Kapitel 14

Jocelyn

Mit geschlossenen Augen tanze ich mir in der Mitte der Tanzfläche die Seele aus dem Leib. Ich will nicht denken, nicht fühlen, mich nicht fragen, wie das alles passieren konnte. Wie ich Dean so nah an mich ranlassen konnte. Wie ich ihn küssen konnte. Stopp, ermahne ich mich selbst. Nicht denken, nur tanzen

Janine, Oliver und Alex bewegen sich wenige Meter von mir entfernt im Takt der Musik. J und Olli eng beisammen und Alex mit einem Mädchen, das er eben erst kennen gelernt hat - wenn man antanzen als solches benennen kann. Doch sie alle tanzen noch lange nicht so verzweifelt und heftig wie ich. Keiner von ihnen will die letzten Stunden so sehr vergessen, und sie gleichzeitig in Gedanken immer wieder durchleben. Mir kommt sein Blick in den Sinn, kurz bevor wir uns geküsst haben. Seine grünen Augen haben eine solche Sicherheit gezeigt. Ich hatte für ein paar winzige Augenblicke wirklich geglaubt, dass nichts an mir diesen Jungen vor mir verscheuchen kann. Keine illegalen Autorennen, keine Albträume, keine Narben. Doch es ist Dean, über den ich das denke. Es ist mein Fast-Stiefbruder Dean. Ich habe meinen zweiten Kuss von einem Jungen bekommen, der - wie ich mir jetzt sicher bin - unerreichbar für mich ist. Ein absolutes Tabu. Ein No-Go. Außerhalb meiner Reichweite. 

Dass versuche ich mir zumindest einzureden. Solange ich keine Hoffnungen habe, kann ich auch nicht enttäuscht werden. Das ist eine Tatsache. Keine Erwartungen bedeutet keine Tränen. Eigentlich ganz simpel. 

Ein männlicher Körper drückt sich von hinten an mich, aber ich bin heute Nacht nicht aus meinem Zimmer geschlichen und habe meinen Freunden eine Alarm-Nachricht geschickt, damit ich mich an einen anderen Kerl ranmachen kann. Ich will tanzen. Tanzen und vergessen. Und so lasse ich den Kerl abblitzen und bewege mich wieder alleine im Takt der Musik. Mir ist egal ob ich Blicke von Umstehenden zugeworfen bekomme, ich weiß, dass ich tanzen kann, und das sogar sehr gut. So sehr ich meinen Körper auch hasse, mit all seinen Macken, so sehr liebe ich es, wenn ich mich zu Musik bewege und mein Umfeld verblasst. Plötzlich scheint alles nicht mehr verwirrend und kompliziert zu sein, sondern ganz ... klar. So glasklar. Ich werde mich von Dean fernhalten. Total einfach. Wenn ich ihm nicht mehr nahe komme, werde ich dieses neue Gefühl in meinem Bauch auch ganz schnell wieder los. Glaube ich...

Mit klopfendem Herzen ziehe ich an dem dünnen Faden, der von meinem kleinen Balkon herunterhängt und am anderen Ende mit einem dicken Seil verknotet ist. Das Seil hat in regelmäßigen Abständen feste Knoten, sodass ich ohne Probleme in mein Zimmer gelangen kann - und das ohne die Haustüre zu benutzen. Ganz schön cool, oder? 

Sobald ich oben bin, ziehe ich das Seil hoch und löse es vom Balkongeländer. Wie alles, was ich verstecken will, hat es seinen Platz in meinem Kleiderschrank. Gleich neben den Perücken und der Schminke, die die brave Jocelyn Ashton niemals benutzen würde. Ich ziehe mich noch kurz im Bad um und putze mir die Zähne, dann lasse ich mich müde ins Bett fallen. Duschen kann ich morgen früh auch noch. Ich habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr versucht ohne Schlaftabletten zu schlafen, und jetzt, so müde wie ich bin und wegen der späten Uhrzeit, scheint mir ein guter Zeitpunkt, um es noch einmal zu versuchen. Ich komme gar nicht dazu weiter darüber nachzudenken, ob das jetzt wirklich eine gute Idee ist, denn da fallen mir schon die Augen zu.


Dean

Als der erste Schrei ertönt, sitze ich aufrecht in meinem Bett. Beim zweiten habe ich bereits die Zimmertür geöffnet und stehe im Flur. Links von mir höre ich Schritte, was mich innehalten lässt. Jack. Es wirkt nicht so, als kann er mich in der Dunkelheit sehen. Er steht nur da, am Ende des Flurs, im Licht des hereinfallenden Mondes. Für einen Moment zögere ich, frage mich, wieso Jack wie zu einer Salzsäule erstarrt dasteht und Löcher in die Luft starrt, während seine Tochter schreit, als wäre etwas furchtbar Schreckliches geschehen. Doch dann ertönt ein weiterer Schrei aus Jocelyns Zimmer und ich strecke alle Gedanken in die hinterste Ecke meines Bewusstseins. Ich öffne ihre Tür und erkenne Jocelyn sofort. Sie wälzt sich in ihrem Bett, schlägt mit den Fäusten um sich und schluchzt immer und immer wieder auf. Ein paar Mal kann ich ein ersticktes "Nein!" und "Ich will hier raus!" hören. 

Ich versuche Jocelyn möglichst sanft aus ihrem Albtraum herauszuholen, indem ich sie leicht an der Schulter packe und immer wieder ihren Namen sage. Es dauert ziemlich lange, bis sie sich mit weit aufgerissenen Augen aufrichtet. Ich werfe einen flüchtigen Blick über meine Schulter, aber Jack ist verschwunden. Und so ziehe ich Jocelyn an mich und halte sie ganz fest an mich gepresst. Es dauert etwas bis ich bemerke, dass sie auch im wachen Zustand noch weint. Sie versucht es zwar zu verbergen, aber ihre Schultern zucken leicht und mein T-Shirt ist feucht von ihren Tränen. Ich halte sie nur noch fester. Die Arme um sie geschlungen lehne ich mich an das Kopfende ihres Bettes und versuche es Jocelyn so bequem wie möglich zu machen, in dem ich sie auf meinen Schoß hebe. Ich streiche ihr solange übers Haar und murmle beruhigende Worte, bis sie langsam aufhört zu zittern und sie nur noch still in meinen Armen liegt. Sie hat die Augen geschlossen und ihr Atem geht regelmäßig und tief. Man könnte meinen, dass sie wieder eingeschlafen ist, aber ich weiß es besser. Ich kann nicht sagen, wieso ich es weiß, es ist mehr ein Gefühl oder eine Vermutung. 

"Soll ich gehen, Sunshine?" Sie reagiert erst einmal nicht, doch dann nickt sie fast unmerklich. Allerdings löst sie ihre Arme, die sie um meine Hüfte geschlungen hat, nicht ein winziges Stückchen. "Dann solltest du mich loslassen, Sunshine." Trotz der unwitzigen Situation muss ich grinsen, als ich bemerke, wie ungern Jocelyn sich von mir entfernt. Doch sie tut es, sie rutscht von meinem Schoß und legt sich wieder unter ihre Decke, die Augen weit geöffnet. Ich stehe von der Matratze auf und bleibe neben der Tür stehen. "Du wirst nicht wieder schlafen, oder?", frage ich sie leise, obwohl ich die Antwort schon kenne. Jocelyn zuckt mit den Schultern - also ist ihre Antwort Nein

Für einen Moment überlege ich, wie es wäre, wenn ich jetzt zurück in mein Zimmer gehen würde und mich wieder hinlegen würde. Es wäre eine dumme Idee, weil ich sowieso die ganze restliche Nacht wach liegen würde und über das nachdenken würde, was gerade geschehen ist. Also schließe ich die Zimmertür von innen, anstatt von außen und gehe zu Jocelyn zurück. Jetzt, wo kein Licht mehr vom Flur hereinfällt, ist es noch finsterer, aber ich kann trotzdem sehen, dass Jocelyn den Kopf in meine Richtung gedreht hat. "Was tust du, Dean?" Ich antworte nicht, sondern lege mich einfach neben sie unter die Bettdecke. Ich spüre wie sie zusammenzuckt, als ich einen Arm um sie lege, um sie dann so mit dem Rücken an meine Brust zu ziehen. Meine Hand liegt auf ihrem flachen Bauch, doch jetzt wo ich es weiß, spüre ich leichte Erhebungen, dort wo die Narben sind. Soviel ich spüren kann, sind sie beinahe überall.

"Sanchez! Was verdammt nochmal tust du da?" Sie windet sich leicht in meinen Armen und ich lache leise. "Sanchez? Sind wir jetzt wieder bei meinem Nachnamen angekommen?" Ich vergrabe das Gesicht in ihrem Haar, ehe ich flüsternd fortfahre:"Entspann ich, Sunshine. Entspann dich einfach. Ich bin da. Keine Angst." Ich höre wie sie tief Luft holt, wahrscheinlich um mich total zur Schnecke zu machen, doch ich lasse sie gar nicht erst zu Wort kommen. Wenn sie wollte, dass ich gehe, hätte sie sich längst und ohne große Mühe aus meinen Armen befreien können. Sie will anscheinend nicht, dass ich gehe - auch wenn sie das niemals sagen würde. "Ich werde nicht gehen, Jocelyn! Ich werde hier liegen bleiben und auf dich aufpassen, während du versuchen wirst noch einmal einzuschlafen, ist das ein Deal?" Sie zögert, dass merke ich ganz genau. Und dann, als Antwort, legt sie ihre Hand auf die meine und schiebt ihre Finger zwischen meine. 


Nebeneinander zu schlafen ist manchmal ganz schön kompliziert. Ich wache mehrmals auf, entweder weil mein Arm, der unter Jocelyns Kopf liegt, eingeschlafen ist, weil mir zu warm ist, oder weil mir zu kalt ist, weil ich mich vorher abgedeckt habe. Aber als Jocelyns Handywecker klingelt, und das erste was ich sehe ihr Gesicht ist, welches direkt vor meinem ist, nur Zentimeter entfernt, denke ich, dass es das alles mehr als wert war. Ich streiche ihr sanft eine der langen Haarsträhnen über die Schulter, als sie gerade die Augen öffnet. Im ersten Moment lächelt sie, doch nach ein paar Sekunden, in denen sie richtig aufgewacht ist und noch einmal über das alles hier nachgedacht hat, verschwindet das Lächeln ganz schnell wieder von ihren Lippen und das Funkeln in ihren Augen erlischt. Sie dreht den Kopf von mir weg und vergräbt das Gesicht in einem ihrer vielen Kissen. "Tu das nicht, Sunshine! Versteck dich nicht vor mir!" Ich rücke noch ein Stück näher zu ihr, sodass meine Stirn an ihrer Schläfe lehnt, doch sie bewegt so ruckartig von mir weg, als hätte ich ihr einen elektrischen Schlag verpasst. Sie sieht mich an, die Augen so ausdruckslos und verschlossen, dass ich zurückweiche. Ihre Mauern sind wieder da, noch höher und standhafter wie eh und je. 

"Geh Dean. Du hättest gar nicht hierbleiben sollen, gar nicht hereinkommen sollen. Das war alles ein riesiger Fehler und ich bereue jede einzelne Sekunde. Dass ich dich angerufen habe. statt jemand anderen. Den Kuss. Diese Nacht. Alles. Ich bereue es, Dean."Ihre Worte sind wie Messer, die sich in meine Brust bohren. Doch ein kleiner Hoffnungsschimmer, der der Kälte in ihren Augen entgegenwirkt, ist mir geblieben. "Sagst du das, weil du es ernst meinst, oder weil du Angst hast? Sei ehrlich, Sunshine. Sag es mir." Für einen Moment schließt sie die Augen, dann sieht sie mich starr an. "Es ist die Wahrheit, Dean. Ich bereue alles." Ich suche in ihren Augen nach etwas, dass ihrer Worte Lüge straft, doch als ich nichts finde, straffe ich die Schultern und hebe das Kinn. "In Ordnung. Wie du willst." Ich kann Jocelyn nicht länger ansehen, kann ihr nicht mehr so nahe sein. Ohne einen Blick zurück verlasse ich ihr Zimmer.


Jocelyn

Ich starre jetzt schon seit einer halben Ewigkeit auf das dunkle Holz meiner Zimmertür, dabei sollte ich mich eigentlich anziehen und schminken und in die Küche gehen um zu frühstücken. Doch ich kann mich nicht bewegen, kann keinen Finger rühren und schon gar nicht aufstehen. Denn das einzige, was ich tief in meinem Herzen bereue ist, dass ich ihn weggeschickt habe. 

Erst als ich im Flur Grace' Stimme höre, die Jen zur Eile antreibt, wache ich aus meiner Erstarrung auf. Wie in Trance ziehe ich mir in meinem Kleiderschrank ein weißes T-Shirt mit einer kleinen, dekorativen Brusttasche und eine helle Jeans an. Meine Haare binde ich zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Bevor ich schließlich viel zu spät mein Zimmer verlasse, greife ich noch nach meiner Schultasche und meinen Kopfhörern, ohne die ich niemals das Haus verlasse. Nach einem Zwischenstopp in dem - zum Glück - leeren Badezimmer, gehe ich hinunter in die Küche. 

Dean lehnt, eine Tasse Kaffee in der Hand, an der Küchentheke und würdigt mich keines Blickes. Sein Kiefer ist angespannt und seine freie Hand zur Faust geballt, als würde er am liebsten gegen die Wand zu seiner Rechten schlagen. Ich schenke mir auch eine Tasse ein und setze mich dann für ein paar Sekunden an den Küchentisch neben Jen. Für Frühstück habe ich heute keine Zeit mehr. 

Jack sieht von seiner Zeitung auf, als ich gerade meinen ersten Schluck getrunken habe, und meint:"Heute Abend ist die Benefizgala der Whitfields. Ich dachte, dass das eine gute Gelegenheit ist, um euch meinen Freunden vorzustellen. Was sagt ihr?" Ich kann mir nur schwer ein Schnauben verkneifen. Jack hat keine Freunde, er hat nur Bekannte. Zugegeben, ziemlich nützliche Bekannte. Erst letztens, als er mit seinem Porsche zu schnell gefahren ist, konnte er seinen Bekannten, den Polizeichef, dazu bringen den Strafzettel verschwinden zu lassen - natürlich im Tausch gegen ein teures Wellness-Wochenende für ihn und seine Frau. 

Doch Grace scheint Jacks Vorschlag ziemlich toll zu finden. Kein Wunder, sie war noch nie auf einer Gala der Whitfields. Wahrscheinlich war sie noch nie auf irgendeiner Gala. Während Grace laut überlegt was sie anziehen könnte, versuche ich mich unauffällig aus der Affäre zu ziehen. Vielleicht muss ich dann heute Abend nicht mit. Doch Jacks Stimme ertönt, sowie ich den Türbogen zum Wohnzimmer erreicht habe:"Du wirst auch mitgehen, Jocelyn. Das ist mir wichtig." Nein, das ist es nicht. Ihm ist nur wichtig was die Leute denken, wenn ich nicht mitkomme.

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