres gibt, als sich von der eigenen Familie loszusagen und sie damit bloßzustellen.

Da keiner mehr etwas sagt, fühlt sich Dean wohl dazu aufgefordert zu sprechen. Ich würde ihm am liebsten einen Schlag gegen den Oberarm verpassen, als er fragt:"Wer ist Janine?" Beinahe sofort beginnt Elaine mit gesengter Stimme zu erzählen:"Janine Whitfield ist Lindsays jüngere Schwester. Sie ist vor etwas mehr als einem Jahr von Zuhause abgehauen." Elaine spricht noch leiser weiter:"Und das mit einem tätowierten Typ aus den Slums! Das musst du dir mal vorstellen. Ein Mädchen von hier und so ein dreckiger Mechaniker oder so. Das war ein riesiger Skandal, das kann ich dir sagen!"

Meine Finger zittern vor unterdrückter Wut. Sie hat doch keine Ahnung von Oliver. Er ist der beste Mann, den man sich wünschen kann. Hundert, nein tausendmal besser, als irgendein anderer Mann in diesem Raum - mindestens. So viel ist sicher.

Mein Handy vibriert in meiner dunkelblauen mit Diamanten besetzten Clutch und dankbar für die Ablenkung nehme ich es heraus.

Wenn du fliehen willst, ich fahr den Fluchtwagen...

Hinter Janines Nachricht steht noch ein Smiley, der eine leuchtende Polizeisirene darstellt. Wie immerhat sie das perfekte Timing, denn im Moment würde ich nichts lieber tun, als auf         meinen High-Heels schreiend aus dem Saal zu laufen.

Ich komme nicht dazu ihr zu antworten, denn plötzlich steht Jack neben mir, das Telefon in meiner Hand missbilligend ansehend. "Du solltest dich mit Clyde unterhalten. Er blickt schon die gange Zeit zu dir herüber." Ich werfe Jack einen wütenden Blick zu, den er aber gar nicht bemerkt, weil er Clyde genau in Augenschein nimmt, welcher ebennnnnn in diesem Moment aufsieht und uns zulächelt, dabei hebt er sein Champagnerglas zum Gruß. Jack legt mir seine Hand auf den Rücken, um mich in Clydes Richtung zu schubsen, aber er zieht sie sofort wieder zurück, als er spürt wie ich zusammenzucke. Mit einem letzten abschätzigen Blick auf Jack, gehe ich zu Clyde Tunney. Er entschuldigt sich bei seinem Gesprächspartner, einem kahlköpfigen Mann in den 60'ern und kommt mir entgegen. Gespielt fröhlich drücke ich ihm ein Küsschen links und eines rechts auf die Wangen und begrüße ihn dann überschwänglich.

"Wie geht es dir, Clyde? Es ist viel zu lange her.", und damit sage ich genau das Gleiche wie vorher zu Lindsay. Und die Gleichgültigkeit ist auch dieselbe, doch ich überspiele sie mit einem Lächeln und einem scheinbar neugierigem Augenaufschlag. "Oh, es geht mir ganz fabelhaft, wirklich. Das College ist wunderbar. Es gibt dort sogar eine Bibliothek, in der..." Und so fängt es an. Während Clyde erst damit anfängt, von sich und seinem perfektem Leben zu erzählen, tue ich brav so, als würde es mich interessieren. Einmal kichere ich sogar entzückt auf, nur um mich selbst dafür innerlich zu verfluchen. Hoffentlich kam das jetzt nicht zu übertrieben rüber. Aber Clyde scheint von meiner Schauspielerei nichts mitzubekommen.

Ich lasse meine Augen über seinen perfekt sitzenden Anzug gleiten und nehme auch seine mit zu viel Gel nach hinten frisierten braunen Haare in Augenschein. Und wieder einmal kommt mir in den Sinn, dass ich diesen Kerl überhaupt nicht leiden kann - auch wenn Jack davon überzeugt ist, dass wir für einander geschaffen sind. Vor allem das Vermögen von Clydes Eltern hat ihn überzeugt. Er wollte mich sogar einmal davon überzeugen, dass eine Verlobung mit Clyde eine vorteilhafte Verbindung wäre. Aber als ob ich mich so einem Snob heiraten würde! Er ist definitiv nicht mein Typ.

"Guten Abend, Jocelyn. Clyde." Jayden und Lars treten zu uns, wobei sie Clyde nur abschätzig zunicken und mich angrinsen. Ich würde den beiden gerne für ihre Rettung um den Hals fallen, doch ich beherrsche mich und begrüße meine Freunde stattdessen mit Küsschen auf die Wangen.

"Es tut mir leid, Clyde, aber wir müssen uns Jocelyn kurz ausleihen, ja?" Jayden gibt Clyde keine Zeit um zu protestieren, er und auch Lars haken sich bei mir unter und ziehen mich mit sich mit an das andere Ende des Raumes. Ich schaffe es Dank meiner vielen Übung auf den High Heels Schritt zu halten. "Danke Leute, ihr habt mich gerettet.", meine ich, mein Kleid zurechtzupfend. Die beiden lachen. "Haben gesehen, wie er dich mit seinem Gerede gequält hat. Wieso standest du eigentlich bei ihm?", fragt mich Lars mit gerunzelter Stirn. "Mein Dad denkt, dass er der perfekte Mann für mich wäre. Ihr kennt ihn doch." Schulterzuckend sehe ich mich um, aber alle scheinen in ihre Gespräche vertieft zu sein. 

Alle außer ... Dean. Der kommt geradewegs auf uns zu. "Hey" Er schlägt bei den Jungs ein und grinst mir kurz zu. "Ich wusste gar nicht, dass ihr auch hier seid." Lars grinst mich an. "Seine erste Gala, was?" Ich nicke. Dean sieht verwirrt in die Runde. "Merkt man das so sehr?" Jayden und Lars nicken augenblicklich übertrieben heftig. "Du schlägst dich ganz gut, Dean. Aber wir haben auf solchen Galas laufen gelernt, dagegen kannst du gar nicht ankommen.", meine ich leise, während ich mich ungeduldig umsehe. Es müsste bald zum Essen gerufen werden. Und tatsächlich. Nur wenige Augenblicke später bittet Mr Whitfield alle zu Tisch.

Ich suche nach meinem Tischkärtchen, das neben denen mir völlig fremder Personen steht. Die Whitfieds organisieren das Dinner immer so, dass man während man isst auch noch neue Kontakte knüpft. Niemand sitzt neben jemanden, den er gut kennt - mit Ausnahme vielleicht von Jen und Grace, die als Debütantinnen nebeneinander sitzen dürfen. Doch bei der nächsten Party wird Jen sich alleine durchschlagen müssen. 

Der Mann rechts von mir, Harry Larson, stellt sich als netter, junger Bankier heraus. Er ist nicht über 23 Jahre alt und ziemlich gutaussehend mit seinem dunkelblonden Haaren und den hellgrünen Augen. Er ist auch einigermaßen witzig, was mir die kurze Wartezeit bis zum ersten Gang wenigstens etwas versüßt. Die Frau zu meiner Linken ist leider eine komplette Nullnummer. Sie hat sich nicht mit ihrem Namen zuerst, sondern erst als Ehefrau von irgendeinem Immobilienmogul vorgestellt. Sie wäre hübsch, wenn sie sich nicht die Lippen hätte aufspritzen lassen. Und damit ist sie von mir im ersten Moment in die Schublade Botox-Vorzeigeehefrau gesteckt. Da unterhalte ich mich lieber mit dem Harry.

Anstatt sich an mich ranzumachen, zeigt er mir mit leuchtenden Augen seine Frau ein paar Plätze entfernt und verrät mir sogar, dass sie in einigen Monaten ein Kind erwarten, als uns gerade von ein paar Kellnern die Suppe serviert wird. Es ist nur eine Mini-Portion, die mich leise Seufzen lässt. Trotz der vielen Häppchen habe ich nämlich extrem Hunger. Solche Veranstaltungen lassen mich zu einem Scheunendrescher werden. Harry lacht mich verhalten aus und sagt leise:"Keine Sorge, der zweite Gang kommt bald." 

"Ja", meine ich flüsternd. "Aber der ist auch nicht viel größer. Ich werde mir heute auf dem Heimweg wohl noch einen Burger holen." Dieser Einfall lässt meine Laune augenblicklich besser werden und ich schnappe mir den glänzenden Löffel und beginne zu essen. Harry blickt derweil lächelnd zu seiner Frau und flüstert:"Ich werde heute auch noch einmal losmüssen, um einen zu besorgen. Obwohl es noch einige Monate bis zur Geburt sind, hat sie mehr Hunger als ich - und das bedeutet was." Bei Harrys verliebten Blick zu der brünetten Schönheit ein paar Meter entfernt, muss ich automatisch lächeln. Dieser Typ erinnert mich irgendwie an Oliver.


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